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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1331–1333

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brodbeck, Doris [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dem Schweigen entronnen. Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Würzburg-Markt Zell: Religion & Kultur Verlag 2006. 328 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 3-933891-17-5.

Rezensent:

Martin H. Jung

In 18 Beiträgen werden von 16 Autorinnen insgesamt 19 Frauen des 16. bis 19. Jh.s in rückläufiger chronologischer Reihenfolge vorgestellt, die in der Schweiz lebten oder Verbindung zu der Schweiz hatten. Präsentiert werden jeweils kürzere Originaltexte überwiegend zu religiösen, aber auch zu politisch-gesellschaftlichen Themen. Außerdem bietet jeder Einzelbeitrag eine kurze Einleitung, die der Vorstellung der jeweiligen Frau und der Information über die Umstände ihres Wirkens dient, sowie ein Verzeichnis der für die jeweilige Gestalt relevanten Quellen und der Sekundärliteratur. Jeder Beitrag ist mit einer ganzseitigen Abbildung ausgestattet, die häufig die Frau selbst zeigt, manchmal jedoch, wenn kein Porträt existiert, auf andere zeitgenössische Motive ausweicht.
Der Titel des Buches enthält eine Anspielung auf 1Kor 14,34. Die Herausgeberin (geb. 1965), eine promovierte evangelische Theologin, will zeigen, dass es in der Christentumsgeschichte Frauen gab, denen es gelang, dem Schweigegebot des Apostels »zu entrinnen und sich Gehör zu verschaffen« (11). Das Spektrum der Gestalten und der Texte ist weit gefasst. Aufgenommen wurden Diakonissen, Ordensfrauen, Predigerinnen, Schriftstellerinnen und »Frauenrechtskämpferinnen« (11), und bei den Texten handelt es sich um Briefe, Gedichte, theologische Traktate, autobiographische Äußerungen, geschichtliche Beschreibungen und politische Stellungnahmen. Die Frauen im Einzelnen sind: Helene von Mülinen, Emilie de Morsier, Catherine Booth-Clibborn, Johanna Spyri-Heußer, Elise von Liebenau, Josephine Schwytzer, Trinette Bindschedler, Bernarda Heimgartner, Sophie von Wurstemberger, Juliane von Krüdener, Maria Wiborada Zislin, Meta Heußer-Schweizer, Anna Schlatter-Bernet, Katharina Schmid, Ursula Meyer, Marie Huber, Hortensia von Salis, Jeanne de Jussie, Marie Dentière.
Die meisten dieser Frauen sind selbst Fachleuten und an Frauengeschichte Interessierten bislang unbekannt, und sie werden selbst von den neueren theologischen Lexika nicht oder kaum be­rücksichtigt. In der 3. Auflage des LThK findet sich keine einzige dieser Frauen mit einem eigenständigen Artikel, und die 4. Auflage der RGG hat lediglich zwei aufgenommen: Meyer und von Krüdener. Dieser Sachverhalt zeigt das hauptsächliche Verdienst des Buches auf: Es bietet Texte und Informationen, an die kaum heranzukommen war.
Problematisch und sachlich nicht begründet ist die Eingrenzung auf die Schweiz, denn die Schweiz war kein abgegrenzter Raum und hatte keine eigenständige Kirchen- oder Frauengeschichte. Die rein pragmatisch begründete geographische Begrenzung schadet der intendierten Förderung der Frauenforschung, weil das Buch dadurch im deutschen Sprachraum weniger rezipiert wird. Freilich verschweigt der Titel die vorgenommene Eingrenzung, so dass viele in der Erwartung zu dem Buch greifen dürften, in ihm etwas zu Frauen z. B. des Herrnhuter Pietismus’ oder zur Wittenberger Reformation zu finden. Zugute halten muss man der Herausgeberin, dass dieser Akzent auf die Schweiz eine gerechtfertigte Gegenmaßnahme ist gegen die Unsitte vieler deutscher Autoren, die kirchliche Geschichte der Schweiz in Überblickswerken und Sammelbänden auszublenden. Man könnte die These aufstellen: Wenn dieses Buch in Deutschland entstanden wäre, dann wäre wahrscheinlich keine einzige dieser interessanten Schweizer Frauen berücksichtigt worden. Nicht nur als Frauen, sondern auch als Schweizerinnen sind die 19 Gestalten also »dem Schweigen entronnen«. Frauen aus der Schweiz, Autorinnen aus der Schweiz, nur gedruckt wurde das Buch – nicht ganz konsequent – in Deutschland. Behandelt werden katholische und evangelische, auch freikirchliche Frauen. Jüdinnen konnten jedoch nicht einbezogen werden, weil sich keine Texte finden ließen. Neben gedruckten Quellen wurden auch handschriftliche herangezogen.
Neben das Schweizer Profil des Buches tritt ein dezidiert femi­nis­tisches, partiell sogar kämpferisches, das sich in vielen Formulierungen zeigt: Im Vorwort wird die Gegenwart als die »Zeit des ausgehenden Patriarchats« (6) bezeichnet, in einer Zwischenüberschrift wird vom »Schatten der Reformation« (278) gesprochen und die in ihrem eigentlichen Gehalt überwiegend harmlosen Texte wer­den summarisch »Widerstandstexte« (11) genannt. Nicht konsequent ist das Buch allerdings auch in diesem Bereich, weil manche Autorinnen der Unsitte folgen, erwachsene Frauen mit ihrem Vornamen zu benennen, sie sozusagen Kind bleiben lassen. Niemand, der über den Zwingli Zürichs redet, würde in einer ge­schichtlichen Darstellung vom »Huldrych« sprechen, aber Schlatter-Bernet ist eben auch als Erwachsene noch die »Anna« (186), Heußer-Schweizer bleibt immer die »Meta« (167) und von Krüdener ist »Juliane« (141). Dem geschichtlichen Gehalt der Ausführungen wird dadurch je­doch kein Abbruch getan, und auch der feministische Unterton beeinträchtigt in keiner Weise die Qualität des Werkes.
Die Beiträge des Buches lassen sich hier nicht im Einzelnen besprechen. Exemplarisch sollen die ganz unbekannte Katharina Schmid (1759–1831) und das mit ihr zusammenhängende, wenig bekannte Phänomen der Lavater-Rezeption im Katholizismus be­handelt werden.
Unter dem Zitat-Titel »Ihr Gott ist mein Gott!« (204) stellt die Historikerin Marlis Betschart (geb. 1964), Universitätsarchivarin in St. Gallen, die Frau aus Luzern vor. Schmid war 1778 in das Ursulinenkloster in Luzern eingetreten und wirkte als Lehrerin in der Töchterschule der Ursulinen. 1798 wurde das Kloster unter dem Einfluss der Französischen Revolution aufgelöst, und Schmid kehrte in ihr Elternhaus zurück, gab auch ihre Lehrerinnenstelle auf und ließ sich schließlich in den Laienstand versetzen. Sie war aber, dem Pfarrer ihres Wohnortes unterstellt, weiterhin verpflichtet, ihre Klostergelübde zu halten. Von Schmid gibt es elf Briefe an den Zürcher Prediger Johann Caspar Lavater, entstanden in den Jahren 1792–1800. Die Antwortbriefe Lavaters haben sich leider nicht erhalten. Schmids Briefe berichten von familiären und gesellschaftlich-politischen Umständen und geben Einblicke in ihr religiöses Gemütsleben. 1792 hatte Lavater die Ursuline in Luzern besucht, der Kontakt muss aber schon früher bestanden haben. In ihrem Schulunterricht setzte Schmid Texte Lavaters ein. So ließ sie zum Beispiel Lavaters erfolgreiche »Regeln für Kinder« auswendig lernen. Lavater schickte ihr auch Predigten, die sie ihren Schülern vorlas. Sie sieht sich selbst als »Freundinn« (211) des Theologen und bezeichnet ihn als »Freund« (215). 1799 stattete Schmid selbst Lavater in Knonau einen Besuch ab. Der Briefwechsel – Betschart ediert alle elf Briefe vollständig – gibt Einblicke in ein interessantes, Konfessions- und Geschlechtergrenzen überwindendes geistiges Milieu der Sattelzeit.
Nur ein kleiner Teil der Texte thematisiert explizit Frauenthemen, zum Beispiel Marie Dentière, eine in Genf lebende, 1524 evangelisch gewordene ehemalige Augustinerinnen-Priorin, in ihrer 1539 an Margarethe von Navarra gerichteten »Défense pour les Femmes« (316 f., zweisprachig abgedruckt). Die ehemalige Nonne und kämpferische Protestantin ist von der moralischen und intellektuellen Gleichrangigkeit der Geschlechter überzeugt und ruft die Frauen dazu auf, das Evangelium eigenständig zu lesen und zu interpretieren.
Der Sammelband soll, kann und wird Aufmerksamkeit erregen und dadurch sicherlich wichtige Anstöße geben für Vorträge, Seminararbeiten und Promotionen zu Frauenthemen. Die einzelnen Beiträge werden einzelne Leser auf die Idee bringen, den einen oder anderen Sachverhalt weiterzubearbeiten. Wissenschaftlich solide, ist das Buch zugleich für ein breites Publikum geeignet.
Zu verweisen ist noch auf eine von der Herausgeberin betreute Webseite zum Thema (www.theologinnnen.ch/geschichte.htm), die eine Zusammenstellung von Literatur und Verweise auf relevante Archive bietet, allerdings wieder beschränkt auf den Schweizer Raum.
Das Buch ist – abgesehen vom Verzicht auf Akzente in griechischen Textstellen (27) und kleinere Fehler (1717 statt 1817, 151) – sorgfältig und ansprechend gestaltet. Bibelstellennachweise (321–323) ermöglichen es, Aussagen z. B. zu 1Kor 14 nachzuspüren.