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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1298–1300

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wege mystischer Gotteserfahrung. Ju­dentum, Christentum und Islam. Mystical Approaches to God. Judaism, Christianity, and Islam.

Verlag:

München: Oldenbourg 2006. IX, 164 S. gr.8° = Schriften des Historischen Kollegs, 65. Geb. EUR 29,80. 978-3-486-58006-8.

Rezensent:

Susanne Talabardon

Dieser Band ist für Religionswissenschaftler ein Glücksfall, da er Beiträge namhafter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu einem ebenso viel diskutierten wie wenig beherrschten Gebiet der Forschung aus der Perspektive dreier Religionen bietet. Das von Peter Schäfer edierte Buch geht auf ein Kolloquium des Historischen Kollegs München zurück, das im Juli 2003 organisiert werden konnte.
Ausgangs- und Angelpunkt des Unternehmens bildete die These von Gershom Scholem vom ausnehmend jüdischen Charakter der jüdischen Mystik. Die überragende Bedeutung Scholems für die Judaistik zeigt sich einmal mehr darin, dass ganze Generationen von Wissenschaftlern damit beschäftigt sind, die Darstellungen des großen Gelehrten kritisch zu überprüfen. So auch in diesem Fall: »What is still surprising, however, is the fact that even the most ardent critics of Scholem follow him in his emphasis on the Jewishness of Jewish mysticism.« (Schäfer, VII) Überraschend er­scheint dies vor allem deshalb, weil es bisher keine umfassende Arbeit gibt, welche die jüdische Mystik zu ihren christlichen und muslimischen Geschwistern in Beziehung bringt.
Umso verdienstvoller das ist vorliegende Werk, das erste Schritte auf diesem Wege unternimmt. Die ersten drei Beiträge (R. Elior, The Foundations of Early Jewish Mysticism: The lost Calendar and the Transformed Heavenly Chariot, 1–18; M. Himmelfarb, Merkavah Mysticism since Scholem: Rachel Elior’s The Three Temples, 19–36; P. Schäfer, Communion with the Angels: Qumran and the Origins of Jewish Mysticism, 37–66) widmen sich der Frühgeschichte der jüdischen Mystik, einem Forschungsfeld, dass von Scholem nur ohne vollständige Kenntnis der Bibliothek von Qumran bearbeitet werden konnte (Elior, 2). G. Stroumsa (To See or not to See: On the Early History of the Visio Beatifica, 67–80) und W. Beierwaltes (Plotins philosophische Mystik und ihre Bedeutung für das Chris­tentum, 81–95) bieten in ihren Essays als ein zeitliches Pendant Ansätze zu einer Darstellung der frühchristlichen Mystik. Der an­schließende Blick auf die Anfänge islamischer Mystik im mau- rischen Andalusien (S. Stroumsa, Ibn Masarra and the Beginnings of Mys­tical Thought in al-Andalus, 97–112) führt bereits in das Mittelalter, was durch den Beitrag von P. Dinzelbacher (Zur Sozialgeschichte der christlichen Erlebnismystik im westlichen Mittelalter, 113–127) durch den christlichen Westen ergänzt wird. Der abschließende Essay von A. Haas (»›die durch wundersame Inseln geht …‹. Gott, der Ganz Andere in der christlichen Mystik«, 129–158) rundet den Trialog der Religionen durch eine systematische Reflexion christlich-mystischer Rede von Gott ab. Zwei Indizes (Begriffe und Personen, 159–164) vervollständigen das instruktiven Buch.
Der judaistische Teil des Sammelbandes nimmt die Leser mitten hinein in eine spannende Auseinandersetzung um die Wurzeln der jüdischen Mystik. Elior stellt in ihrem Aufsatz gängige Auffassungen von Wurzeln und Genese der jüdischen Mystik in Frage (vgl. auch ihr viel beachtetes Werk »The Three Temples. On the Emergence of Jewish Mysticism«, Oxford/Portland 2004). Sie sieht deren Anfänge (im Gegensatz zu Scholem) nicht erst in der rabbinischen Bewegung (2. Jh. CE), sondern ortet sie bereits in priesterlichen Traditionen der Zeit des Zweiten Tempels (2. Jh. BCE), als es zu heftigen Auseinandersetzungen um das Hohepriesteramt kam (4). In der Henochgestalt, dem Solarkalender und der Engelsliturgie sieht Elior wesentliche Brücken zwischen den Qumranschriften und der allgemein als mystisch angesehenen Hekhalotliteratur (14–15). Dem wird von Himmelfarb heftig widersprochen. Aus der Perspektive der Literatur des Zweiten Tempels (1Hen, Jub, Qumran) unterzieht sie einige der Thesen Eliors einer methodischen Kritik (24 f.29.31 f.). Tatsächlich kann man sich fragen, ob in der unscharfen Abgrenzung von Apokalyptik und Mystik, von harmonisierenden Datierungen und großzügigem Umgang mit dem Etikett priesterlich nicht ein künstliches Dämmerlicht geschaffen wird, in dem viele Katzen grau werden. Schäfer schließlich versteht es, durch seinen sorgfältig an Qumrantexten arbeitenden Beitrag die hitzige Debatte wieder an ihren Ausgangspunkt zurückzuführen. Nach gründlicher Analyse der insbesondere von Elior beigezogenen Schabbathymnen (4Q 400–407, 11Q 17) und anderer liturgischer Texte kommt er zu dem Schluss, dass eine Verbindung zwischen ihnen und der Hekhalot-Mystik kaum zu etablieren ist (57 f.). »It is pointless to try to establish a literary and historical connection between the songs and Hekhalot literature and to define ›mysticism‹ as the common denominator between the ›movements‹ behind both groups of texts.« (65)
G. Stroumsa versteht seinen Essay als eine erste Skizze für eine noch ausstehende komparatistische Erforschung der frühen christ­lichen Mystik (80). Besonders anregend dürfte es werden, seine Hypothese eines Zusammenhangs zwischen der Transformation des Christentums von einer anikonischen zu einer ikonischen Religion und einem tiefgreifenden Wandel der frühchristlichen Mystik zu erproben (68 f.). Beierwaltes führt in die »philosophische Mystik« Plotins ein (81–87), um dann dessen Einfluss auf christliche Mystiker, insbesondere Dionysius Areopagitas zu skizzieren (88–93).
In dem einzigen Beitrag zur islamischen Mystik erweist Sarah Stro­um­sa (m. E. nachvollziehbar) den Einfluss früher jüdischer Mys­tik auf ibn Masarra, einen der ersten andalusisch-islamischen Mystiker. Mit ihrem komparatistischen Ansatz beschreitet sie ebenso Neuland wie Dinzelbacher dies für den lateinischen Westen tut, wenn er nach religionssoziologischen Grundformen christlicher Mystik fragt. Eine sehr gelungene Abrundung des Buches bietet die systematische Reflexion Haas’, der die Erfahrung von Gottesferne und -nähe als eine Grundspannung der christlichen Mystik erweist – wofür man, z. B. bei Nachman von Brazlaw – durchaus auch jüdische Belege beifügen könnte.
In mancherlei Beziehung erschließen die Beiträge des Sammelbandes also wissenschaftliche Desiderate. Sie sind allemal anregend, sowohl auf Grund ihres internen Diskurses als auch wegen der vielfältigen Möglichkeiten für die Leserinnen und Leser weiter zu denken und zu forschen.