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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

954–956

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schröer, Christian

Titel/Untertitel:

Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 237 S. gr. 8o = Münchener Philosophische Studien, 10. DM 59,80. ISBN 3-17-013221-0

Rezensent:

Michael Basse

Diese Studie (Habil. München) setzt es sich zum Ziel, die komplexe Architektur eines historisch bedeutsamen Beispiels dessen nachzuzeichnen, was traditionell als naturrechtliche Moralbegründung bestimmt werde (7), um damit auch einen Beitrag in der gegenwärtigen Suche nach "Orientierungshilfen" für menschliches Handeln zu leisten (13). Die historische Bedeutung Thomas von Aquins für die Geschichte der Ethik fokussiert Sch. auf die ,Rationalität´ des ethischen Ansatzes und die "Achtung der Authentizität des jeweils Handelnden" (15).

Nach einer Einführung wendet sich Sch. der thomanischen Begriffsbestimmung praktischer Vernunft zu (26-76). Dabei geht es ihm darum, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Aquinaten aus ihrer traditionell metaphysischen bzw. offenbarungstheologischen Interpretation zu lösen und seine "philosophisch reflektierte Methode" herauszuarbeiten (29). Aus der Verknüpfung von theoretischem Verstand und Handlungsbegründung ergebe sich ein Konzept praktischer Vernunft, die mehr sei als nur ein praktisches Wissen, sondern "Akte der Klugheit" ermögliche, die durch einen Gewissensakt auf konkrete Handlungen appliziert werden (69-72). Konstitutiv für jede Handlungsbegründung sei dabei die Erkenntnis der Ersten praktischen Prinzipien wie der Begriffe des Guten und des Zieles sowie des natürlichen Gesetzes (46-54).

In einem zweiten Hauptteil entfaltet Sch. die "Vernunft als Prinzip der Moralität" (77-147). Zunächst analysiert er den Erkenntnisfortschritt, der sich bei Thomas von De Veritate zur Summa Theologiae vollziehe. Sch. bewertet diesen methodischen Neuansatz, der im Rahmen einer Anthropologie erfolge, als einen Standpunktwechsel gegenüber der naturphilosophischen Perspektive von De Veritate, insofern sich Thomas nun in die Perspektive des Handelnden selbst begeben habe (86). Dies belegt Sch. mit dem "Weg der Konkretisierung", der von den Prinzipien zur Anwendung beschritten werde (90) und sich sowohl in der Zielbestimmung und Glückskonzeption des Aquinaten (91-101) als auch seinem Tugend- und Gesetzesverständnis (101-117) nachzeichnen lasse. Am Ende dieses Begründungsweges sieht Sch. "eine hinreichende Basis für eine philosophische Ethik gewonnen", wenngleich sie "im Begriff des letzten Zieles eine Leerstelle" enthalte und bei Thomas "ihre angemessene Fortsetzung in einer theologischen Ethik" finde (116 f.). Auch der "umgekehrte Prozeß der Universalisierung", d. h. der Weg von der konkreten Situation zu den Handlungsprinzipien, unterstreiche den "begründungstheoretischen Ansatz", der sich am "vernünftig Guten" orientiere (122), das als "sittlich Gutes" durch das dem Wollen korrelierende Sollen begründet werde und so auch die Dimension gemeinschaftlichen Zusammenlebens berücksichtigen lasse (130).

In einem dritten Hauptteil erörtert Sch. das thomanische Verständnis der "Vernunft als Wurzel der Personalität und Freiheit" (148-195). Dabei geht es ihm darum, die moralphilosophische Perspektive in ihrer Verschränkung wie auch Abgrenzung von dem "allgemeinen anthropologischen, ontologischen und theologischen Horizont" nachzuzeichnen (148). Das grundlegende Problem, wie die Eigenständigkeit des Menschen mit seiner Geschöpflichkeit zu vereinbaren ist, sei von Thomas in Auseinandersetzung mit der neuplatonischen Tradition und in Anknüpfung an Aristoteles durch die Unterscheidung von Erst- und Zweitursachen gelöst worden, indem er den Menschen dazu geschaffen gesehen habe, "zur Ursache seiner eigenen Handlungsurteile" zu werden (177).

In einem Schlußkapitel überprüft Sch. den Ertrag seiner Untersuchung (196-218). Mit ihrer Frage nach den moralischen Prinzipien sei die philosophische Ethik des Aquinaten für die Diskussion der Gegenwart dialogfähig geworden. Der "Grund für seine bleibende Aktualität" liege ungeachtet der historisch bedingten Begrenztheit letztlich in der thomanischen Verhältnisbestimmung von menschlichem und göttlichem Handeln, die "das für das Denken der Neuzeit grundlegende Interesse an der diesseitigen Wirklichkeit" begründet und in den Bezugsrahmen einer argumentativen, konkreten und personalen Ethik gestellt habe (216 f.).

Mit dieser Studie legt der Autor eine detaillierte Untersuchung zur thomanischen Konzeption praktischer Vernunft vor. In historischer Hinsicht bliebe zu fragen, ob die naturphilosophische und die handlungstheoretische Perspektive bei Thomas nicht doch ­ mit Jan A. Aertsen (Natura en creatura, 1982; engl. 1988) ­ stärker aufeinander bezogen werden müßten. In (kontrovers-)theologischer Hinsicht bleibt es bei dem Problem, daß der Aquinate mit der moralphilosophischen wie auch -theologischen Korrelation von Erst- und Zweitursache die heilsnotwendige cooperatio des Menschen begründet hat.