Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1300–1302

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ta’labi, Abu Ishaq Ahmad b. Muhammad b. Ibrahim at-

Titel/Untertitel:

Quisas al-anbiya’ oder Ara’is al-magalis. Erzählungen von den Propheten und Gottesmännern. Kommentiert u. übers. v. H. Busse.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2006. XIII, 593 S. gr.8° = Diskurse der Arabistik, 9. Geb. EUR 148,00. ISBN 978-3-447-05266-5.

Rezensent:

Martin Bauschke

So wie die drei monotheistischen Religionen historisch aus einander hervorgegangen sind, bilden auch ihre kanonischen und außerkanonischen Erzähltraditionen einen engen Zusammenhang. Wie das Christentum auf die Erzählungen der Hebräischen Bibel (des sog. »Alten Testaments«) zurückgegriffen hat, so auch der Koran. Sure 12 etwa erzählt die »schönste Geschichte« (al-ahsan al-qasas) – die von Josef (Yussuf), dem Enkel Abrahams. Eine Erzählung über Mose (Musa) gibt der Sure 28 den Titel »die Geschichte« (al-qasas). Allerdings werden im Koran die Geschichten über die jüdischen Gestalten wie dann auch über Jesus in den neutestamentlichen Evangelien vergleichsweise knapp erzählt, teilweise auch nur kurz angedeutet, da sie damals zu Zeiten Muhammads als allgemein bekannt vorausgesetzt wurden. Auch werden diese Geschichten nicht zusammenhängend erzählt wie in der Bibel, sondern sind in ungeordneter Folge über den gesamten Koran verstreut.
So hat sich später in der nachkoranischen Überlieferung das Bedürfnis entwickelt, die Aussagen des Korans zu ordnen und zu systematisieren, zu ergänzen und auszuschmücken sowie mit dem kanonischen und außerkanonischen Erzählgut der Juden und Christen in einen gewissen Einklang zu bringen – nach Maßgabe des Korans, doch vielfach auch weit über das im Koran Gesagte hinausgehend. Diesem Interesse dienen in einander ergänzender und teilweise überschneidender Weise gleich mehrere Literaturgattungen, bei deren Entwicklung auch jüdische und christliche Konvertiten zum Islam beteiligt waren: die Sammlungen mit Aussprüchen und Taten Muhammads (Hadith), die Kommentare zum Koran (tafsir) sowie die Erzählungen über die Propheten (qisas al-anbiya’). Letztere Literaturform war über die Jahrhunderte und ist bis heute die volkstümlichste auf Grund ihres legendenhaften, anschaulichen Stils. Zudem wurden diese »Volksbücher«, wie in einer Studie von Rachel Milstein, dokumentiert (1998), auch gerne illustriert, was ihre Erbaulichkeit noch steigerte. Sie ähneln damit in Charakter, Form und Funktion den illustrierten Volksbibelausgaben hierzulande.
Die Erzählstoffe der Prophetengeschichten sind nicht nur an­schaulich und unterhaltsam, erziehend und be­lehrend; sie sind zugleich Ausdruck und Medium einer volkstümlichen Heiligenverehrung. Zu den bekanntesten, quasi klassisch gewordenen Ausgaben der Prophetenlegenden zählen die von Ibn Kathir, al-Kisa’i und at-Talabi. Letzterer – der älteste von den dreien (gest. 1035 n. Chr.) – lebte und wirkte in Nischapur in Ostiran, einer wichtigen Handelsstadt, die ein blühendes Kulturzentrum im Mittelalter sowie Treffpunkt der Religionen und vieler ethnischer Gruppen war.
Nachdem zuletzt Anna Maria Schwemers Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden – gleichsam das jüdische Pendant (Vitae Prophetarum, 1995/96) – erschienen sind und sodann die englische Übersetzung von at-Talabis islamischen Prophetengeschichten 2002 durch William M. Brinner, ist es nun das Verdienst von Heribert Busse, emeritierter Professor in Kiel, in seinem 80. Lebensjahr die erste deutsche Gesamtausgabe von at-Talabis Prophetengeschichten vorgelegt zu haben. Für diese sorgsame Fleiß­arbeit gebührt dem Übersetzer großer Dank.
Der Zusatz im deutschen Titel »und Gottesmännern« ist freilich irreführend, weil damit suggeriert wird, dass die Legenden ausschließlich von Männern handeln. Nein, diese Erzählungen handeln auch von den Frauen und Müttern der Propheten: von Eva über Sara und Hagar bis hin zu Bathseba, der Mutter Salomos, und Bilqis, der Königin von Saba, und schließlich Maria (Maryam), der sündlosen Mutter Jesu. Ein Titel wie »Islamische Erzählungen von Propheten und anderen gottesfürchtigen Menschen« käme dem wahren Sachverhalt und Inhalt der Qisas al-anbiya’ näher.
Das gewaltige, fast 600 Seiten umfassende Unternehmen kann sich sehen lassen. Auf eine kurze Einleitung Busses und das Vorwort at-Talabis folgt in zwölf unterschiedlich langen Kapiteln der Legendenstoff in mehr oder weniger biblisch-chronologischer Ab­folge, versehen mit Zitaten aus dem Koran und den Hadith-Sammlungen. Oft werden unterschiedliche Versionen, Meinungen und Angaben der Gelehrten nebeneinandergestellt, kommentiert, be­wertet. Wie in den Korankommentaren ist dann oft am Ende zu lesen: »Gott weiß es am besten.« Der Legendenreigen beginnt mit der Schöpfungsgeschichte, zu der bezeichnenderweise auch die Erschaffung Muhammads als präexistentes Wesen und Quelle aller Prophetie gehört (was so nirgends im Koran steht). Darauf folgen Adam (der erste Prophet) und Eva. Deren Bestrafung durch Gott (wovon im Koran nichts steht) wirkt wie eine programmatische, quasi deterministische Benachteiligung und Diskriminierung der »Töchter Evas«. Denn sie haben einen »Mangel an Religion«, einen »Mangel an Verstand«, sind nicht zur Prophetie fähig (sind das etwa die Männer oder ist nicht vielmehr die Prophetie eine Gabe Gottes?) und: »man kann mit ihnen keine Freundschaft schließen« (44 f.) – Vorurteile auf Seiten der Männer, die bis auf den heutigen Tag in der islamischen Welt anzutreffen sind.
Der Urgeschichte folgen die Geschichten um Noah und die Sintflut, die Abraham-Geschichten sowie Josef und seine Brüder. Ihnen schließen sich die Erzählungen um Mose und Aaron an sowie dann vor allem die ersten Könige Israels: Saul, David und Salomo. Da der Koran die sog. Schriftpropheten nicht kennt, bleiben diese – bis auf Hiob und Jona – auch in der Legendentradition unberücksichtigt. Der letzte große Prophet, der eine Rolle spielt, ist schließlich Jesus. Anders als im Koran, demzufolge Jesus eines natürlichen Todes starb und dann – wie jeder gläubig Gestorbene – in die Hände seines Schöpfers zurückkehrte, meint die legendenhafte Volkstradition, Jesus sei lebendig in den Himmel erhöht worden (eine Art Himmelfahrt diesseits des Todes), um dann am Ende der Zeiten zurückzukehren, die Kreuze zu vernichten, die Schweine zu töten, allen Unglauben sowie den Antichristen zu vernichten – Legenden, die so auch in den Aussprüchen von Muhammad sowie in den Korankommentaren auftauchen, aber im Koran nicht den geringsten Anhalt besitzen. Auch in der jüdischen und christlichen Tradition unbekannte Gestalten sind Teil der islamischen Legenden­tradition, etwa Idris, Hud, Chidr, Luqman und Du-l-Qarnain. Auch die sog. »Siebenschläfer-Legende« oder Episoden des christlichen Märtyrers Georg werden erzählt – ein Indiz dafür, dass die Heiligenverehrung keine Religionsgrenzen anerkennt.
Busses Verdienst besteht nicht allein in der Übersetzung des Textes, sondern auch darin, diesen in Anmerkungen teilweise zu kommentieren sowie die Namen der Tradenten nach Möglichkeit zu verifizieren (was Brinner nicht tut). Der Band wird beschlossen mit einer Bibliographie sowie mit diversen Indizes zu Personen, Gruppen, Orten und Koranstellen, was dankenswerterweise den gezielten Gebrauch der Ausgabe als Nachschlagewerk mit direkter Suche nach einzelnen Figuren ermöglicht.
»Die Menschen leben in dem fort, was über sie erzählt wird«, schreibt at-Talabi im Vorwort seines Werkes (3). Dass die hier aus traditionell islamischer Sicht beschriebenen gottesfürchtigen Män­ner und Frauen auch im deutschen Sprachraum fortleben mö­gen, dazu hat Heribert Busse beigetragen. Gerade auch im Ge­spräch mit Muslimen ist diese Ausgabe hilfreich. Denn wer verstehen will, was Muslime über Jesus, über Mose und Abraham glauben und wissen, der gewinnt über dieses Buch einen Zugang, zumal im Kontakt mit einfachen Muslimen. Die wissen über die Propheten oft eher das, was die Legenden sagen, nicht unbedingt das, was der Koran selbst sagt.