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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1330 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Beutel, Albrecht

Titel/Untertitel:

Aufklärung in Deutschland.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. VIII, S. O 145 – O 408. gr.8° = Die Kirche in ihrer Geschichte, 4. Lfg. O2. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-52365-0.

Rezensent:

Martin Ohst

In einem Handbuch wie diesem steckt viel entsagungsvolle, ermüdende Arbeit: Die Stoff- und Literaturmassen, die gesichtet und bewältigt werden müssen, sind immens. Seine eigenen Interessen muss der Autor den Orientierungsbedürfnissen der Leser nachordnen. Diese Sachzwänge erzeugen Missmut und Verdruss, und bisweilen geben die Autoren von Handbuchbeiträgen diese Empfindungen ungefiltert an ihre Leser weiter. In Albrecht Beutels Gesamtdarstellung der deutschen Theologie- und Kirchengeschichte in der Aufklärungszeit verhält es sich anders. Sie erfüllt zwar einerseits aufs Beste alle Anforderungen der Stoff- und Literaturpräsentation, die man an ein solches Werk stellen kann. Aber sie tut es anderseits von der ersten bis zur letzten Seite mit einer geradezu beschwingten Leichtigkeit, welche die fortlaufende Lektüre zum Genuss macht.
Die Darstellung ist als Triptychon gestaltet. Der Mittelteil führt unter dem Gesamttitel »Erscheinungsformen« die theologie- und kirchengeschichtlichen Implikate des im Titel genannten Gegenstandsbereiches vor. Unterteilt ist dieser Teil der Darstellung zu­nächst in Anlehnung an das herkömmliche Schema von Übergangstheologie, Neologie und Rationalismus – B. behält es mit dem wiederholten Hinweis auf seine bekannten Schwächen mit guten Gründen bei. Das Kapitel zur Übergangstheologie ist allerdings in ein Kapitel mit dem Titel »Frühformen« eingebettet, und hier findet sich auch ein Abschnitt zum Pietismus, den B. hier »als eine religiöse Spielart der Frühaufklärung« (229) klassifiziert. Den Schwerpunkt bildet der Mittelteil dieses Mittelteils, welcher der Neologie gewidmet ist; neben dem kirchlichen Praktiker und höchst niveauvollen Popularschriftsteller J. J. Spalding wird hier J. S. Semler im Kontext anderer vergleichbarer Autoren gewürdigt. B. weist darauf hin, dass die Vorrangstellung, die Semler immer wieder eingeräumt wird, auch darauf gründet, dass allein ihm bislang intensivere Erforschung zuteil geworden ist. Der weiteren For­schung stellt er die Aufgabe, Semler als »einen Sänger in dem vielstimmigen, harmonischen Chor der Neologen sachgemäß kenntlich zu machen« (268).
Im Rationalismus-Kapitel unterscheidet B. zwischen einer vor- und einer nachkantischen Periode; warum er den älteren Henke der ersteren zuordnet, ist mir nicht klar geworden. Überhaupt scheint mir dieses Vorgehen dem Ge­wicht der Kantschen Religionsschrift noch nicht gänzlich gerecht zu werden: Gerade mit diesem Parergon beginnt doch ein ganz eigenständiger Zweig der Kant-Rezeption, in dem nicht die spekulativ-konstruktive Weiterführung der Vernunftkritik im Zentrum des Interesses steht, sondern die Funktionalisierung des gegebenen geschichtlichen Chris­ tentums als eines Introduktionsmittels für die reine Vernunftre­ligion – ablesen lässt sich das exemplarisch an der Dogmatik Wegscheiders, die, unbekümmert um den kantischen Kritizismus, in der Gotteslehre mit einer popularphilosophischen Metaphysik weiterwirtschaftet. Es folgen noch zwei weitere Abschnitte. Unter dem Leitbegriff »Individuationen« werden Zeitgenossen der Aufklärung gewürdigt, die sich den Hauptströmungen nicht zuordnen lassen; als »Metamorphosen« kommen Ansätze in den Blick, welche, auf den Fundamenten der Aufklärung errichtet, doch neue Horizonte eröffnen.
Dass die Neologie auf diese Weise im Zentrum des Buches steht, beruht auch auf sachlichen Erwägungen. B. attestiert ihr das Hauptverdienst daran, »[d]aß die protestantische Theologie in Deutschland vor der fatalen Alternative bewahrt worden ist, sich entweder zu Religionsphilosophie aufzulösen oder in anachronistischen Orthodoxien zu verkrusten« (378); überhaupt stellte die Aufklärungstheologie »der neuprotestantischen Bewußtseinsfindung die unverzichtbare, über ihre Zeit hinausweisende Basisarbeit bereit« (358).
Das Zentrum der Darstellung wird von zwei Seitenteilen flankiert. Unter dem Titel »Horizonte« werden einleitend die außertheologischen und internationalen geistesgeschichtlichen Prozesse erhellt, in deren Verlauf die deutsche Aufklärung hineingehört; sodann kommen auch die altprotestantischen Voraussetzungen zur Sprache, unter ihnen auch der Pietismus, der hier in aller Kürze aus der Perspektive seiner Verwurzelung in der Barockfrömmigkeit des konfessionellen Zeitalters zur Sprache kommt (213–215). Das ist alles (auf höchstem Niveau!) ganz konventionell. Anders verhält es sich mit dem anderen, die Darstellung abrundenden Seitenteil des Triptychons. Unter dem Gesamttitel »Niederschläge« kommen die vier Themenkreise »Theologie«, »Kirche«, »Debatten« und »Konflikte« zur Sprache. Der Sinn dieser vier Auskoppelungen erschließt sich erst beim Lesen: Hier wird in problemgeschichtlicher Perspektive der Aufklärungsperiode rück- und vorblickend ihr Ort im Gesamtverlauf der von der Reformation her datierenden Periode der Kirchengeschichte angewiesen. Die beiden erstgenannten Abschnitte zeigen vorwiegend, inwiefern im Gesamtbegriff der Theologie und ihrer Einzeldisziplinen sowie in Organisationsform und Recht der Kirche die spezifischen Leistungen der Aufklärungszeit nur vor dem Hintergrund der Vorgaben der Reformation und des konfessionellen Zeitalters verständlich sind. Die Debatten und Konflikte hingegen bringt B. gleichsam als Präludien zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 19. und 20. Jh.s in Stellung.
Der Gesamthorizont der Darstellung ist protestantisch. Allerdings ist auch der katholischen Aufklärung ein kurzes, aber sehr gehaltvolles Kapitel gewidmet (306–317). Dass Georg Hermes und Anton Günther, in welchen die katholische Aufklärungstheologie in Deutschland ihre Peripetie erlebte und erlitt, nicht erwähnt werden, wird daran liegen, dass diese Vorgänge schon von Friedrich Heyer (KiG Bd. 4, N1, 1963) abgehandelt worden sind. – Es bleibt zu wünschen, dass der Verlag dieses außergewöhnlich qualitätsvolle Buch möglichst rasch in einer auch für Studenten erschwinglichen UTB-Ausgabe herausbringt.