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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

949–954

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gerwing, Manfred

Titel/Untertitel:

Vom Ende der Zeit. Der Traktat des Arnald von Villanova über die Ankunft des Antichrist in der akademischen Auseinandersetzunq zu Beginn des 14. Jahrhunderts

Verlag:

Aschendorff 1996. XXV, 708 S. gr. 8o = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters NF, 45. Kart. DM 198,-. ISBN 3-402-03996-6

Rezensent:

Fritz Hoffmann

Das hier vorgestellte Werk erweist seine Bedeutung und Aktualität nach mehreren Richtungen hin. Das Thema ,Antichrist´, die Zeit seines Kommens und Wirkens, seine Zeichen und Vorzeichen, seine ,Gestalt´ (symbolische Figur, Einzelwesen oder Körperschaft, diabolisches Wesen oder Mensch) hat die Christenheit, besonders seit Augustinus, stets bewegt. Diese Fragen greift G. an Hand des Antichristtraktates auf, den Arnald von Villanova an der Wende vom 13. zum 14. Jh. verfaßt hat. Über den Inhalt dieses Traktates hinaus bezieht G. das geschichtliche Umfeld ein. Dazu kommt ein umfangreicher Apparat an mediävistischen Quellen und Fachliteratur. Die präzise Untersuchung des Traktates und die mit ihr verbundenen und aus ihr hervorgehenden Erweiterungen machen dieses Werk zu einem hervorragenden Band mediävistischer Forschung.

Die Quelle ist ein Traktat, der in der von G. benutzten maßgeblichen Handschrift nicht mehr als 28 Folioseiten umfaßt, nämlich fol. 50 va bis fol.78 va des Cod.vat.lat.3824. Sein Titel lautet: "De tempore adventus Antichristi." Der Verfasser ist der spanische Magister der Medizin Arnald von Villanova. Natürlich hat G. auch andere Handschriften (76 Anm. 2) sowie das umfangreiche literarische Werk des Arnald herangezogen, das mit diesem Traktat in Zusammmenhang steht. Im Quellenverzeichnis finden wir eine Aufzählung. Die Textanalyse und die Zitate des Antichrist-Traktates mußten an Hand des handschriftlichen Codex vorgenommen werden, da bisher noch keine zuverlässige Gesamtedition vorliegt. Schon dieser Umstand erfordert gediegene Erfahrung in der Mediävistik, sollen die Quellen exakt ausgewertet und die Verbindungslinien zum kirchlichen und gesellschaftlichen Umfeld einsichtig gemacht werden. G. hat seine Erfahrung in dieser Methodik bereits in seiner Dissertation über das "Malogranatum"(1) ausgewiesen. In seiner hier vorliegenden Habilitationsschrift über den Antichrist-Traktat ist sie ausgereift. Keine Zeile des umfangreiche Werkes ist zuviel geschrieben.

In einem ersten Teil macht uns G. mit dem politischen Geschehen an der Wende zum 14. Jh. bekannt (2-25), das sich in dem Dreieck: Spanien ­ Frankreich ­ Sizilien abspielte. Man muß diesen Hintergrund kennen, um die Vorgänge zu verstehen, die Arnald an der Universität von Paris auslöste, als er seinen Traktat über das Kommen des Antichrist vorlegte und zur Disputation auffordert.

Der Dekan der Theologischen Fakultät ließ ihn unter der Anschuldigung des Häresieverdachtes sofort verhaften, mußte ihn aber auf Einspruch des Königs (Philipp des Schönen) alsbald wieder freilassen und eine empfindliche Strafe hinnehmen; Arnald war eigentlich in diplomatischer Mission im Auftrag des Königs von Aragon in Paris. Die Königshäuser von Frankreich und Aragon waren miteinander befreundet. Die politische Situation verwandelte die Verhaftung Arnalds in ein Politicum, ein Beispiel dafür, daß anscheinend rein geistesgeschichtliche Ereignisse nicht als isolierte Phänomene sui generis zur Sprache gebracht werden dürfen, sondern auf dem Hintergrund der Profangeschichte. Nur auf diesem Wege läßt sich in das Gesamt-Phänomen "Mittelalter" wirklich Einsicht gewinnen. Daß Arnald von Villanova eine Universitäts-Disputation über seine These vom Nahen des Antichrist anstrebte, war in seiner Stellung als Magister (der Medizin) begründet. Daß er solches als Nicht-Theologe forderte, lag in seiner Überzeugung von seiner prophetischen Sendung. Deren Ziel war nicht ein religiöses Abenteuer, wie es eher in den schwärmerischen Bewegungen zu finden ist, sondern ein Mahnruf zur Umkehr und Buße, der sich besonders an die führenden Stände in dem profanen Bereich und an die Hierarchien richtete.

Als Magister der Medizin nimmt Arnald in der Medizin-Geschichte eine herausragende Stelle ein. Als Arzt war er ein gesuchter und erfolgreicher Ratgeber und Heilkundiger an den Höfen der Fürsten (32), ja selbst des Papstes (Clemens V., 42).

Wenn uns heute die Verbindung von theologischer Reflexion und weiser ärztlicher Kunst fremd und zufällig erscheint, wie ein Relikt aus ferner Vergangenheit, so sei daran erinnert, daß die Affinität wenigstens der Philosophie mit der Heilkunst am Anfang des menschlichen Weisheitsstrebens stand und dieses eine lange Strecke in der Geschichte begleitet hat. Die arabischen Philosophen des Mittelalters waren zumeist auch Ärzte an den Höfen der Sultane und Kalifen. Schon in der Antike sah sich der Philosoph im Dienste des seelischen und leiblichen Heils des Menschen. Diese Verbindung von Weisheitslehre und Heilsverkündigung wiederholt sich im Leben und Wirken Arnalds. In Montpellier lehrte er von etwa 1290 bis 1299 Medizin, hatte aber zugleich einen geistigen Kontakt zu den Theologen (Dominikanern), der sich nicht nur auf passives Zuhören und Lernen beschränkte, sondern auch in Disputationen aktiv wurde (33 f.)

Arnald war Laie (clericus uxoratus, also nicht im Status der höheren Weihen) und stellte in seinem Stand die Aufgabe des Laien in Kirche und Welt heraus. "Wenn in einem Land, so argumentiert Arnald, jedes Kind das Recht und die Pflicht hat, den Fälscher von königlichen Münzen zu denunzieren, so könne es nicht angehen, einem gewöhnlichen Christen das Recht und die Pflicht abzusprechen, die Fälscher, Verdünner und Verächter jener ,göttlichen Münze´ an den Pranger zu stellen, die die göttliche Wahrheit selbst ist." (43) Die stärkste Waffe im Kampf gegen die Gottlosigkeit seiner Zeit und die damit verbundene Pervertierung der menschlichen Natur ("zunehmender Realitätsverlust der Menschen", 69) ist die Verkündigung des herannahenden Weltendes und des ihm vorausgehenden Kommens des Antichrist. Arnald belegt das letzte mit bestimmten, festgelegten Zeiten, für die er sich auf genaue Beobachtung der Aussagen in der Heiligen Schrift stützt, dazu auf Zeugnisse der ,Seher´ und die Deutung der Zeitereignisse. Er will nicht Prophet sein, sondern ,Speculator´, ein wacher und strenger Beobachter. Aus diesem Motiv hat er seinen Traktat über das Kommen des Antichrist verfaßt, auf den wir nun einen Blick werfen wollen.

Das 3. Kap.: "Die Ankunft des Antichrist nach Arnald von Villanova" (76-253), ist der Analyse der zeitgenössischen Verknüpfung und der geschichtlichen Bedeutung des Antichrist-Traktates gewidmet. Es ist der relativ umfangreichste Teil des Buches, an den nur noch die ausführliche Darstellung des Traktates heranreicht, im dem Johannes Quidort (von Paris) die Antichrist-Verkündigung Arnalds aufgriff. Bevor G. auf den Inhalt eingeht, nimmt er eine sorgfältige Anatomie der redaktionellen Schichtung des Werkes vor (76 ff.), für die er auch auf Heinrich Finke und Anneliese Maier verweisen kann. Handschriftenkundliche Analysen mag der Laie als philologische Extravaganzen ansehen; für das Verständnis eines Textes und seines ´Sitzes im Leben´ können sie eine entscheidende Bedeutung haben. Dies ist auch hier der Fall. Ich greife noch einige andere Punkte heraus, die den Inhalt betreffen. Im Unterschied zu anderen eschatologischen Traktaten stützt Arnald seine Aussagen ständig auf biblische Texte. Sein Motiv ist die liebende Sorge um die Menschen seiner Zeit. Er will retten, nicht verfluchen, und versteht seine Berufung als ´Speculator´, der als Wächter den Lauf der Zeit beobachtet; die Bibel dient ihm dabei als Aussichtsturm (85). Von Gottes Offenbarung her sollen die endzeitlichen Zeichen gedeutet werden, nicht aus der Kunst und Macht der menschlichen Einsicht (114 f.). Für solche Deutungsversuche bot sich die Astrologie an, die durch die Aristotelesrezeption zu wachsender Bedeutung in der Geisteswelt des Abendlandes gelangt war ( 166). Arnald wendet sich gegen den Einbruch philosophisch-naturwissenschaftlichen Denkens in die Theologie (116). In diesem Bestreben gibt er dem Schriftwort, das seinen konkreten Zeitangaben über das Kommen des Antichrist entgegengehalten wurde, einen eigenen Sinn: "Euch kommt es nicht zu, tempora vel momenta zu kennen, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat" (Apg 1,7). Zweifaches will Christus den Jüngern mitgeben: Er verbietet ihnen nicht das Forschen nach dem Zeitpunkt seiner Wiederkunft, hat er doch selbst den Jüngern die Zeichen der Endzeit offenbart; zugleich sollen sie aber bedenken, daß solches Wissen nicht aus menschlicher Einsicht und Macht kommen kann: "Euch steht es nicht zu, zu wissen...". Es geht ja um ein Wissen, daß nur auf dem Wege sorgfältiger, gläubiger Befragung der Offenbarungsaussagen gewonnen werden kann (127 f., nochmals in ,Summa´, 639 f.). Diesen Weg, sagt Arnald, habe er in seinem Traktat beschritten.

Mit minutiöser Genauigkeit stellt Arnald seine Zeitberechnungen über das Kommen des Antichrist auf, ausgehend von den biblischen Prophezeiungen Mt 24,21-30, Lk 21,20-28, besonders der Danielvision im Kap. 8 jenes Buches (126 ff., 129 ff.). Er unterscheidet genau zwischen eschatologischen Vor-Zeiten und Vor-Läufern des Weltendes und des Antichrist und dem endzeitlichen Geschehen selbst und seinen Zeichen. G. folgt diesen Aufzeichnungen Schritt für Schritt und verdeutlicht sie mehrmals in dem Schema der Zeittafeln. Wichtig ist für uns heute diese Verknüpfung der heilsgeschichtlichen Verkündigung mit Vorgängen der profanen Geschichte. Dabei wird nicht einer blinden Spekulation Raum gegeben, sondern auf die Realität der Ereignisse in der Gesellschaft, in der Kirche, in Politik und Staatswesen Bezug genommen. Über einzelnes kann gestritten werden, aber der Boden, auf dem sich solche Disputationen im Mittelalter bewegen, ist der gleiche. Theologie war nicht phantastische Spekulation, sondern nach allen Seiten in Realitäten eingebunden, geistig, politisch, gesellschaftlich, ohne sich mit diesen Realitäten zu identifizieren. Es gab aber eine Relationalität in der Methodik, die heut viel zu wenig beachtet oder gar gewürdigt wird. Dies läßt sich besonders deutlich studieren am Umgang der scholastischen Theologie mit der Heiligen Schrift und deren vierfachen Sinn. G. geht auf die Bedeutung des Schriftsinnes in der wichtigen Anmerkung S. 302 Anm. 132 ein, wo er den Traktat des Johannes von Paris zur Sprache bringt. Der Literalsinn bildete für alle Schrifterklärungen der scholastischen Theologen die Grundlage und den Ausgangspunkt. Die Bibel bringt Heilsgeschichte. In der Aufgabe, biblische Texte richtig auszulegen, bestand das Motiv für die Entwicklung der Semantik im Mittelalter (Pinborg)(2). Die Littera waren Grundlage der historisch richtigen Erkenntnis. Da es aber in der Bibel um die Herrlichkeit Gottes und das Heil des Menschen geht, darf der Buchstabe nicht ohne die Deutung auf das verantwortete Handeln (sensus moralis), auf das göttliche Mysterium (sensus spiritualis, mysticus) und auf die letzte Vollendung des Heils (sensus anagogicus) bleiben.

Dabei ist wichtig, daß diese vier Arten des Schriftsinnes nicht isoliert nebeneinander praktiziert werden, weil sie in einer inneren Relationalität zueinander stehen. In einer geistigen Affinität zu solcher Erkenntnis muß ein Phänomen der Theologiegeschichte angegangen werden. Das vorliegende Werk von G. folgt diesem methodischen Prinzip auf Schritt und Tritt. Die Kalkulationen, die Arnald über das Kommen des Antichrist anstellt (143 ff.), und die ihm den Häresieverdacht eingebracht haben, erhalten für den Theologen heute, d.h. im Abstand der Geschichte, einen anderen Sinn als für die Zeitgenossen. Sie stehen im Dienste der Konkretisierung der Heilsverkündigung, hier der eschatologischen Mahnung.

Sie muß für den Glaubenden immer die Eigenschaft einer drängen Mahnung haben, auch wenn der Zeitpunkt des Eintritts ungewiß ist. Der Glaubende muß bereit sein; denn es kann schon heute oder morgen eintreffen. Arnald verdichtet die Konkretion der Enderwartung mit der Zeitangabe: "keine zweihundert Jahre mehr" (105). Also kein Datum auf Zeit. und Stunde, aber eine Zeitangabe. G. zeigt, wie dieser gewagte Versuch bei den zeitgenössischen Magistern der Theologie eine engagierte Reaktion ausgelöst hat, die von vorsichtiger, kritischer Tolerierung (Johannes Quidort) bis zu heftiger Ablehnung (Heinrich Harcley) reichte. Hinter der Frage nach dem Zeitpunkt des Kommens steht die andere nach der Eigenart, der ,Person´ des Antichrist. Für Arnald ist die erste Frage die wichtigere, was schon der Umfang seiner Zeitspekulationen zeigt. Zudem ist mit dem Auftreten des Antichrist die Ankunft Christi verknüpft. Das erste ist nur ein Vorspiel des zweiten (131). Die Frage nach der Eigenart des Antichrist sieht Arnald von der Heilsberufung des Menschen her, zu Gott zu gelangen, zur Teilnahme am göttlichen Leben. Christus ist es, der ihn auf diesem Wege führt.

Der Antichrist ist der Widerpart, der den Menschen von diesem Wege abbringen will (173-177). Arnald verbindet das Erscheinungsbild des Antichrist mit dem "Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte" (Dan 12,11, 133). Arnald zieht die Fäden weiter und folgert, daß ja auch der Mensch durch die Machenschaften des Antichrist zum entstellten Bild seiner selbst deformiert wird. Johannes Quidort äußert sich viel differenzierter zu dieser Frage. Auf seinen Antichrist-Traktat möchte ich in diesem Teil besonders hinweisen, weil er für die Geschichte der Antichrist-Frage aufschlußreich ist.

Das umfangreichste Kapitel nächst dem über Arnald von Villanova ist Johannes Quidort (Johannes Parisiensis) gewidmet ( 254-449) Wie bei Arnald schickt hier G. dem eigentlichen Thema eine Biographie und eine kritische Aufzählung seiner ,Publikationen´ voraus (254-272). Auffallend ist schon, daß Johannes Quidort das Kommen des Antichrist mit dem Herannahen des Weltendes eng verbindet, wie es die Bezeichnung seines Traktates anzeigt. Das Explicit des Venediger Druckes lautet: "De Antichristo et fine mundi (saeculi)" (273).

In der Frage nach der Zeit des Antichrist hat Johannes Quidort eine vermittelnde Stellung zu Arnald. Theologische Gründe motivieren ihn dazu. Die ,Letzten Dinge´ sind für ihn kein Randthema. Wer den eschatologischen Prophezeiungen nachspürt, gewinnt ein immer tieferes Wissen und Verständnis der ,Letzten Dinge´ (278). Daniel, für Johannes der Gottesmann ex professo, ringt um die Erkenntnis der Vision (277). Das Nichtwissen über das Weltende ist für Johannes eine Erkenntnislücke, mit der man sich nicht abfinden darf (276). Der Mensch soll darum ringen (429); denn die Endzeit-Prophezeiungen haben einen moralischen Sinn: die Besserung des Menschen und seine Vorbereitung auf Gottes Ankunft. So argumentieren Arnald, Johannes Quidort und bereits Augustinus (433, 439). Für Johannes ist die prophetische Erkenntnis des Weltendes ein fortschreitender, sich verdeutlichender Prozeß (426 f.). Auf diesem Weg der Erkenntnis führt die Prophetie, nicht aber Berechnungen aus der Konstellation der Sterne. Exakt durchgeführt erweisen sie sogar die Unsicherheit einer astrologischen Errechnung des Weltendes (422 f.).

Der Antichrist: Wer ist das? Johannes Quidort antwortet auf diese Frage ausführlicher als Arnald und mit einer kritischen theologischen Rationalität. Man spürt eine kühle Zurückhaltung gegenüber allzu hitzigen Hypothesen, wenn er seine Ausführung mit dem Schriftzitat beginnt: "Laßt euch nicht so leicht aus der Fassung bringen und in Schrecken versetzen...", 2Thess 2,2-4 (279). Diese Schriftstelle ist auch Ausgangspunkt seiner Antwort, in der er zwischen mehreren Möglichkeiten unterscheidet und schließlich entscheidet. G. zeig dies in ausführlicher und subtiler Weise. Ich greife die entscheidenden Punkte heraus.

Die Deutungsversuche zur Gestalt des Antichrist sind meist von dem genannten Zitat aus dem zweiten Thessalonicherbrief ausgegangen: "Homo peccati et filius perditionis" (279). Für Johann Quidort ist der Antichrist einfach ein Mensch (300 f.). Daß er aus dem Raum der Kirche selbst kommt (Augustinus), ist eine Deutung, der sich Johannes nicht anschließt (280). Er ist auf jeden Fall eine Person und nicht als Personifizierung einer Körperschaft zu verstehen (282). Sein Wirken ist auch nicht als eine nahtlose, ungebrochene Verlängerung des diabolischen Handelns zu deuten; dann wäre die Willensfreiheit, mit der sich der "homo peccati" dem Widersacher Gottes verschreibt, aufgehoben (289 ff.). Seit der Patristik war die Frage nach dem Verhältnis von Antichrist und Diabolus unerledigt, ein Umstand, der in der Volksfrömmigkeit zu Unsicherheit, Verwirrung und wucherndem Aberglauben führte (289-291). In diese Fragen Klarheit zu bringen, fühlte sich Johannes als Theologe gefordert. G. stellt die Klarstellung dieses Pariser Theologen mit Akribie dar. Dazu gehören auch dessen Ausführungen zu der Stellung das Antichrist in einer gewissen Parallele zu Christus, eine Auslegung, die Johannes ablehnt (299). Über das Wesen des Antichrist äußert sich Johannes als Theologe viel ausführlicher und nüchterner als Arnald. Für diesen ist der Antichrist eine "ins diabolisch Numinose reichende ÜbergrößeŠ dagegen stellt Quidort deutlich genug fest, daß der Antichrist nicht der Leibhaftige, nicht der diabolus incarnatus, sondern nichts weiter als ein Mensch ist, der sich entschieden hat, gegen Gott aufzutreten, und dabei vortäuscht, selbst Gott oder zumindest vicarius dei zu sein" (325 f.).

Man muß schon sagen, daß die Theologen, die mit Arnald über den Antichrist disputieren, dies mit kühler Gelassenheit und theologischer Verantwortung tun. Arnalds Motiv, durch die Ankündigung des Antichrist die Christenheit seiner Zeit zur Buße und Umkehr zu rufen, wird wohl anerkannt, am meisten von Johannes Quidort. Doch die so sichere Ankündigung des Herannahens des Antichrist wird selbst von Quidort mit Zurückhaltung registriert. Im Schluß (,Summa´) seines Werkes (637-650) stellt uns G. diese Theologen noch einmal in prägnanten Bildern vor, die er im Laufe seiner Studie sehr genau behandelt hat. Man liest diesen Überblick mit großem Gewinn, ich möchte sagen: wie eine Einleitung. Ich greife das Wichtigste davon heraus:

Johannes Quidort wendet sich vor allem gegen Arnalds Berechnung des genauen Zeitpunktes für das Auftreten des Antichrist. Er charakterisiert Arnalds These als "warnende und mahnende Prognose", die aber als "vorläufige, weil stets revisionsbedürftige und äußerst unsichere Mutmaßung" gesehen werden müsse (641). Voraussagen über geschichtliche Ereignisse unterliegen wegen ihrer Kontingenz der Unsicherheit, es sei denn, der Voraussagende tritt in der Rolle eines inspirierten Propheten auf, die jedoch alle an der Diskussion über die Antichrist-These Arnalds Beteiligten diesem abstreiten. Ihre Argumentationsweise ist kühl erkenntniskritisch und geht an der heilsgeschichtlichen Sicht Arnalds vorbei (642). Daß auch politische und kirchenpolitische Motive in diesem Teil der Diskussion im Hintergrund stehen, wird von G. nicht übergangen (642 f.).

Noch schärfer argumentiert Petrus von Auvergne gegen Arnald. Seine Instrumente bei der Analyse des Antichrist-Konzeptes Arnalds sind sowohl eine "kühl nüchterne(r), logisch-syllogistische(r) Begrifflichkeit", wie eine "souveräne Kenntnis der kirchlichen Auslegetradition". Seine geschickte, an den Prinzipien theologischer Methodik orientierte Argumentation drängt seinen Gegner aus dem Ring der Rechtgläubigkeit. Petrus analysiert den Error-Begriff, "daß ,Irrtum´ auch dann vorliege, wenn jemand, was... kein gesichertes Wissen sei, als ,sicher richtig´ qualifiziere"( 643). Arnald hat diesen Hinweis sehr wohl verstanden und durch vorsichtige Formulierungen im zweiten Teil seines Antichristtraktates und in seiner späteren Schrift ,De mysterio cymbalorum´ durch abgemilderte Erklärungen über die Zeit des Antichrist berücksichtigt (643).

Mit bibeltheologischen Beweisgründen richten sich Nikolaus von Lyra, "der berühmte Exeget", und Guido von Terrena gegen Arnald Endzeitberechnungen (644 f.). Beide bringen u.a. ein gleiches Argument vor. Der Befund der Heiligen Schrift gestattet bestenfalls Vermutungen über die Zeit des Antichrist und des Weltendes, eher noch ein Nichtwissen darüber. Wer solche als sicheres Wissen angebe, "mißachte den exegetischen Befund, verstoße gegen die katholische Wahrheit und gefährde die orthodoxe Glaubenstradition". Guido von Terrena fügt noch die Warnung hinzu, daß Thesen wie die des Arnald von Villanova die Gläubigen zu einer falschen Sorglosigkeit verleiten; nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern jederzeit müsse man für die Wiederkehr Christi bereit sein (645).

Der Beweisgang dieser Theologen verkennt das eigentliche Anliegen Arnalds, dem es nicht um eine begrifflich theologische Disputation ging, die er zwar auslöste, sondern um einen Mahnruf zu Umkehr und Buße. Dies gilt in besonderer Weise von Heinrich von Harcley, der sich sowohl gegen Arnald wie gegen Johannes Quidort wandte. Er stützt seine These vom Nichtwissen der Zeit des Antichrist auf die gleichen Autoritäten wie Arnald und Quidort (Augustinus, Hieronymus, Pseudo-Methodius und Petrus Comestor), geht aber in deren Auslegung theologisch einen völlig konträren Weg. Dabei scheint er Arnald gar nicht als Gesprächspartner ernstzunehmen, sondern zu disqualifizieren. Er unterstellt dessen Argumentation, dem Wirken des Antichrist zu dienen und nicht dem Heil der Gläubigen. Mit Johannes von Paris geht er zurückhaltender um. Seine Quaestio setzt jedenfalls den Schlußpunkt unter die ganze Diskussion.

Diese starke theologisch-kritische Qualität ist ein hervorragendes Zeugnis für den sachlichen Umgang dieser scholastischen Magister mit einem brisanten Thema ihrer Zeit. G. hat den komplexen Vorgang mit Sachkenntnis dargestellt und nach allen Seiten hin erörtert. Eine solche Arbeit gibt das moralische Recht zu einem Urteil, das Perspektiven in die Gegenwart zieht für die Aufgaben der Glaubensverwirklichung und der theologischen Reflexion darüber (648-650). Die geschichtliche Darstellung zeigt den sicheren Instinkt des Verfassers für jenes Phänomen eschatologischer Erwartungen, das die Menschen zur Wende vom 13. zum 14. Jh. bewegte. Der zeitgeschichtliche Rahmen und Vorlauf kommen dabei lebendig zur Sprache.

Das Werk G.s hat einen hervorragendenPlatz in der renommierten Reihe der Baeumker-Beiträge. Der Verlag Aschendorff, Münster, sorgte in bekannter Weise für die gediegene Herstellung des Bandes

Fussnoten:

(1) Gerwing, Manfred: Malogranatum oder der dreifache Weg zur Vollkommenheit. München 1986. Meine Rezension: ThLZ 112, 1987, 900-905.
(2) Vgl. Jan Pinborg: Logik und Semantik im Mittelalter. Stuttgart-Bad Cannstadt 1972,11f: "Im Anschluß an die Traditionen der spätantiken Schule geschah die philosophische Arbeit vor allem als Textanalyse." Dies gilt analog für die theologische Arbeit, deren wichtigstes ,Material´ die Aussagen der Heiligen Schrift und der Väter waren.