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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1295–1297

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dinzelbacher, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5: 1750–1900. Hrsg. v. M. Pammer.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2007. 631 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 108,00. ISBN 978-3-506-72024-5.

Rezensent:

Christoph Auffarth

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Dinzelbacher, Peter [Hrsg.]: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter. Hrsg. u. verfaßt v. P. Dinzelbacher. M. e. Beitrag v. D. Krochmalnik. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2000. 555 S. m. 53 Abb. u. 20 Farbtaf. gr.8°. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-506-72021-4.


Das von Peter Dinzelbacher herausgegebene Handbuch der Religionsgeschichte geht auf dessen Konzeption zurück. Eine Religionsgeschichte und nicht mehr nur eine Kirchengeschichte stellt ein Desiderat dar, indem Religion nicht mehr auf die im institutionellen Rahmen vorhandene Religion begrenzt bearbeitet wird. Gerade für die Moderne erscheint das als eine Notwendigkeit, aber auch für vormoderne Epochen erschließt sich so eine neue Perspektive. Könnte erschließen, muss man sagen. Denn was hier dargestellt wird, ist kaum mehr als eine Geschichte des christlichen Glaubens bzw. der Konfessionen, deren Gewinn besonders in der Aufnahme der Frömmigkeit gelebter Religion besteht. Der Gewinn liegt auch in den 73 Abbildungen, davon 20 in Farbe bzw. (Band 5) 87, davon 16 in Farbe (darunter aber – im naiven Vertrauen auf die Konstanz von Brauchtum – viele aus heutiger Zeit). Die Vorentscheidung liegt in der Aufnahme einer Methode, die in der Religionswissenschaft zuletzt von Friedrich Heiler im Auftaktband der Reihe »Religionen der Menschheit« gewählt wurde: der Religionsphänomenologie. Diese religionsphänomenologische Methode ist innerhalb des Faches wegen ihrer fundamentalen Schwächen aufgegeben als eine anti-moderne, unhistorische Me­thode (vgl. Axel Michaels; Fritz Stolz [Hrsg.]: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie? Bern 2001). Das Fach Religionswissenschaft be­arbeitet Religion jetzt als Teil der Kultur in kulturwissenschaftlicher Beschreibung, nicht mehr als einen Gegenstand sui generis, der nur mit einer vorgängigen Zustimmung (»religiöses Erlebnis«) und einer eigenen Begrifflichkeit behandelt werden kann.
Band 2 ist vom Herausgeber selbst verfasst, abgesehen von einem Ab­schnitt über das Judentum von Daniel Krochmalnik (376–396). Und doch ist es weniger eine Monographie denn ein Handbuch, das durch die Fülle der mitgeteilten Fakten (erschlossen durch um­fangreiche Indizes) weit mehr bietet als die gängigen Kirchengeschichten. Auf einen historischen Teil (25–90) folgt ein phänomenologischer Teil, mit den typischen Ebenen phänomenolo­gischer Herangehensweise: Medien der Glaubensvermittlung, Vorstellungswelt, Heiligung des irdischen Raumes, Heiligung der Zeit, Heiliges Handeln, Heiliges Wort und Heiligkeit des Menschen. So ergibt sich als Fazit und Voraussetzung die »archaische« Heiligkeit des Mittelalters, allenfalls mit »Anfänge[n] der Desakralisierung« (44–47). So wird die Fülle der klugen Beobachtungen, der mentalitätsgeschichtlichen Einordnung, der Bezüge untereinander, der meisterhaften Kenntnis der Forschung in ein Prokrustesbett ge­zwängt, das etwa »Zeit der Kirche, Zeit der Händler« (Le Goff) nicht thematisieren kann. Man wird den Band trotzdem mit viel Gewinn immer wieder vergleichend benutzen.
Für Band 5 ist zunächst verblüffend, dass er keinen Titel trägt, sondern nur Jahreszahlen: 1750–1900. Ein »Zeitraum, der in religionsgeschichtlicher Hinsicht keine Einheit darstellt: Aufklärung, Romantik, Restauration und Rekonfessionalisierung, Säkularisierung, konfessionelle Verfestigung und Entkirchlichung liefen in dieser Zeit hintereinander oder nebeneinander ab« (11). Warum ist als Epoche nicht »das lange 19. Jahrhundert« gewählt, von der Französischen Revolution bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs? Oder Aufklärung, Romantik und Nationalstaat? Obwohl der Herausgeber keine spezifische Epoche der Religionsgeschichte er­kennt, zwingt die religionsphänomenologische Methode, jetzt die »Phänomene« für den ganzen Zeitraum zu beschreiben, statt die historischen Einschnitte je auch für die Segmente der Kultur gesondert behandeln zu können. Aufklärung, Barock und Absolutismus gehören zusammen; Bürgertum, Revolution und Bildung; Industrialisierung, Entstehung einer Arbeiterklasse, die die Kirche nicht als ihr Aufgabengebiet wahrnimmt, später über deren Atheismus entsetzt ist (Bezeichnend: Ludwig Feuerbach kommt in einer Religionsgeschichte des 19. Jh.s nicht vor!). Der preußisch-protestantisch-kleindeutsche Nationalstaat mit seiner Rekonfessionalisierung im ›Kulturkampf‹ ist ganz spannend verknüpft mit der päpstlichen Unfehlbarkeit und gewinnt durch die (diesen Band prägende) österreichische Perspektive. Dass die Juden trotz ihres kleinen Bevölkerungsanteils als scheinbare Modernisierungsgewinner in der Selbstwahrnehmung der Christen eine enorme Be­deutung besaßen, wie sie andererseits in dieser Zeit ihre Identität schufen durch »die Erfindung der Tradition« (Shulamit Volkov), findet man zufällig in einer Anmerkung, nicht aber in den drei Seiten zur »jüdischen Religionsgemeinschaft« (458–460).
Gegliedert ist der Band in die Teile über die soziale Basis, wobei »Milieus« (19–130) eigentlich nur für das Kaiserreich eine sinnvolle Kategorie bilden. Es folgen die »Medien der Glaubensvermittlung« (133–235) mit Liturgie, Literatur, Kunst und Musik. Hier blitzt in kurzen Bemerkungen auf, wie Kunst sich Autonomie einklagt und nicht nur eine Sakralisierung der Kunst, sondern eine eigene Form von Religion in Konkurrenz zu kirchlich-konfessioneller Gestalt repräsentiert. Die Provokation der Bühnenweihspiele von Richard Wagner ist gut charakterisiert (229–231), aber nur in musikalischer Hinsicht, nicht in religiöser.
Der dritte Teil behandelt die »Vorstellungswelt« (239–316) mit »Personen der Überwelt« (ein Abschnitt, der weit über das hinausgeht, was phänomenologisch vorgegeben war, damit aber sich in vielen Aussagen in Konkurrenz zu anderen Kapiteln setzt, s. das Eingeständnis des Herausgebers S. 15 f.; m. E. aber sehr anregend), »Welt, Geschichte, Endzeit«, »Jenseits«: In diesen beiden Abschnitten müssten die fundamentalen Umbrüche der »Sattelzeit« (Reinhart Ko­selleck) hin zu Historismus, Prä- und Postmillenarismus (»Fortschrittsglaube«; »Zukunft«), aber auch »Weltgericht und Welt­re­volution« (Lucian Hölscher) herausgestellt werden als radikale Infragestellung und Umbesetzung der Glaubenssätze von der Es­chatologie. – Es folgt das Kapitel Raum und Zeit (319–410), das aus­schließlich christliche Formen behandelt, nicht jüdische, ganz besonders aber fehlt ein Abschnitt über die National- bzw. Zivilreligion (knapp der Sedanstag, weil er protestantisch eingemeindet wurde: 94; wo der Sieg über Napoleon, wo die Wartburg? Immerhin: Das Wartburgfest wird behandelt: 79 f.). Der Kalender ist ausschließlich katholisch, der Tannenbaum (trotz der interessanten Bemerkung zum Protestantismus als »Tannenbaumreligion« [366]) kommt in einem anderen Kapitel. Es folgen »Ämter und Institutionen« (413–461). – Das kapitel zu »Menschen und ihr Handeln« (465–514) unterscheidet »heilige Handlung« (warum nicht unter Liturgie?) und schließt »Äußere und Innere Mission« (ganz unzureichend) ein, gegenüber »Religion und das Handeln in der Welt«. Der S. 506 genannte Einzelfall ist Prinzip der Säkularisation: Der Staat übernimmt das kirchliche Sondervermögen mit der Verpflichtung, deren Aufgaben weiterzuführen: Armenfürsorge, Krankenpflege, Bildung, Behindertenhäuser, auch gerne Gefängnisse. Auch das ein fundamentaler Vorgang der Religionsgeschichte des 19. Jh.s. Ganz gut ist das Kapitelchen zu »Religion und Sexualität«. Das Gretchen aus dem »Faust« wäre allerdings der viel bedeutendere Fall einer »Illegimititätsquote«, weil nach katholischem Verständnis sie verdammt ist, der Goethesche Theatergott aber das Urteil »erlöst« spricht, ein Satz, den jeder Schüler genauso auswendig lernte wie Sätze aus dem Katechismus. Diese andere Seite der Religionsgeschichte, die aus der christlichen Tradition hervorgewachsene, aber zunehmend in Konkurrenz tretende Religion, wie sie in Bildung und Kunst autonome Medien und Foren ausbildet – teils neben, teils gegen, teils christlich harmonisiert –, fehlt weitgehend in diesem Band. Die Pluralisierung der »Europäischen Religionsgeschichte« (Burkhard Gladigow; Metzler Lexikon Religion) kommt allenfalls verteidigend vor. Dennoch: Viele überraschende Beispiele, gute Belege, die Berücksichtigung österreichischer Fälle, die Frömmigkeitsgeschichte eröffnen neue Facetten, zu denen aber ein überzeugendes Konzept von Religionsgeschichte fehlt.