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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1315–1317

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Riedl, Hermann Josef

Titel/Untertitel:

Anamnese und Apostolizität. Der Zweite Petrusbrief und das theologische Problem neutestamentlicher Pseudepigraphie.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2005. XIII, 297 S. 8° = Regensburger Studien zur Theologie, 64. Kart. EUR 51,50. ISBN 3-631-54557-6.

Rezensent:

Martina Janßen

Der katholische Neutestamentler Hermann Josef Riedl liefert mit seiner Untersuchung zum 2. Petrusbrief einen theologisch engagierten Beitrag für die derzeit lebhaft und kontrovers geführte Diskussion über die neutestamentliche Pseudepigraphie. Im Zentrum der von Hubert Ritt betreuten und im Sommersemester 2003 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Re­gensburg angenommenen Habilitationsschrift steht das theolo­gische Problem neutestamentlicher Pseudepigraphie. Dies ist R. zufolge in vielerlei Hinsicht brisant: Zum einen hält die evangelikale Exegese Pseudonymität und Kanonizität für unvereinbar, zum anderen gibt es ein möglicherweise aus »theologischen Vorbehalten gegenüber der neutestamentlichen Pseudepigraphie« (7) resultierendes Vermittlungsproblem hinsichtlich historisch-kritischer Erkenntnisse. Beispielsweise erscheinen der 2Petr in der or­thodoxen Studienbibel (1993) und die Pastoralbriefe im Katechismus der Katholischen Kirche (1993) als authentische Schriften. Angesichts dieses Befundes besteht nach R. die zentrale Aufgabe darin, »das theologische und moralische Problem der Pseudonymität des 2. Petrusbriefes aufzugreifen und einen Lösungsansatz zu erarbeiten, der nicht nur für diesen Brief Gültigkeit hat, sondern auch für andere neutestamentliche Pseudepigraphen von Bedeutung sein könnte« (5).
Nach einer Einleitung (1–11) befasst sich R. in einem ersten Kapitel (13–75) mit dem »2. Petrusbrief und der Frage der Authentizität«. Er behandelt a) die literarische Form, b) Sprache und Stil, c) literarische Beziehungen zum Judasbrief und zum 1. Petrusbrief sowie d) die zeitliche Einordnung von 2Petr. R., der selbst von der Pseudonymität des Briefes ausgeht, setzt sich dabei mit den Vertretern der Echtheit und den theologischen Gründen auseinander, die zur Ablehnung der Pseudonymität führen.
Das zweite Kapitel (77–142) ist forschungsgeschichtlich orientiert. R. stellt zunächst »theologische Lösungsansätze zum Problem neutestamentlicher Pseudepigraphie« vor (Kurt Aland, Wolfgang Speyer, Norbert Brox, Josef Zmijewski, Petr Pokorny´, David G. Meade, Jürgen Roloff, Armin Daniel Baum, Gerd Theißen), um sie anschließend im Blick auf die eigene Position zu bündeln. Hierbei spielt für R. die Erinnerung als Vergegenwärtigung der apostolischen Tradition eine entscheidende Rolle.
In dem dritten Kapitel (»Pseudepigraphie und Anamnese«: 143–230) verfolgt R. seinen eigenen Lösungsansatz. Schlüssel für das theologische Problem der Pseudonymität ist die Kategorie der Erinnerung. Nach einer knappen Analyse der Semantik und Pragmatik der Lexeme des »Erinnerns« und der »Erinnerung« in 2Petr (1,12–15; 3,1–4) widmet R. sich der hermeneutischen und theologischen Bedeutung der Erinnerung als Anamnese im Alten Testament. Dazu analysiert er im Anschluss an eine forschungsgeschichtlich orientierte Problemexposition überblicksweise den Themenkomplex des Gedenkens im Alten Testament (Semantik der Wurzel zkr, der Mensch als Subjekt des Gedenkens, Gott als Subjekt des Gedenkens, Erinnerung und Vergegenwärtigung). Ein Exkurs über »Erinnerung aus jüdischer Perspektive« (195–206) sichert die Ergebnisse ab und soll zugleich »ein kleiner Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog sein« (11). R. kommt zu folgendem Resultat: »Charakteris­tisch für das Verständnis der jüdischen Erinnerung ist die im Gedenken sich vollziehende Gleichzeitigkeit der Generationen. Im Gedenken wird der Jude mit allen Epochen seiner Geschichte gleichzeitig, sie ist für ihn nicht mehr Vergangenheit, sondern wird zur Gegenwart« (206 [238]). Diesen Gedanken adaptiert R. für die Pseudepigraphie von 2Petr (207–230). Dazu untersucht er zu­nächst knapp die Anamnese der Schrift und der urchristlichen Tradition in 2Petr, um dann die pseudepigraphisch relevante Anamnese in den Blick zu nehmen. Diese kommt an zwei Punkten zum Ausdruck, nämlich 1. in »Petrus« als dem Augen- und Ohrenzeugen der Verklärung Jesu Christi und 2. in der Ankündigung des baldigen Todes und dessen Offenbarung durch Jesus Christus. Der in der alttestamentlichen und jüdischen Anamnese-Tradition verwurzelte (238) Verfasser wird »im Gedenken gleichzeitig mit dem Apostel und seiner Situation des bevorstehenden Todes: Der Autor des 2.Petrusbriefes tritt anamnetisch an die Stelle des Apostels Petrus« (228).
Das Schlusskapitel »Anamnese und Apostolizität« (231–241) fasst die Ergebnisse zusammen. Ein Literaturverzeichnis und ein Stellen- und Autorenregister (243–297) runden die Arbeit ab, die mancherlei Redundanzen wie doppelt angeführte Zitate (vgl. z. B. 101.102 mit 104) und Sätze (vgl. z. B. 142 mit 235) enthält und durch vorbereitende bzw. resümierende Zwischenschritte (siehe z. B. 78) methodisch überaus transparent ist.
R.s Schlüssel für die Lösung des theologischen Problems neutes­tamentlicher Pseudepigraphie liegt in der Deutung der Pseudepigraphie als »Ausdruck anamnetischer Apostolizität« (241). Der Verfasser von 2Petr tritt dabei anamnetisch an die Stelle des Petrus. Als Mittel der Anamnese ist Pseudepigraphie theologisch legitim (142.228.230.235). Der entscheidende Unterschied zur untersuchten jüdischen und alttestamentlichen Anamnese ist freilich, dass in 2Petr die Anamnese »im Namen einer anderen Person« (229) formuliert wird. Diese »Anamnese im Namen des Apostels« konstatiert auch R. (229 f.) und bringt das Phänomen auf den Begriff der »literarischen Stellvertretung« (230), allerdings ohne vertiefende Reflexion.
Insgesamt bleibt die Frage, ob mit der Annahme der anamnetischen Verfasserschaft das Pseudepigraphiekonzept von 2Petr er­schöpfend erklärt ist. Im Hinblick auf die intendierten (hellenistischen: 220) Adressaten wäre zudem eine Analyse des griechischen Erinnerungsbegriffs hilfreich gewesen. Ob weiter die biblische Kategorie der »Erinnerung« als möglicher Schlüssel für die Pseud­epigraphie von 2Petr repräsentativen Charakter hat und somit den entscheidenden Lösungsansatz für das theologische Problem der neutestamentlichen Pseudonymität an sich eröffnet, ist angesichts ihrer formalen und theologischen Komplexität zu überprüfen. Hier könnte eine Untersuchung der Funktion der Erinnerung in den übrigen pseudepigraphischen Schriften weiterführen.
Wenngleich eine (kanon-)theologische Fragestellung hinsichtlich neutestamentlicher Pseudepigraphie zweifelsohne ihre Be­rechtigung hat, wie R.s Problemanzeige eindrücklich vor Augen führt (5–7), so gilt es doch zweierlei zu bedenken: Zunächst droht eine Fokussierung auf die Frage nach der (kanon-)theologischen Legitimität den Blick auf die Eigenart der einzelnen pseudepigraphischen Schriften zu verstellen. Das Absehen von einem rein innerbiblischen Lösungsansatz ist m. E. notwendig. Die Einordnung neutestamentlicher Pseudepigraphie in den Kontext apokrypher und antik-paganer Pseudepigraphie, rhetorischer Prosopopoiie und Epistolographie lässt auch für 2Petr Rückschlüsse auf seine Funktion zu (vgl. z. B. Karl Matthias Schmidt, Mahnung und Erinnerung im Maskenspiel. Epistolographie, Rhetorik und Narrativik der pseudepigraphen Petrusbriefe, HBS 38, Freiburg 2003). Schließlich muss geklärt werden, worin genau das theologische Problem neutestamentlicher Pseudonymität eigentlich besteht und wo es beginnt (bereits beim Phänomen der Interpolation im Alten Testament und Neuen Testament?). Eine systematische und auf Grund des unterschiedlichen Kanonverständnisses sicherlich kontroverstheologische Auseinandersetzung mit den von R. angeführten Gründen für die Ablehnung von Pseudonymität in der Bibel (70–75) steht noch aus.