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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1291–1294

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Arweck, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Researching New Religious Movements. Responses and Redefinitions.

Verlag:

London-New York: Routledge 2006. X, 446 S. gr.8°. Kart. £ 20,99. ISBN 978-0-415-27755-6.

Rezensent:

Hisham Hapatsch

Wie reagierten in Großbritannien und Deutschland die Kirchen, die Wissenschaften und »Anti-Kult-Gruppen« auf das Auftreten der sog. »New Religious Movements«? Dieser Frage geht die in Großbritannien tätige Religionswissenschaftlerin Elisabeth Arweck nach.
Unter dem Begriff »New Religious Movements« werden Gruppen wie etwa die Zeugen Jehovas oder Scientology zusammengefasst, die erst in neuerer Zeit entstanden sind und deren Auftreten häufig mit Konflikten beladen war. Allein schon der Terminus »New Religious Movements« und seine genauere Definition sind umstritten. A. verwendet ihn aus pragmatischen Gründen, weil er in der angelsächsischen Welt am meisten verbreitet ist. Sie gibt in ihrer Untersuchung eine ausführliche Beschreibung, was an den New Religious Movements neu ist, ob es nun die Form ihrer synkretistischen Ausrichtung, ihrer abgestuften Mitgliedschaft oder ihres medialen Auftretens ist (34–41). Dabei vermeidet es A., alle Gruppen unterschiedslos als einheitlich zu charakterisieren. In Deutschland ist ursprünglich der Begriff »Jugendsekten« bzw. »Ju­gendreligionen« verbreiteter gewesen. Allerdings war er nicht ganz deckungsgleich mit dem Terminus New Religious Movements, da er eindeutig negativ und enger definiert worden ist.
Zunächst schildert A. die das Thema betreffende Forschungsentwicklung (9–29) und die damit verbundenen grundlegenden Forschungsprobleme (31–73). So thematisiert sie etwa die Frage nach dem Verhalten des Forschers gegenüber der zu erforschenden Gruppierung. Ist es legitim, an einer von dieser Gruppe gesponserten Konferenz teilzunehmen? Würde dies das Gebot der Objektivität verletzen?
A. stellt auch jene Strömungen und Institutionen vor, deren Interaktion das Buch behandeln wird: Neben den New Religious Movements und der akademischen Forschung ist es die Opposition, die sich gegen die New Religious Movements erhoben hat, insbesondere von Seiten der Eltern ihrer zeitweise recht jungen Anhängerschaft her. Diese organisierte sich im sog. »Anti-Cult-Movement« bzw. in Deutschland: in den Elterninitiativen. Als vierten Faktor untersucht A. die Kirchen.
In den folgenden Kapiteln entwirft das Buch ein faszinierendes Panorama eines komplizierten Handlungsgeflechtes zwischen diesen vier Strömungen sowie den Medien und dem Staat. Auch wenn letztere beiden Faktoren nicht den Schwerpunkt der Untersuchung bilden, erhält man einen lang vermissten Gesamtüberblick, mit welchen Schwierigkeiten und Fragen die genannten Institutionen in Deutschland und Großbritannien ringen mussten. A. berücksichtigt insbesondere die Interaktion der Wissenschaft zu außerakademischen Institutionen und Strömungen. So wird deutlich, wie sehr die Anti-Cult-Movements mit der Brainwashing-These operierten – nach der die Anhänger der »Jugendreligionen« einer Gehirnwäsche bzw. Psychomutation unterzogen worden seien – und welche Schwierigkeiten in ihrer Interaktion mit der Wissenschaft entstanden, als Sozialwissenschaftler Alternativen zu diesem Erklärungsmodell entwickelten. Das eher an sozialen Ka­tegorien orientierte Denken der Sozialwissenschaftler – die sich in Großbritannien vornehmlich mit den New Religious Movements befassten – traf auf das eher an psychologischen bzw. psychiatrischen Kategorien orientierte Denken der Anti-Cult-Movements. Für diese waren die New Religious Movements gefährliche Strömungen, die sich der Gehirnwäsche bedienten und die es nicht lediglich neutral oder mit versteckter Sympathie zu erforschen, sondern zu bekämpfen galt.
Zunächst folgt eine längere Darstellung des kulturellen Hintergrundes beider Länder, insbesondere der religiösen Kultur (75–110). In Großbritannien existiert schon länger eine pluralistische Gesellschaft. Die Church of England – obgleich Staatskirche – »has de facto little power« (88). Sie sieht sich in der Rolle einer Sprecherin aller Religionen in Großbritannien, die sie nicht gefährden will. In Deutschland dagegen besteht, so A., zwischen dem Staat und den etablierten Kirchen ein quasi symbiotisches, auf Konsens ausgerichtetes Verhältnis. Die Kirchen fühlen sich für das Allgemeinwohl mitverantwortlich. Diese Konstellation in den beiden Ländern hat – wie später deutlich wird – Folgen für das jeweilige Verhalten in Bezug auf die New Religious Movements bzw. die »Ju­gendsekten« (75–90).
Aber auch die »academic culture« ist in beiden Ländern unterschiedlich. In Großbritannien haben sich vornehmlich die Sozialwissenschaften mit den New Religious Movements beschäftigt, in Deutschland – in geringerem Maße – die Religionswissenschaft. Die Theologie wird in A.s Ausführungen zwar erwähnt, aber sie spielt – zumindest in diesem Zusammenhang – keine hervorge­hobene Rolle (90–104). Das ändert sich, wenn A. auf die Anti-­Cult-Movements und die Kirchen eingeht. Ausführlich wird die Ge­schichte der Anti-Cult-Movements in Großbritannien und Deutschland herausgearbeitet (111–190).
In Großbritannien wurde 1976 die Elternvereinigung FAIR ge­gründet, die sich zu einer bedeutenden pressure group entwickelt hat. Für Deutschland konzentriert sich A. auf das Wirken der 1975 gegründeten »Elterninitiative gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e. V.«, der eine Vielzahl ähnlicher Gründungen in Deutschland folgte. A. schildert ausführlich die bestimmende Rolle ihres Gründers Friedrich-Wilhelm Haack, der seit den 1960er Jahren Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der bayrischen Landeskirche war.
Der Elterninitiative gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e. V. und ihren Schwesterorganisationen in Deutschland ist es gelungen, in der kirchlichen Öffentlichkeit Einfluss zu erlangen. Ihre entscheidenden Protagonisten waren häufig Pfarrer, ihre Entstehung hatte demgemäß auch in seelsorgerlichen Begegnungen ihren Ursprung. In Großbritannien ist dagegen FAIR in ihrer Ausrichtung eher politischer bzw. sozialer Natur. Hinzu kommt, dass sich die Church of England das Anliegen von FAIR bzw. der Elterninitiativen in wesentlich geringerem Maße zu Eigen gemacht hat als die Kirchen in Deutschland.
Damit sind wir bereits bei einem weiteren Unterschied zwischen Großbritannien und Deutschland: der Reaktion der großen bzw. etablierten Kirchen. Das betreffende Kapitel ist das mit Ab­stand längste des Buches (203–371). Die Church of England (203–227) hat sehr spät und sehr zurückhaltend reagiert. Erst in den 1980er Jahren gab es u. a. Stellungnahmen zweier Bischöfe und 1989 einen Bericht an die Generalsynode. Die Reaktion der Evangelischen Kirche in Deutschland (227–293) stellt A. vornehmlich anhand der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen und Haacks Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen dar. Das Wirken der vielen anderen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Landeskirchen tritt dagegen in den Hintergrund. Bei der Darstellung der Evangelischen Zentralstelle schildert sie nicht nur Geschichte und Arbeitsgebiet dieser Institution, sondern auch den theoretischen Ansatz einiger (ehemaliger) Referenten der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, insbesondere aber ihres langjährigen, kürzlich verstorbenen ehemaligen Leiters Reinhart Hummel.
So wird das Bemühen dieser Institution deutlich, im Rahmen einer dialogischen Apologetik Innen- und Außenperspektive einer Ge­meinschaft zu unterscheiden und dabei trotz profilierten eigenen Standpunktes den Graben zwischen diesen Perspektiven nicht zu tief werden zu lassen. Gerade bei der Darstellung der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen zeigt sich allerdings, wie sehr der Schwerpunkt des Buches auf der Darstellung der Vorgänge bis etwa 1995/1998 liegt. Zeitgemäße Hinweise und Aktualisierungen finden sich zwar im gesamten Buch immer wieder. Aber wer z. B. die heutigen Referenten der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sind und was sie denken und wie die Geschichte dieser Institution weitergegangen ist: Darüber erfährt man recht wenig.
A.s Entscheidung, sich neben der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen auf das Wirken des bereits erwähnten Friedrich-Wilhelm Haack zu konzentrieren, ist sehr sinnvoll. So hat er nicht nur– wie bereits dargestellt – 1975 die Elterninitiative gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e. V. gegründet, sondern den in der Öffentlichkeit weitgehend übernommenen Terminus »Ju­gendsekten« bzw. »Jugendreligionen« geprägt. A. schildert ausführlich Haacks Vorstellungen und Definitionen. So hat er in Deutschland maßgebend die Brainwashing-These popularisiert. Seine Apologetik war weniger vom Konzept eines inneren Verstehens, sondern von einer Abwehr falscher und gefährlicher Lehren geprägt.
Die Reaktion der Katholischen Kirche in Deutschland und Großbritannien bis etwa 1994 beschreibt A. ebenfalls (294–356). Dabei geht sie auf verschiedene Verlautbarungen des Vatikans ein. Insgesamt sieht sie die Katholische Kirche noch in einem Reflexionsprozess, ob und wie ein Dialog mit den New Religious Movements zu führen ist. Insgesamt sind die vatikanischen Verlautbarungen diesbezüglich eher distanziert ausgefallen.
A.s Untersuchung ist vornehmlich textbasiert, sie lässt aber in ihre Darstellung auch eigene Feldstudien und Interviews einfließen. Das Buch ist auch für interessierte Laien geeignet. Es liest sich flüssig, ohne dass grundlegende Fragen, auch zur wissenschaftlichen Methodik und Ethik, zu kurz kommen. Ausführliche An­merkungen (leider am Ende der jeweiligen Kapitel und nicht als Fußnote) sowie ein Literaturverzeichnis und Register sind hilfreiche Ergänzungen. Angesichts der teilweise recht langen Kapitel wäre ein ausführlicheres Inhaltsverzeichnis nützlich gewesen.
Das Neue an ihrem Buch, so A. in ihrem Einleitungskapitel, seien drei Themen: ein Abriss der Entwicklung der Anti-Cult-Movements, ein Vergleich der Anti-Cult-Movements und der Kirchen in Deutschland und Großbritannien und die Berücksichtigung nicht-akademischer Standpunkte. A. hat nicht zu viel versprochen. Wer also mehr über jene Reaktionen erfahren will, welche die New Religious Movements in Deutschland und Großbritannien bis etwa 1995 ausgelöst haben, wird an diesem empfehlenswerten Buch nicht vorbeikommen. Schade, dass es keine deutsche Übersetzung gibt.