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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

947–949

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Bormann-Kranz, Diana

Titel/Untertitel:

Untersuchungen zu Nikolaus von Kues. De theologicis complementis

Verlag:

Stuttgart-Leipzig: Teubner 1994. 199 S. 8o = Beiträge zur Altertumskunde, 56. ISBN 3-519-07605-5

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die vorliegende Untersuchung ist 1993 von der Philosophischen Fakultät Köln als Dissertation angenommen; sie wird für den Druck überarbeitet. Angeregt wurde die Vfn. durch die Editorin von De theologicis complementis. Sie hat die Korrekturfahnen der inzwischen erschienenen Edition eingesehen.

Wohl trifft es zu, daß diese Schrift des Nikolaus von Kues (=NvK) bisher wenig Interesse fand. Als Anhang zu De mathematicis complementis in der Pariser Ausgabe 1514 erschienen, hielt man sie theologisch für unergiebig ­ zu Unrecht. Die Vfn. will nun "den Inhalt dieser Schrift erstmalig erschließen und in den Kontext der anderen Werke des Cusanus stellen". Dieses Ziel hat sie zweifellos erreicht. Nur fragt man sich, ob dies ausreichend ist.

Sie weist wohl darauf hin, daß "NvK zu seiner Zahlen- und Figurensymbolik durch seinen Lehrer Heymericus de Campo" angeregt wurde und daß "sehr starke EinflüsseŠ diesbezüglich Raimundus Lullus mit seiner ,Ars generalis´ auf NvK" ausübte, doch hätte man dies gern in der Untersuchung entfaltet gefunden. Davon kann nun leider keine Rede sein. Hinweise auf von NvK benutzte Autoren finden sich nur ganz spärlich (105, 141, 163 f., 167), obwohl der Index auctorum der Editoren von De theologicis complementis seitenweise ­ neben Sekundärliteratur ­ auf die Autoren verweist. Hätte die Vfn. diese Hinweise aufgegriffen und genutzt, hätte sie die cusanische Schrift besser einordnen und werten können. Das gilt auch für die Verwendung von Sekundärliteratur. Die Vfn. hat zwar recht damit, daß dieses Werk des Cusaners bisher wenig beachtet wurde, doch wenn sie es in sein Gesamtwerk einordnen will, dann ist die Angabe von 13 Titeln der Sekundärliteratur, die sie zudem ziemlich spärlich zitiert, doch reichlich mager.

So legt sie im Grunde eine Inhaltsangabe, eine Paraphrase der Schrift des NvK vor. Wörtliche Zitate werden nicht als solche ausgewiesen; die Anmerkungen, fast stets mit "vgl." eingeführt, lassen nicht erkennen, wo sie den Text des Cusaners wörtlich übersetzt und wo sie ihn paraphrasiert. Ebenso verhält es sich bei den Zitaten bzw. Hinweisen auf andere Schriften von NvK, die sie ­ erfreulicherweise ­ ausgiebig heranzieht. Dabei ergeben sich jedoch etliche unnötige Wiederholungen.

Einen wirklichen Fortschritt stellt die Untersuchung zu Kap. 12 Br. dar. Dieses Kapitel liegt in zwei Fassungen vor, worauf auch die Editoren hinweisen. Eine Handschrift (Codes Bruxellensis bibl. regiae 11, 479-484) enthält einen ganz eigenständigen Text dieses Kapitels, der "von großer Bedeutung (ist), weil sich von hier der Bezug zum mystischen Werk des Cusaners ,De visione dei´ herstellen läßt". Ein Hinweis in einem Brief vom 14.9.1453 läßt seine Absicht erkennbar werden, daß er "die Handhabung des sinnenfälligen Experimentes noch genauer" darstellen will. Das geschieht dann in De visione Dei. Was er in cap. 12 Br. also vorlegt, ist ein Schritt dahin. NvK legt dar, daß "der Aufstieg zur mystischen Theologie zugleich der Eintritt in die absolute Unbegrenztheit" darstellt. Im Unterschied jedoch zu der häufig von NvK gebrauchten Metapher vom Dunkel ist hier vom Licht vor allem die Rede: "Wie die Sonne die Ursache des Lichtes ist, so ist Gott die Ursache der Seienden." Auch das Bild vom allsehenden Auge, auf das NvK in De visione Dei so eindrücklich hinweist, findet sich bereits in cap. l2 Br. NvK weist hier auf ein Bild in Brixen hin; sonst wird auch auf ein Bild von Rogier van Weyden hingewiesen. "Der alles sehende Blick aus dem Bild führt den Menschen zu der Einsicht, daß Gott den Menschen nie verläßt." Es ist also Ausdruck für die Liebe Gottes (De vis. Dei 4, n. 11,5: "Domine, videre tuum est amare"), weniger für das Gericht Gottes. Diese Liebe Gottes bewirkt im Menschen die Liebe zu seinem Wesensgrund. Von hier aus wäre neu zu bedenken, was bei NvK "fides formata" bzw. "fides caritate formata" bedeutet; es ist im ganzen cusanischen Schrifttum weniger an "Werke" (als Werke der Nächstenliebe) zu denken, sondern an die Liebe zu dem den Menschen liebenden Gott.

In De theologicis complementis wird (wie in De docta ignorantia) Gott als "coincidentia oppositorum" bezeichnet, in De visione Dei aber ist Gott jenseits dieser Koinzidenz, was auch etwa seinen Aussagen in De coniecturis entspricht. Doch der Hinweis der Vfn. auf S. l59, Anm. 151 ("Movere igitur in deo coincidit cum quiescere.") erscheint mir nicht so eindeutig wie ihr (jetzt in h X/2a, 73 f.).

Neu für den Rez. war, daß NvK in De compl. theol., n. 11, 67 auch vom "intellectus agens" spricht, was er bisher überlesen hatte; der tätige Intellekt wird mit dem Feuer verglichen und ist für NvK im intellectus possibilis verborgen.

Insgesamt läßt sich aus der paraphrasierenden Untersuchung erneut entnehmen, daß für NvK die Mathematik "ancilla theologiae" ist. Wie nur wenige mittelalterliche Denker hat er versucht, mit ihrer Hilfe theologische Sachverhalte zu erläutern. Er verweist häufig auf die Parallelschrift De mathematicis complementis, "da die Mathematik... Grundlage für die theologische Erkenntnis bildet". Ein Beispiel: Der unbegrenzte Kreis stellt die Gleichheit des Seins dar; der Mensch stellt sich diese Gleichheit vor, wenn er den Kreis zeichnet. "Da die Gleichheit des Seins alle Formen einfaltet, hat der Mensch, wenn er mathematische Figuren aufzeichnet, die Vorstellung der unbegrenzten Gleichheit des Seins, da er sich einen unbegrenzten Kreis vorstellt." NvK setzt so die Kreisfigur in Bezug zum Schöpfer. Ähnlich wäre (so Kap. 10) auf die Zahl als Ausfaltung der Einheit, die in der Vielheit existiert, bzw. auf Gott als den "infiniten Winkel" (so Kap. 12), bei Kap. 13, in dem es darum geht, daß Maß und Gemessenes im Infiniten koinzidieren, ist auf Idiota de staticis experimentis hinzuweisen.