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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1317–1319

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roskam, Hendrika Nicoline

Titel/Untertitel:

The Purpose of the Gospel of Mark in Its Historical and Social Context.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2004. XVI, 286 S. gr.8° = Supplementum to Novum Testamentum, 114. Geb. EUR 85,00. ISBN 90-04-14052-2.

Rezensent:

Marco Frenschkowski

Die Studie zum Markusevangelium zeichnet sich – um das gleich vorweg zu sagen – durch wohltuende Präzision und Verzicht auf überflüssige Redundanz aus. Behandelt werden in erster Linie Einleitungsfragen zu Markus – wobei keine grundsätzlich neuen Ar­gumente in die Diskussion eingebracht werden, aber eine klare, sorgfältig profilierte Position zur Sprache kommt, die in dieser Form mit keinem früheren Ansatz deckungsgleich ist.
Nach einer angenehm kurzen, nicht durch Wiederholungen aufgeblähten Forschungsgeschichte zu »Origin and Purpose of Mark’s Gospel in New Testament Scholarship« (1–23) wird in einem ersten Hauptteil nach der Situation der Lesegemeinde des Evangeliums gefragt (25–142). Dabei wird (gegen Richard Bauckham) verteidigt, dass der Evangelist primär eine bestimmte Gemeinde (bzw. Region) im Blick habe, deren Situation und Probleme aus den re­daktionellen Teilen seiner Darstellung erhoben werden könnten. Zur Näherbestimmung wird besonderer Wert auf die vier Passagen Mk 4,17; 8,34 f.; 10,29–30 und 13,9–13 gelegt, die R. mit dem herkömmlichen Werkzeug einer diachronen Scheidung Tradition-Redaktion untersucht. Mk 8,34* etwa sei redaktionell bearbeitet und durch V. 35 ergänzt worden; 13,9 f. sei Redaktion usw. Dabei wird auch auf die Rekonstruktion thematisch paralleler Q-Texte Wert gelegt, die zum Teil helfen, die vormarkinische Tradition klarer zu erfassen. Q sei gegenüber Mk vollständig literarisch unabhängig (41.66 u. ö.; m. E. zutreffend, aber in der jüngeren Forschung öfters bestritten). R. kann überzeugend plausibel machen, dass der Evangelist die Verfolgungssituation stark hervorhebt und auf diese ermutigend-tröstlich eingeht. Diese Verfolgung gehe sowohl von jüdischen wie auch von römischen Instanzen aus, wie vor allem aus Mk 13,9 f. folge (mit der feinen Beobachtung, dass ἐπὶ ἡγεμόνων καὶ βασιλέων die administrative Zweiteilung Galiläas zwischen dem römischen Legaten und König Agrippa II. nach 70 n. Chr. spiegeln könnte). Dann wendet sich R. Zeit und Ort der Entstehung des Mk zu (75–114). Die traditionelle Sicht (Rom, Ende der 60er Jahre) verdanke sich nur der apologetischen Notiz des Papias und sei nicht plausibel; dieser sei von 1Petr 5,13 abhängig. Nur aus inneren Kriterien sei eine Antwort auf die Einleitungsfragen zu erheben. Dazu wird die These begründet, der Verfasser des Mk schreibe nach 70 n. Chr. in Galiläa (nicht in Syrien, und auch nicht in Rom). Für die Spätdatierung wird vor allem mit Mk 12,1–12 argumentiert. Das (auch vom Rezensenten) vertretene Gegenargument, dass Mk 13,1 f. gar nicht präzise die Ereignisse des Jahres 70 be­schreibt und kaum bereits auf dieses zurückblickt, wird vielleicht doch etwas zu rasch vom Tisch gewischt (86, Anm. 44). Mk 13,14a wird mit Lührmann auf die römische Armee oder ihren Anführer bezogen (90 f.). Eine stadtrömische Herkunft des Evangeliums sei nicht anzunehmen, da keines der hierfür vorgebrachten Argumente beweiskräftig sei. Über die doch sehr auffälligen Latinismen wird leider rasch hinweggegangen (94 f.). In erster Linie wird mit den topographischen Kenntnissen des Autors argumentiert. Während diese für Judäa und die Dekapolis bekanntlich deutlich fehlerhaft sind, sei das für Galiläa nicht der Fall. Auch beweise die Rolle, die Galiläa in Mk 14,28; 16,7 spiele, dass dies ein identifikatorischer Haftpunkt für die mk Gemeinde sei. Damit werden in behutsamer Form Gedanken W. Marxsens wieder aufgenommen (aber ohne dessen verfehlte Parusiethese). Eine Verfolgung durch Instanzen der jüdischen Oberschicht könnte mit dem zusammentreffen, was wir auch sonst über die ängstlich-vorsorgliche Haltung prorömischer Juden wissen, gerade aus Galiläa (115–137). Mk 13,9 zeichne daher ein historisch plausibles Bild der Verfolgung christlicher Gruppen im Galilaä der Jahre nach 70 n. Chr. Hier dürfte der argumentative Kernpunkt der Studie von R. zu sehen sein, der in der Tat über die ältere Forschung hinausführt. Später wird allerdings eingeschränkt, dass nicht wirklich deutlich werde, inwiefern Mk eine aktuelle Verfolgung oder nur die Gefahr einer solchen im Blick habe (210 f.).
Ein zweiter Hauptteil (143–211) versucht auf dieser Basis die Botschaft (message) des Evangeliums zu präzisieren. Mk wolle die galiläischen christlichen Gemeinden gegen den Verdacht verteidigen, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darzustellen. Die Betonung der Autorisierung Jesu durch Gott, die Neuinterpretation des Christustitels, die Betonung einer jüdischen Initiative hinter der Hinrichtung Jesu dienten letztlich dem Zweck, die galiläischen Gemeinden als politisch unverdächtig darzustellen, obwohl sie einen Gekreuzigten verehrten. Zentrale Motive des Evangeliums (Schweigegebote, Jüngerunverständnis, Passionsmotive u. a.) werden in diesem Sinn als Apologetik der Gemeinde interpretiert. Der messianische Zug im Auftreten Jesu solle von jeder möglichen Verbindung zu Aufstandsgedanken gelöst werden. Jesu Prozess unter Pilatus wird als durch jüdische Gegner manipuliert dargestellt, um Jesus von jedem Oppositionsszenario gegenüber Rom freizuhalten. Der mk Pilatus durchschaue die Rolle der jüdischen Obrigkeiten (15,10 u. ö.), könne aber die Passionsereignisse nicht aufhalten. Jesus wird damit von Mk radikal von allen denkbaren »Zelotenmessiassen« unterschieden, ohne dass der messianische Zug der Jesusbewegung geschmälert wird. Die Tempelreinigung, gerne als prophetische Zeichenhandlung gesehen, versteht die vorliegende Studie vielmehr als königlich-messianischen Akt im Sinne einer im Alten Testament vielfach bezeugten Verantwortung des Königs für den Tempel (162 f.).
In einem letzten kürzeren Hauptteil legt R. eine Gesamtcharakterisierung des Evangeliums vor (213–236), die vor allem noch einmal das Verhältnis zu antiken Biographien aufnimmt (auch 11–14). Die Frage, ob Mk als antike Biographie zu lesen ist, hängt natürlich an der zu Grunde gelegten Definition dieser Gattung. R. sucht hier einen Zwischenweg zwischen A. Dihles enger, stark an Plutarch orientierter Bestimmung und C. H. Talberts, die so weit sei, dass sie kaum deskriptiven Wert habe. Antike Biographien werden demgegenüber verstanden als »prose narratives of medium length with a strong concentration and focus on a single person which deter­mines the whole setting of the book« (223). Dies trifft sich unge-fähr mit dem Ansatz von R. A. Burridge, What Are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, Cambridge 1992. R. stimmt einer Gattungsbestimmung des Mk in diesem Sinne zu (225 f.), um dann doch in einem weiteren Schritt zu behaupten, dass diese zum Verständnis des Evangeliums kaum etwas austrage, da der soziale und religiöse Abstand zwischen Mk und den erhaltenen antiken Biographien so groß ist, dass wir aus der reinen Gattungsbestimmung kaum etwas über Absicht und Charakter des Mk schließen könnten. Das ist ein doch recht zwiespältiges Urteil (das sich aber immerhin mit Positionen wie denjenigen von D. E. Aune und H. Cancik berührt). Weiterführend wäre vielleicht über diese Aporie hinaus eine klare Trennung von Gattung und Genre (»Evangelium« im Sinne des Mk ist keine neue Gattung, wohl aber ein neues Genre), was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. R. selbst schließt die vorliegende Studie mit einer Charakteristik des Mk als »apologetic document written in a polemic situation« (231).
Trotz sorgfältiger, an den Realien und klaren Textbeobachtungen orientierter Argumentation kann manches in der vorliegenden Arbeit nicht überzeugen. Dass ein Bewohner von Galiläa zwar (natürlich) weiß, welche Städte am See Genezareth liegen, aber über die Dekapolis (Gerasa) und Judäa (Beth­phage/ Bethanien) schwerwiegende geographische Irrtümer begeht, ja, schon über Tyros und Sidon nicht mehr im Bilde sei (107, wegen Mk 7,31), hält der Rezensent für sachlich undenkbar. Er bleibt bei der Mehrheitsmeinung, dass Mk generell aus einer deutlichen Distanz zu Palästina schreibt. Der massive Erklärungsbedarf, den Mk 7,3 f. dokumentiert, dürfte auch für Heidenchristen in Galiläa kaum plausibel sein. Damit wird das Bild eines galiläischen Autors, der ganze galiläische Gemeinden im Blick hat, fragwürdig. Auch in der Datierungsfrage ist der Rezensent nicht überzeugt, obwohl die Argumente hier schwerer wiegen. Der Rezensent kann aber z. B. nicht sehen, wie Mk 13,14–19 auf die Zeit nach 70 n. Chr. zu beziehen sein könnte. Der ganze Duktus der Passage – wie überhaupt von Mk 13 – ist auf unmittelbar bevorstehendes entsetzliches Un­heil gerichtet – und blickt nicht grübelnd auf ein solches zurück, wie das 4. Esrabuch oder der syrische Baruch. Die Diskussion wird weitergehen müssen. »The Purpose of the Gospel of Mark in Its Historical and Social Context« stellt ein bedenkenswertes Korrektiv gegen einseitig synchrone Deutungen dar, auch wenn über die Einzelheiten divergierende Auffassungen möglich sind.
Nur ein Detail soll noch exemplarisch Erwähnung finden. Die Passage über die Pseudomessiasse Mk 13,21 f. sei nur in Palästina selbst denkbar: Außerhalb Palästinas habe es keine Messiasprätendenten gegeben. Aber das wissen wir nicht – die Geschichte der Diaspora ist uns selbst in Ägypten nur in Umrissen bekannt. Was war das Selbstverständnis jenes Webers Jonathan, der bald nach 70 n. Chr. die Juden der Cyrenaica mit allerlei apokalyptischen Versprechungen zu den Waffen rief? Oder jenes Lukuas oder Andreas, der 115–117 den jüdischen Aufstand in der Cyrenaica anzettelte? Und war der »neue Mose« wirklich eine vereinzelte Gestalt, der 440 in Kreta wiederum Zeichen und Wunder versprach und zahlreiche Juden ins Verderben zog (Socrates scholasticus VII, 38)? Die jüdisch-messianischen Bewegungen in der östlichen Diaspora treten gerade erst in den Blickwinkel der Forschung (vgl. etwa Harris Lenowitz, The Jewish Messiahs. From the Galilee to Crown Heights, Oxford 1998). Umfassende Stellen-, Personen- und Sachregister runden die Studie ab. Die Titelseite des Bandes bezeichnet ihn merkwürdigerweise als »edited by H. N. Roskam«, aber es handelt sich einfach um eine Monographie, keine Aufsatzsammlung verschiedener Autoren – offenbar eine Unaufmerksamkeit des Verlages.