Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1326 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Moritz, Arne

Titel/Untertitel:

Explizite Komplikationen. Der radikale Ho­lismus des Nikolaus von Kues.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2006. 347 S. m. Abb. gr.8° = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, 14. Kart. EUR 46,00. ISBN 978-3-402-03169-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

»Die Rede von einem Holismus des Nikolaus von Kues ist mehrdeutig und könnte verstanden werden als Behauptung einer historischen Vorwegnahme zeitgenössischer philosophischer Positionen in der Theologie des 15. Jahrhunderts« (13). Mit diesem Satz beginnt der Vf. seine Arbeit, die er als philosophische Dissertation in Halle 2004 vorgelegt hat (Gutachter: Matthias Kaufmann, dazu Klaus Jacobi, Freiburg i. Br.). Der Vf. ist sich dessen bewusst, dass sein Anliegen als anachronistische Rückprojektion verstanden werden könnte. Er möchte aber die für Nikolaus »zentrale Terminologie von complicatio und explicatio« einer Analyse unterziehen – hinsichtlich ihres Gebrauchs, ihrer systematischen Funktion als auch ihrer begriffsgeschichtlichen Herkunft.
Es erheben sich freilich Fragen. Einmal, was ist Holismus? Dann: Trifft dieser Begriff wirklich das von Nikolaus von Kues Gemeinte? Definiert wird Holismus als Lehre, die auf der Annahme der Ganzheit sämtlicher Erscheinungen beruht, doch eine solche eindeutige Definition findet sich beim Vf. nicht. Erst spät (90) be­müht er sich um eine Begriffsbestimmung, obwohl er von An­fang an mit dem Begriff jongliert. Er beruft sich – für Nikolaus von Kues– auf Flasch, den er zitiert: »Modern ausgedrückt: Cusanus entwi­ckelt einen ›holistischen‹ Begriff von Wirklichkeit und Wahrheit« (20). Doch der Begriff ist erst durch J. C. Smuts 1926 geprägt worden und meint den »fundamentalen Wesenszug der Ganzheit in der Welt« (90). Der Vf. meint, dass die Hochkonjunktur dieses Begriffs schon wieder abflaut. Ist es dann ratsam, von einem radikalen Ho­lismus bei Nikolaus von Kues zu sprechen? Was ist überhaupt »radikaler Holismus«?
Die Arbeit ist wie folgt gegliedert: 1. Hinweise zum Gebrauch (13–25), 2. Kommentare (27–90): 2.1. Gott und Universum, wobei De docta ignorantia im Hinblick auf holistische Aussagen untersucht wird; 2.2. Papst und Kirche, hier geht es um die Auseinandersetzung zwischen Konziliarismus und Papalismus; 2.3. Geist und Er­kennt­nis, wobei De mente befragt wird. 3. Zuspitzungen (91–168); hier wird das Verhältnis von complicatio und explicatio im Gesamtwerk des Nikolaus von Kues untersucht. In 4. Erweiterungen (169–251) wird die Untersuchung in den philosophiehistorischen Zu­sam­men­hang eingeordnet. In 5. Spiegelungen (252–310) werden holis­tische Spekulationen angestellt: Komplikatives Ganzes im Spiegel explikativer Teile. Nachweise und Indizes beenden die Arbeit.
»Mit dem Begriff der explicatio bezeichnet Nikolaus ein von einer complicatio als Grund verursachtes, abhängiges Sein, ein ab-esse«, ohne der complicatio etwas hinzuzufügen (21). Er ist der Meinung, dass dem »aktual unendlichen Maximum nichts gegensätzlich gegenüberstehen kann«. So ist Gott als maximum »das Eine, das alles ist«. Das bedeutet, das alles Sein vom Maximum her sein Sein hat und nicht a se (34.42). Hinsichtlich der Kirche gehe es um die Frage, welche Seite ihre Repräsentation in Anspruch nehmen kann: Konzil oder Papst? Im Unterschied dazu, dass die Rede von Christus als Haupt der Kirche stärker konziliaristisch verstanden wurde, habe Nikolaus von Kues für »einen absoluten Machtanspruch des Papstes legitimierende Folgerungen« gezogen. Hat das Nikolaus von Kues wirklich getan? Wird hier nicht sein Brief an Rodrigo Sanchez de Arévalo überinterpretiert, wenn man bedenkt, dass er Folgerungen für den Fall, dass der Papst seine Macht missbraucht, vorsieht (69.74)? Zu De mente: Nikolaus von Kues setzt »den größten Gott mit der zuvor postulierten unendlichen mens gleich«, die »göttliche complicatio« als »das Ganze der Wahrheit«, den »unendlichen menschlichen Geist dagegen nur (als) ein Ganzes der Angleichungen an die Dinge, im Sinne eines Ganzen der Erkenntnisse von den Dingen« (81). Diese Unterscheidung sähe man gern auf die von Nikolaus von Kues getroffene Aussage vom Menschen als »deus secundus« angewandt. Wie weit reicht das Erkennen der menschlichen mens, wie weit ist sie kreativ? Ist das Sein der mens »imago complicationis dei«; ist ihre Selbsterkenntnis explicatio der Erkenntnis von Gott (89 f.)?
Der Vf. versteht den radikalen Holismus bei Nikolaus von Kues als Zuspitzung des Verhältnisses von complicatio und explicatio. Entscheidend sei »die ursprünglich durch das theologische Konzept des maximal großen Gottes implizierte Bereitschaft zur Preisgabe eines eigenen Seins der Explikationen gegenüber der Komp­likation«; es gehe um »die höchste Form von Ganzheit als die Koinzidenz der Seinsereignisse von explikativem, seinsunselbständigem Teil und komplikativ ganzem Seinsereignis« (166 f.). Der Theologe fragt: Wenn dem so ist – welche Auswirkung hat das für die Christologie?
Bei der Einordnung in den philosophiehistorischen Zusam­men­hang nimmt der Vf. (Ps.-)Dionysios Areopagita für die cusanische Koinzidenzlehre in Anspruch, sicher zu Recht (179), auch wenn er meint, dass die neuplatonischen Henologien nur eine schwache Relevanz für das Thema besäßen und von Nikolaus von Kues überschritten worden seien. Relativ ausführlich befasst sich der Vf. mit der mittelalterlichen Diskussion, vor allem zur Frage des unendlichen Seins. Nikolaus von Kues sei hier den Schritt von der corruptio contrariorum zur coincidentia oppositorum gegangen. Dafür habe Meister Eckhart in seinem opus tripartitum eine wichtige Vorarbeit geleistet (210.218). Mit Recht zitiert der Vf. am Ende dieses Abschnittes der Arbeit K. Weyand (Art. »Entwicklung« im HWPh), dass der »Begriff der komplikativen Einheit aus der, in dieser bleibend, das Viele und Mannigfaltige sich ausfaltet«, ein »Kernstück der Philosophie des Nikolaus von Kues« ausmache (251).
Abschließend will der Vf. in »Spiegelungen« Konsequenzen der cusanischen Christologie für einen radikalen epistemischen Holis­mus ziehen und – wörtlich verstanden – theologisch vom Spiegel her spekulieren (252 f.). Doch wenn Paulus (1Kor 13,12) »durch einen Spiegel ein dunkles Bild« sieht, so wird man nicht einfach »wie durch einen Spiegel Gespiegeltes ... durch die geschaffene Welt deren Schöpfer zu erkennen« vermögen (254), denn das wäre letztlich »natürliche Theologie«. Auch für Nikolaus von Kues können wir nur durch Christus selbst zur Gotteserkenntnis kommen (vgl. De visione Dei), denn Christus ist das »Selbstporträt Gottes« und der Vf. bezeichnet selbst De aequalitate als »Grundlegung einer christologischen Erkenntnistheorie« (279, mit H. Schwaetzer). Er versteht den ontologischen Holismus von Nikolaus von Kues als »einen epistemologischen Holismus des göttlichen verbum, der Christus als den radikal holistischen Begriff des Ganzen des Seins im Hinblick auf seine Funktion bezüglich der Schöpfung sogar als Bedingung der Möglichkeit des endlichen Seienden auffasst« (281).
Der Vf. hat eine anregende, aber schwer lesbare Studie vorgelegt, die in der Cusanus-Forschung künftig zu beachten ist. Es bleibt je­doch die Frage, ob der Begriff »Holismus« (und damit die Sache) wirklich viel zum besseren Verständnis des Denkens von Nikolaus von Kues beiträgt. Es soll nicht bestritten werden, dass es geboten ist, seine Theorie nicht nur philosophiehistorisch (und theologiehistorisch) zu bedenken, sondern auch für die Gegenwart fruchtbar zu machen, aber der Rezensent hat bei der Lektüre der Studie doch immer wieder den Eindruck gehabt, hier werde cusanisches Denken in ein Prokrustesbett gelegt.
Es fällt auf, dass der Vf. De coniecturis, zumindest im Hinblick auf die Terminologie von complicatio – explicatio, sehr zurückhaltend beurteilt (»keine entscheidenden Auswirkungen«), wird doch sonst von Philosophen gerade diese Schrift als wichtigster Entwicklungsschritt im frühen Werk des Nikolaus von Kues angesehen, obwohl er dessen Aussagen später nicht wieder aufnimmt (118). Weiter ist zu kritisieren, dass der Vf. die Aussage von De dato patris luminum (n. 98) sehr verkürzt wiedergibt und damit verfälscht. Er zitiert nur »Die Philosophen sagen, es sei die Gestalt, die dem Ding das Sein gebe.« Doch Nikolaus von Kues fährt fort: »Diese Aussage entbehrt der Genauigkeit. Es ist nicht das Ding, dem die Gestalt das Sein gibt, weil nichts existiert außer durch die Gestalt« (zu 142).