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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1297 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethos der Weltkulturen. Religion und Ethik. M. e. Vorwort v. H. Küng.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 400 S. gr.8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-525-57305-1.

Rezensent:

Martin Leiner

Das Ethos anderer Kulturen und Religionen ist noch sehr weit davon entfernt, in der Weise erforscht und zugänglich zu sein, wie es für Wissenschaft, Unterricht und überhaupt für das Leben in einer globalisierten Welt sinnvoll wäre. Neben Überblicken darüber, was die Religionen zu konkreten Themen wie Abtreibung oder Sozialpolitik sagen (so Klöcker/Tworuschka: Ethik der Weltreligionen), und einführenden Selbst- und Fremddarstellungen der ge­samten Ethik einer Religion fehlen vor allem Darstellungen des gelebten Ethos. Um dieses zugänglich zu machen, müssten nicht so sehr die schriftlichen Quellen, sondern das gelebte Leben, nicht so sehr die Religionen, sondern die einzelnen Kulturen betrachtet werden.
Dieser Band geht in diesem Sinne zwei wichtige Schritte weiter: Er behandelt neben dem Ethos einzelner Religionen auch das Ethos einzelner Kulturräume (Afrika, Lateinamerika, Japan) und er beginnt mit allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Kultur und Ethos. Dabei bezieht das Buch eine klare inhaltliche Position für Küngs Projekt Weltethos (12–14) und zugleich für eine evolutionistische Sicht der Moral. Alle aktuellen Formen des Ethos sind evolutionär bewährt. Sie stehen in Zukunft vor der Bewährungsprobe, ob sie Überleben und Lebensentfaltung dienen können oder nicht (15). Nur eine »Versöhnung der Religionen und Wertordnungen« (15) scheint ein Überleben der Menschheit zu ermöglichen. Für den Polylog der Kulturen, der zu dieser Versöhnung führen soll, möchte dieses Buch erste grundlegende Informationen liefern.
In gut lesbaren und informationsreichen Abschnitten gelingt es den Autoren, das Ethos zahlreicher Kulturen übersichtlich zu präsentieren. Bei der Auswahl mag man sich wundern, dass ein Beitrag von Karl Prenner die Werteordnung des Alten Orients und Ägyptens darstellt, während andererseits aktuelle Kulturen fehlen. Die vom orthodoxen Christentum geprägten Kulturen Osteuropas und Russlands sind dabei wohl die schmerzlichste Lücke, weil auch andere Darstellungen hier meistens Lücken aufzuweisen haben. Die Kapitel des Buches sind nicht immer von bekannten Spezialis­ten der jeweiligen Kultur verfasst. Dies hat jedenfalls den Vorteil, dass Allgemeinverständlichkeit immer erreicht wird und dass meis­tens ein relativ solider, etwas älterer Forschungsstand geboten wird. Modisch Neueres fehlt, aber auch wichtige neuere Forschung. Vergleicht man etwa Heike Michael-Murmanns Darstellung der indischen Kultur mit Axel Michaels’ Buch Der Hinduismus (München 1998), so fällt auf, dass nahezu alle Neuerungen, die Michaels für notwendig hält, in unserem Buch nicht aufgenommen sind. Auch neuere Datierungen in der chinesischen, der israelitischen und der persischen Religionsgeschichte sind nicht rezipiert, ebenso wenig wie historische und interpretatorische Diskussionen zu den zahlreichen zitierten Quellen. Von einigen Experten angemahnte Sprachregelungen wie, dass man nicht mehr von Hinay­anabuddhismus sprechen soll, weil die Rede vom »kleinen Fahrzeug« abwertende Züge enthält, sind ebenfall nicht in das Buch eingegangen. Überlagerungen und Vermischungen von Religionen sowie Säkularisierungseffekte werden schließlich nur in einzelnen Abschnitten am Rande erwähnt. Der Gegensatz zwischen fundamentalistischen und reformistischen Bewegungen in Judentum, Islam und Hinduismus kommt demgegenüber gut zum Ausdruck. Neben diesen Schwächen und einigen Formulierungen, an denen Spezialisten Anstoß nehmen müssen, hat das Buch eine Reihe von Stärken: Es ist eine Fundgrube für interessante Bücher über andere Kulturen. Gleichzeitig wurde dankenswerterweise vermieden, den Band mit Literaturverzeichnissen und überflüssigen An­merkungen zu füllen.
Besonders gelungen ist schließlich das Kapitel des Fribourger Kirchengeschichtlers Mariano Delgado (331–348). Lateinamerika ist für die Alte Welt viele Jahrhunderte hindurch neben Nordamerika das andere, Alternativen entwi­ckelnde Land der Zukunft und der Hoffnung gewesen. Delgado zeichnet dementsprechend die unterschiedlichen Utopien, die die Geschichte Lateinamerikas bestimmt haben, in ihrer zeitlichen Abfolge nach. Je nach den Hoffnungsträgern folgen in der Ge­schichte: Hispanisiserung/Lusitanisierung, Kreolisierung, An­di­nisierung/Indigenisierung und schließlich die Mestizisierung/Lateinamerikanisierung, die selbst Übergänge zu universalen Hoffnungen zeigen, wie sie zuletzt in der Befreiungs theologie zum Ausdruck gekommen sind. Der vorsichtige Titel: »Zum Ethos der lateinamerikanischen Kultur« macht deutlich, dass hier ein einzelner, erhellender Aspekt entwickelt wird, der zahlreiche Phänomene im Leben, Denken und Werten der Südamerikaner verständlich macht. Wegen dieses Artikels, wegen der zahlreichen Hinweise auf interessante Bücher, wegen zahlreicher kurzer, guter und informationsreicher Zusammenfassungen und wegen der auch für Nichtfachleute zugänglichen Darstellungsweise ist dieses Buch für jede Bibliothek ein Gewinn.