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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

943–945

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tolmie, D. F.

Titel/Untertitel:

Jesus´ Farewell to the Disciples. John 13:1–17:26 in Narratological Perspective

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. XII, 248 S. gr. 8o = Biblical Interpretation Series, 12. Lw. hfl. 120,­. ISBN 90-04-10270-1.

Rezensent:

Andreas Dettwiler

Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, mit Hilfe eines vielfältigen narratologischen Instrumentariums den Text Joh 13-17 besser zu verstehen und dadurch zugleich das ganze Potential des ,narrative criticism´ aufzuweisen. Der Vf. geht dabei in fünf großen Schritten vor:

Kap. 1 ("Introduction") setzt mit einem knappen forschungsgeschichtlichen Überblick zu Joh 13-17 ein, skizziert danach die wichtigsten Publikationen des ´narrative criticism´, insbesondere im Bereich der joh Forschung, und definiert anschließend den methodischen Einsatzpunkt und das Ziel der Studie: Der Vf. wählt zum einen einen streng synchronen Ansatz (obwohl die Evidenz redaktioneller Arbeit in Joh 13-17 nach seinen eigenen Worten "overwhelming" ist, 12) und will zum anderen durch eine narratologische Analyse insbesondere die Interaktion zwischen dem implizierten Autor (so die Übersetzung des englischen Begriffs des implied author) und dem implizierten Leser (implied reader) aufzeigen (13). Darauf begründet der Vf. die Wahl seines methodischen Ansatzes (13-28). Sie fällt auf das sehr integrativ angelegte Modell von S. Rimmon-Kenan, das seinerseits im wesentlichen auf dem narratologischen Konzept von G. Genette beruht. Die Grundunterscheidung Genettes zwischen Narration (narration/énonciation: narrativer Aussageakt), Geschichte (histoire: narratives Signifikat resp. narrativer Inhalt) und Erzählung (récit: narrativer Signifikant resp. narrativer Text) strukturiert dabei gleichzeitig die nachfolgenden Kap. zwei bis vier der Arbeit von T. (33-180).

Die vom Vf. in diesem Zusammenhang verwendeten weiteren narratologischen Kategorien sind weitgehend Genette entnommen, allerdings mit zwei wichtigen Ausnahmen: Zur Analyse der Ereignisse (events) im Bereich der Geschichte verwendet der Vf. einerseits Teilbereiche der semiotischen Theorie von Greimas und andererseits Aspekte der Sprechakttheorie. Zu notieren ist weiter, daß der Vf. gegenüber Genette an den Kategorien des ,implied author´ und des ´implied reader´ festhält (vgl. 15-21). Beide Konzepte sind, im Anschluß an Chatman, Staley u. a., als nicht-personale, streng textinterne Größen zu betrachten, die während des Lesevorgangs konstruiert werden, wobei die Differenz zwischen den beiden Konzepten darin besteht, daß der ´implied author´ ­ definiert als "the organising principle of the text, responsible for its total arrangement"(61) ­ alles zum voraus weiß, während der ´implied reader´ durch den streng linear verstandenen Lesevorgang begrenzt ist: er weiß jeweils nur das, was er eben gelesen hat. ­ Die Einleitung schließt mit einem thetischen Strukturvorschlag zu Joh 13,1-17,26, der sich mit demjenigen der klassischen Joh-Exegese weitgehend deckt.

Kap. 2 ("Narration in the Fourth Gospel") nimmt nun die erste zentrale narrative Ebene in den Blick, nämlich die Ebene der Narration resp. der »énonciation«. Das Kapitel ist nach den von Chatman vorgenommenen Unterscheidungen aufgebaut: zum einen dem realen Autor und dem realen Leser (34-39), zum anderen dem implizierten Autor und dem implizierten Leser (39-49) und zum dritten dem Erzähler (narrator) und dem narrativen Adressaten (narratee) (49-60). Hingewiesen sei hier nur auf ein Resultat der Studie: Der Vf. thematisiert unter dem Begriff des implizierten Autors im wesentlichen den Aspekt des ´plot´ des JohEv. Der ´plot´ besteht in der "revelation of the identity of Jesus, the Son of God; and mankind´s reaction to this revelation (positive/negative)" (42) und wird durch die drei Makrosequenzen des "setting" (Joh 1), der "complication" (Joh 2-17) und der "resolution" (Joh 18-21) entfaltet. Das Verhältnis des implizierten Autors zu seinem narrativem Gegenüber, dem implizierten Leser, ist dasjenige eines "process whereby the implied author guides the implied reader deeper into faith in Jesus Christ" (49), wobei dieser Prozeß "not always simple and straightforward" (ebd.) ist.

Kap. 3 ("Story level in John 13,1-17,26" thematisiert die zweite narrative Ebene, diejenige der erzählten Geschichte, und zwar unter den Kategorien der ´events´ und der ´characters´. Die erzählten ´events´ (65-117) werden nochmals gesondert analysiert unter den Aspekten der narrativen Tiefenstruktur ("deep structure") und der narrativen Oberflächenstruktur ("surface structure", wobei die statischen logischen Verhältnisse der Ereignisse mit Hilfe des semiotischen Vierecks von Greimas beschrieben, die Ereignisse auf der Textoberfläche dagegen unter Hinzunahme von Instrumenten der Sprechakttheorie identifiziert und klassifiziert werden. Die in Joh 13-17 erzählten ´characters´ (117-144) werden, einmal mehr, mit Hilfe von verschiedenen methodischen Ansätzen analysiert (von Greimas´ Aktantenanalyse bis zu Ewen´s Modell).

Kap. 4 ("John 13,1-17,26 as narrative text") ist der dritten von Genette vorgeschlagenen Analyseebene gewidmet, nämlich derjenigen des narrativen Texts, des »récit«. Theoretisch diskutiert und textlich erfaßt werden dabei die Aspekte der Zeit, der Charakterisierung (der im Text vorkommenden Personen) und der Fokalisierung (d. h. der Frage, aus welcher Perspektive eine Erzählung wiedergegeben wird). Erwähnt sei an dieser Stelle nur der Aspekt der Zeit: Der Vf. behandelt die temporale Struktur von Joh 13-17 nach den von Genette eingeführten Begriffen der Ordnung, der Dauer und der Frequenz. Alle drei Begriffe basieren auf der Grundunterscheidung zwischen der Zeit der Geschichte (story-time) und der Zeit der Erzählung (text-time). Bei der Analyse der Ordnung vermag der Vf. auf ein bisher bei Culpepper u. a. noch nicht wahrgenommenes Problem der Identifizierung der Anachronien (vgl. 151 f.) aufmerksam zu machen, auch wenn sein Lösungsvorschlag (neue Unterscheidung zwischen Anachronien "in the narrative and anachronies embedded within the story level", ebd.) m.E. problematisch ist.

Kap. 5 schließlich ("Conclusion") stellt eine zusammenfassende narratologische Analyse von Joh 13-17 unter dem Hauptaspekt der Interaktion zwischen dem implizierten Autor und dem implizierten Leser dar (insbesondere 190 ff.). Der Vf. skizziert diesen Prozeß der Leserlenkung anhand eines schrittweisen Durchgangs durch den gesamten Text Joh 13-17 (192-227) und hält abschließend fest, welches die gegenüber dem ersten Teil des JohEv wichtigste neue Dimension von Joh 13-17 darstellt: durch diesen Textabschnitt "the implied reader has been firmly guided towards a comprehensive understanding of discipleship in order to persuade him/her to act in accordance with the values associates with discipleship" (228) ­ Werte, welche, aufs kürzeste, folgendermaßen umschrieben werden können (228 f.): die radikale Differenz zwischen Jüngersein und Teil-der-Welt-Sein; die Wichtigkeit der Beziehung zu Jesus; die dem Jüngersein inhärenten Forderungen; schließlich: die Wahrnehmung sowohl der Schwierigkeiten des christlichen Seins in der Welt wie auch der ihm zugesprochenen überragenden Verheißungen.

Die Arbeit von T. gefällt durch ihren klaren und zielgerichteten Aufbau und durch ein insgesamt sorgfältiges methodisches Vorgehen. Die regelmäßigen Zusammenfassungen nach jeder Detailanalyse sind verdienstvoll, wenn auch manchmal fast zuviel des Guten. Grundsätzlich sehr positiv zu werten ist das Bemühen des Vf. um eine umsichtige Wahrnehmung der narrativen Organisation von Joh 13-17 im Gesamtkontext des JohEv mit dem Ziel, den vom Text vorgeschlagenen Leseprozeß methodisch kontrolliert nachzuzeichnen.

Kritische Rückfragen habe ich u. a. bei folgenden Punkten: (1) Da als ,Probierstein´ einer narratologisch akzentuierten Exegese ein Text (Joh 13-17) ausgewählt wurde, der zwar Teil eines narrativen Makrotextes ist, aber für sich genommen fast ausschließlich diskursiver Natur ist, mußte der Vf. notwendigerweise ein narratologisches Modell verwenden, das insbesondere auch diskursanalytische Instrumente enthält. Die Frage stellt sich hier, ob so unterschiedliche Ansätze wie die der Narratologie von Genette und der Semiotik von Greimas hinsichtlich ihres jeweiligen theoretischen Selbstverständnisses wie auch ihrer konkreten exegetischen Umsetzung ohne weiteres miteinander vereinbar sind. Beispielsweise. basiert nach Auffassung der semiotischen Theorie von Greimas die Analyse der logisch-semantischen Bedeutungsebene notwendig auf den vorausgehenden Analyseschritten der diskursiven und der narrativen Ebene und ist von diesen nicht zu trennen (vgl. aber T., 69 u. a.).

(2) Auf der exegetischen Ebene scheint mir in der Arbeit von T. insbesondere die die Textsequenz Joh 13-17 durch und durch prägende Reinterpretationsdynamik nur ungenügend berücksichtigt zu sein. Ich führe an dieser Stelle nur ein Beispiel an: Der Vf. sieht zwar innerhalb von Joh 14 den Rückbezug von V. 23 auf V. 2 f. (vgl. u. a. 208 f.), vermag diesen aber methodisch wie inhaltlich-theologisch zu wenig entschlossen umzusetzen. Gerade was die Denkbewegung von Joh 14 betrifft, meine ich, daß die semiotische Analyse mit ihrer Thematisierung insbesondere der diskursiven Bedeutungsebene hier einiges zu leisten imstande wäre.

(3) Insgesamt sind in der Arbeit von T. wichtige Aspekte wie etwa die joh Miß- bzw. Unverständnisse, das in Joh 14 und 16 prägnant herausgearbeitete joh Osterverständnis, die Parakletfigur und die die joh Abschiedsreden bestimmende christologische Abwesenheitsproblematik ­ um nur einige zu nennen ­ theologisch zu wenig intensiv reflektiert worden. Dem Rez. ist bewußt, daß ein betont theologischer Erkenntniswille formale Aspekte wie etwa den narrativen Organisationsmodus eines Textes nicht ungestraft wird übergehen können. Die Frage danach, was ein Text sagt, ist untrennbar verknüpft mit der Frage, wie ein Text das sagt, was er sagt. Aber auch T. würde gewiß mit meinem Urteil übereinstimmen, daß die Berücksichtigung des Formaspekts eines Textes nur im Dienst seiner intensiven inhaltlich-theologischen Durchdringung stehen sollte.