Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1323–1325

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Jostmann, Christian

Titel/Untertitel:

Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2006. XVII, 549 S. m. Tab. gr.8° = Monumenta Germaniae Historica Schriften, 54. Lw. EUR 60,00. ISBN 3-7752-5754-3.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Als 34. Band der Reihe der Schriften in den Monumenta Germaniae Historia erscheint eine Ausgabe der in zwei Versionen überlieferten Sibilla Erithea Babilonica, die sowohl eine vorzügliche Editionsleistung als auch die erste umfassende wissenschaftliche Studie zu dieser Quelle präsentiert. Die Arbeit ist zugleich eine an der Universität Bielefeld bei Neithard Bulst entstandene Dissertation.
Die Sibilla Erithea Babilonica aus dem 13. Jh. ist das letzte be­kannte größere Exemplar der schon aus der hellenistischen Antike und Spätantike bekannten Gattung sibyllinischer Literatur. Ihre kritische Edition und Untersuchung sind in vielfacher Hinsicht relevant: historisch für die Frage nach dem Verhältnis von Ost- und Westkirche und nach dem Kampf zwischen Papsttum und Stauferkaiser, literaturgeschichtlich für die Frage nach ihrer Rezeption in Spätmittelalter und früher Neuzeit, theologisch und soziologisch für die Frage nach dem Stellenwert mittelalterlicher Prophetie und Apokalyptik für die individuelle und soziale Bewältigung von Zu­kunft.
Die Untersuchung umfasst insgesamt sechs Kapitel, ehe im sog. Anhang eine Übersicht über die Handschriften und die eigentliche Edition beider Versionen der Quelle folgen. Das erste Kapitel der Untersuchung gibt einen kurzen Überblick über die Forschungsgeschichte, einsetzend mit der Erstedition von Charles Alexandre von 1856 über die erste Edition beider Versionen durch Oswald Holder-Egger von 1890 und 1905 bis hin zu Sabine Schmolinsky, die 1993 im Zusammenhang ihrer Dissertation über den Apokalypsekommentar des Alexander Minorita eine vorläufige Einordnung der Sibilla Erithea unternommen hatte, die freilich mehr einer Problemanzeige glich. Der kurze Literaturbericht zeigt, wie sich alle bisherigen Versuche einer Annäherung an die Quelle auf philologisch und historisch unsicherem Gelände bewegt haben, und unterstreicht eigentlich nur die Notwendigkeit, das Problem der handschriftlichen Überlieferung von Neuem bzw. erstmals vollständig aufzurollen und den Text zunächst einmal präzise in der Form wahrzunehmen, in der er auf uns gekommen ist (24 f.).
Kapitel II behandelt das komplizierte Problem der handschriftlichen Überlieferung. Die zahlreichen Zeugnisse, die seit Holder-Eggers Edition vor über 100 Jahren neu aufgetaucht sind, werden mit den in der alten Edition berücksichtigten Zeugnissen in genea­logischen Zusammenhang gestellt. Als ein wesentlicher Ertrag ist festzuhalten, dass entgegen der bisherigen Lehrmeinung die kürzere Version der Sibilla Erithea als älter als die längere anzusehen ist. Aus einer der zwei Rezensionen jener kürzeren Fassung lassen sich nämlich methodisch zuverlässig Texte extrahieren, die jedenfalls vor 1249 entstanden sein müssen (26). Die Sibilla gehört mithin in die zweite Hälfte der 40er Jahre und zirkulierte dort in monas­tischen Kreisen, die sich an Diskussionen um die Entwicklung der Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und der Kirche beteiligten (112 f.). Genau dies wird auch durch den Blick auf die im dritten Kapitel der Studie dargebotene Geschichte ihrer Rezeption im 13. Jh. nahegelegt.
In die unmittelbare Wirkungsgeschichte der Sibilla gehört u. a. ein Kommentar, die Expositio super Sibillis et Merlino. Der Vf. hat diesen Text, der eine eigene Studie wert wäre, nur soweit herangezogen, wie es für die Erforschung der unmittelbaren Rezeption der Sibilla Erithea erforderlich war. Bezeichnend ist, dass dieser Kommentar sich von einem Teil der Aussagen der Sibilla absetzt und auch erhebliche Kürzungen vornimmt; das Milieu, in dem die Si­billa rezipiert wurde, ist also keineswegs identisch mit den Kreisen, in denen sie entstand. Weitere Zeugnisse aus der zweiten Hälfte des 13. Jh.s zeigen, dass es insbesondere joachimische Kreise waren, in denen man sich mit der Sibilla Erithea auseinandersetzte (124–140).
Das vierte Kapitel ist das eigentliche Kernstück der Untersuchung und analysiert die Quelle nach ihren ideengeschichtlichen und historischen Aspekten. Die außerordentlich kleinteilige Kommentierung ist inhaltlich in zehn Unterabschnitte gegliedert. Da­bei wird der Glaube an die prophetische Autorität sibyllinischer Texte als Erwartungshorizont des mittelalterlichen Lesers profiliert. Der Abschnitt über das Rombild der Sibilla, eine eigene wissenschaftliche Miniatur im Gesamtkontext der Untersuchung (155–181), zeigt, wie differenziert unsere Quelle Romidee und Rompolemik früherer Zeiten aufnimmt (besonders das Constitutum Constantini und die Konstantinlegende), um die Papstkirche ihrer Zeit konstruktiv zu kritisieren. Weitere Abschnitte über die »blökenden Böcke in Byzanz«, über den Islam als das Tier aus der Johannesapokalypse und über das Geschlecht des Adlers zeigen die po­litische Positionierung des Verfassers der Sibilla in seinem zeit­genössischen Umfeld, wobei die Antipathie gegen Friedrich II. augen­fällig ist.
Der Vf. plädiert überzeugend dafür, den Text in lateinischem italienischem Kontext, genauer im Milieu der Kurie selbst zu verorten. Vatizinien, die in das Umfeld der Kurie im 13. Jh. gehören, werden in Kapitel V der Arbeit untersucht (344–368) und erhärten auf Grund unabweisbarer Parallelen eben diesen »Verdacht«: Die alte Hypothese einer griechischen oder syrischen Vorlage erweist sich jedenfalls als obsolet. In der Krise des Pontifikats Gregors IX. be­müht sich die Sibilla offensichtlich um Neuorientierungen der Papstkirche in ihren vielfältigen politischen und religiösen Verortungen. Getragen ist der Text von einem tiefen Vertrauen auf heilsgeschichtliche Kontinuität und die kommende eschatologische Apotheose der »katholischen« Kirche. Kulturelle Voraussetzungen und Motivation für die Abfassung eines solchen Panoramas waren an der Kurie selbst gegeben. Und auch die ideengeschichtlichen Ausrichtungen der Quelle weisen in diese Richtung: Beschwörend projizieren ihre Vorhersagen Konstellationen aus antiker Zeit als Ideal für die Zukunft, ein Hinweis auf die Selbstorientierungen ihrer Verfasserschaft und nicht zuletzt ein Beleg für die geschichtliche Kontinuität des Genres (343).
Die durchweg überzeugend vorgetragene Deutung führt gleichwohl in eine gewisse, vom Vf. auch ausdrücklich eingeräumte Aporie, die darin besteht, dass die Zeugnisse für eine Rezeption der Sibilla Erithea nun eben nicht in den Bereich der Kurie, sondern eindeutig in joachimisch-monastische Kreise weisen. Der Vf. unterbreitet einen interessanten Vorschlag zur Lösung dieses Problems, indem er auf mögliche Unterschiede im Umgang mit dem Phänomen Prophetie und mit prophetischen Texten hinweist: Möglicherweise ging man in joachimischen Kreisen mit ungleich größerem Ernst an die Auslegung von Prophezeiungen (auch hinsichtlich ihres möglichen »Eintreffens«) heran, als das im Umfeld der Verfasserschaft selbst der Fall gewesen ist, die in souveränem Gebrauch von Sprache geübt, mit Stilübungen vertraut und in scholas­tischen Denkformen zu Hause war, was sie zu einem kritischen, zugleich spielerischen und eher mittelbaren Umgang mit dem von ihr selbst für den konkreten geschichtlichen Augenblick literarisch gestalteten Phänomen Prophetie befähigte (374 f.).
Im Anhang finden sich ein aktueller Handschriftenkatalog und die eigentliche kritische Edition des Textes. Ein Namen- und ein Werkregister ergänzen den vorzüglich geratenen Band. Die Arbeit wird nicht nur neues Interesse an der Sibilla Eri­thea Babilonica evozieren und für jede weitere Beschäftigung mit diesem Text endlich eine fundierte Basis bieten, sondern sie wird die vielen noch ungehobenen Schätze im Umfeld dieser Quelle neu ins Bewusstsein der gelehrten Öffentlichkeit rücken. Die Expositio super Sibillis et Merlino ist hierfür ja nur ein evidentes Beispiel un­ter vielen. Es bleibt nur zu wünschen, dass solchen Quellen eine vergleichbar exzellente Bearbeitung widerfahren wird, wie es dank des hier vorgestellten Buches bei der Sibilla Erithea Babilonica nun der Fall ist.