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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

937–940

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hübner, Hans

Titel/Untertitel:

Biblische Theologie des Neuen Testaments. 3: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung, Epilegomena

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 322 S. gr. 8o. Lw. DM 74,­. ISBN 3-525-53598-8

Rezensent:

Kurt Niederwimmer

Mit dem Erscheinen des dritten Bandes ist Hans Hübners großangelegte Biblische Theologie des Neuen Testaments abgeschlossen und nun als Ganzes überschaubar. Daß dieser Band die im Band II noch nicht behandelten Schriften darstellen und mit Epilegomena schließen würde, war dem Leser bekannt. Der Inhalt der Epilegomena ist dennoch überraschend ­ und zugleich von besonderer Bedeutung. Die Epilegomena formulieren, wie H. selbst (im Anschluß an eine Wendung bei Kierkegaard) sagt (5 ff.), sein "Schlußergebnis", über dessen geschichtlich-relativen, aber d. h. auch persönlich-existentiellen Charakter der Autor den Leser nicht im unklaren läßt. ­ Aber, sehen wir zu!

Das Buch setzt mit der Behandlung des Hebräerbriefes ein. Das für eine Biblische Theologie Entscheidende wird gleich am Anfang thematisiert: Das Alte Testament ist im Hebr "im Horizont griechischen Denkens" vermittelt (15, im Orig. kursiv), wobei der Hebräerbrief in der Art der Interpretation popularphilosophischer Motive eine besondere Nähe zur Sap.Sal. aufweist (15). Weiter: Bereits der Brief selbst entwickelt eine Biblische Theologie. Was der Exeget durchführt, ist demnach Theologie über Theologie, "Biblische Theologie einer biblischen Theologie" (17, im Orig. ausgezeichnet). Dazu kommt ein Drittes: Der Vf. des Hebr praktiziert die für H.s Ansatz entscheidende Differenz zwischen Vetus Testamentum per se und in Novo receptum nicht mehr nur de facto, sondern reflex und mit hermeneutischer Bestimmtheit (17).

Bereits die hier skizzierte Art, wie H. an die Darstellung herangeht, zeigt das für alle drei Bände charakteristische hermeneutische Problembewußtsein: Alles ruht auf der Reflexion über die hermeneutische Verfaßtheit der Texte und die hermeneutische Position dessen, der sie (hier und jetzt!) zu verstehen sucht, bzw. auf Reflexionen über die Relation beider Positionen zueinander.

Zunächst also die Theologie des Hebr. (15 ff.), wobei H. die Rede Gottes in den atl. Zitaten, die Kultlehre des Briefes, die Paränese thematisiert. Gottes Rede ist im Hebr. implizit trinitarisch (19 ff.). In der Deutung der Kultlehre vertritt H. eine vertraute Position. Er unterscheidet ­ in traditioneller Weise geredet ­ intentio mentis und modus dicendi voneinander, was bei ihm Sachverhalt bzw. Sprachgestalt heißt (53). In kultischer Sprache intendiert der Vf. des Hebr unkultische Motive. Ein Rückblick (61 ff.) vergleicht den Hebr mit der paulinischen Theologie. Bei aller Differenz bleibe doch eines gemeinsam: ein Ja zur Schrift, ein Nein zum Gesetz (obwohl dieses Nein zu einem teilweisen Ja changiert, 63).

Aber die Zentralfrage: Wie sind die "alexandrinischen" Denkvoraussetzungen des Hebr zu beurteilen? H. thematisiert diese Frage mehrfach. Das Entscheidende steht (wenn ich ihn richtig verstanden habe) 55 f. Es ist eine Apologie der platonisierenden Denkweise des Hebr, gewiß eine vorsichtig kritische, aber doch eine Apologie. H. gehört erfreulicherweise zu den Theologen, welche die Vermittlung ontologischer Implikationen des christlichen Bekenntnisses mit Hilfe philosophischer Motive (in diesem Fall popularphilosophisch-platonischer Motive) grundsätzlich gutheißen(1). Man möchte mit ihm darüber weiter diskutieren: Welche Konsequenzen hat das?

Es folgt (64 ff.) eine Darstellung der Theologie der synoptischen Evangelien. Gibt es überhaupt eine Theologie der Synoptiker, und wenn ja, in welchem Sinn? H. verwendet den (m. E. problematischen) Begriff der narrativen Theologie. Die synoptischen Evangelien sind nach H. jedenfalls deshalb theologische Schriften, weil sie "von einem energischen theologischen Gestaltungswillen aus entworfen sind" (64); und da alle drei Synoptiker durch ihre jeweilige Relation zum Alten Testament geprägt erscheinen, ist ihre Theologie wesentlich Biblische Theologie (65). Eine Theologie der Logienquelle entwirft H. nicht: Die Schrift kann "nur hypothetisch rekonstruiert werden" (ebd.) und existierte wahrscheinlich zudem in verschiedenen Rezensionen (66).

Mk (67 ff.) wird zunächst unter dem Formalobjekt der im Text verwendeten atl. Zitate dargestellt, dann unter der Thematik der Schrifterfüllung, der Konkretisierung in der Sequenz: Gesetz ­ Israel ­ die Völker. Auffallend ist die Behauptung, Mk sei "ein eminent hermeneutisches Evangelium" (80, im Orig. ausgezeichnet), ja "ein hermeneutisches Kunstwerk" (87, im Orig. ausgez.), wobei H. meint, daß sich die Hermeneutik des zweiten Evangeliums besonders mit der Intention der Hermeneutik im Rahmen der Existenzialphilosophie berührt (85). Mehrfach wird die intentionale Nähe zu Paulus betont (78.94).

Der Darstellung der matthäischen Theologie geht ein Abschnitt über die Problematik der Erfüllungszitate voraus (96 ff.). Das Matthäusevangelium ist für H. eine "editio secunda evangelii secundum Marcum", die am Messiasgeheimnis, wie es für Mk. bestimmend ist, nicht interessiert war (100). Wo aber liegt das theologische Interesse des Matthäus? Wenn ich H. richtig verstanden habe, dann liegt dieses Interesse in den Themen der Messianität, der Glaubensgemeinschaft und des Gesetzes. Die Aufgabe des Messias ist universal geworden, das Gleiche gilt für die Glaubensgemeinschaft (die Synagoge ist ausgeweitet zur Kirche), das Gesetz ist geblieben, freilich in modifizierter Form. Angewendet auf die Kategorien H.s heißt das: Neben der Kontinuität des Gesetzes steht die Diskontinuität im Bezug auf die Glaubensgemeinschaft (117).

Die Theologie des lukanischen Doppelwerkes wird 120 ff. analysiert. Die lukanischen Schriften stellen eine theologische Einheit dar (122 ff.), deren Mittelpunkt die Pneumatologie bildet (124 f.). Auch der Kirchenbegriff ist von der Pneumatologie her geprägt (128). Aber, wer ist Kirche? Wie ist das Verhältnis Israels zu den Völkern und damit das Verhältnis zur Gesetzesfrage (131 ff.)? Wegen der Heidenmission kennt Lk eine partielle Aufhebung der Tora (nämlich der Speisegebote), allerdings erst für die Zeit der Kirche (133). Für die Heidenchristen gilt auch die Beschneidung nicht, doch sollen die Jakobus-Klauseln zeigen, daß das Gesetz "im Prinzip festgehalten wird" (135). Israel, das Judenchristentum und schließlich das Heidenchristentum stehen in Kontinuität zueinander (136), doch so, daß zuletzt die Kirche an die Stelle Israels tritt (138). Nach einem Abschnitt über die Soteriologie (139 ff.) folgt als Ausklang eine Sequenz über Magnificat und Benedictus (144 ff.) und über die Stephanus-Rede (149 ff.), mit dem Urteil: Lk vertrete eine absolute Tempelkritik.

Und dann: das Johannes-Evangelium (152 ff.). Der Vf. schickt dem Ganzen zunächst ein Präludium über die Einleitungsfragen und die Art der atl. Zitate voraus (152 ff.) und setzt mit einer Reflexion über die hermeneutische Gestalt der johanneischen Theologie fort: Joh bietet das, was er offenbart, als Theologie und umgekehrt, seine Theologie als Offenbarung, wobei Theologie die Zielrichtung auf die fides als Entelechie in sich hat (156 f.). Es folgt dann der Durchgang durch das Evangelium unter besonderer Bezugnahme auf die atl. Zitate: Christologie in nuce (157 ff.), der alte und der neue Tempel (161 ff.), der Menschensohn (163 f.), Macht und Freiheit des Menschensohns (164 ff.), die Brotrede als biblische Hermeneutik (167 ff.), der Glaube an den Christus (172 ff.), Licht und Finsternis (180 ff.), der gute Hirte (183 ff.), Lazarus und Kaiphas (189 ff.), die Erfüllung der prophetischen Worte (190 ff.), "Es ist vollbracht" (197 ff.), schließlich der Weg zurück zum Anfang des Evangeliums: et incarnatus est (200 ff.).

Es sei erlaubt, einen einzigen Fragenkomplex aus dem Rahmen der Darstellung der johanneischen Theologie herauszugreifen: Ich denke an H.s Interpretation der incarnatorischen Aussagen des Evangeliums. Es ist wieder ein besonderes Gütezeichen für die Darstellung des Vf.s, daß er dabei sofort auf die damit verbundenen klassischen ontologischen Fragen stößt: Wie kann die Ewigkeit mit der Geschichtlichkeit der Incarnation zusammengedacht werden? Und: Führt das egeneto nicht notwendig dazu, Veränderung und damit auch Werden in den ewigen Logos hineinzutragen (170 f. 201 ff.)? H. antwortet: Die biblische Tradition kennt keine starre metaphysische Unveränderlichkeit Gottes(2). Der Gott der Schrift handelt, Handeln ist mit Werden verbunden und schließt die immutabilitas metaphysica aus. "Gott freilich handelt so, daß er, der Heilige, seinem heiligen Wesen treu bleibt" (201). Über die immutabilitas zu spekulieren hieße, die Transzendenz zu objektivieren (201 f.).

Damit ist nun freilich ein weitläufiges und grundsätzliches Thema angeschlagen, bei dem die ganze Problematik der (wie ich freilich meine: unvermeidlichen) interpretatio metaphysica zur Debatte steht.

Die Analyse der theologischen Entwürfe des Neuen Testaments wird mit einer Darstellung der Theologie der Apokalypse (206 ff.) beendet, in der wiederum der hermeneutische Abschnitt über die besondere Art einer Theologie der Bilder (!) besticht. H. hat damit das Programm der theologischen Analyse der neutestamentlichen Texte im Sinne einer Biblischen Theologie abgeschlossen. Er begnügt sich aber ­ als Theologe! ­ nicht damit, sondern sucht in breit angelegten Epilegomena nach einer begrifflichen Fassung des Fazits, nach dem "Schlußergebnis", nach der Synthesis, die den Gesamtsinn der neutestamentlichen Intentionen trägt (216 ff.). Diese Epilegomena sind unentbehrlich, sie bilden den krönenden Höhepunkt (und nicht nur den Schlußpunkt) des ganzen Werkes und die Sequenz der einzelnen Abschnitte (von der philosophischen Grundlegung zur Verkündigung und Person Jesu) läßt etwas von den fundamentaltheologischen Voraussetzungen des Vf.s ahnen.

Das Thema der Epilegomena ist der "Zeit-Raum der Gnade". Dieses Thema zieht sich in der Tat "wie ein roter Faden durch das gesamte dreibändige Werk" (216). Das ist ­ in knapper, begrifflicher Formulierung ­ das Fazit der Biblischen Theologie, wie H. sie sieht. Aber was bedeutet das ­ zunächst von den darin implizierten philosophischen Voraussetzungen her? In einem kurzen Durchgang durch wichtige Stationen der Philosophiegeschichte wird das Zeitproblem bei Platon, Aristoteles, Augustinus, Kant, Bergson, Heidegger erörtert(3). Die Erwägungen gehen auf ein doppeltes Ziel: die "Einheit des Zeit-Raums" (235: Zeit setzt Raum voraus) und die Auffassung von Zeit und Raum, oder besser: der "Zeit-Räumlichkeit" (236) als Existenzial.

Aber was bedeutet das nun für die Biblische Theologie? Mit der Tradition geredet: Wie vollendet, konkretisiert und korrigiert die Offenbarung die ontologischen Urteile? Seinem Ansatz treu bleibend muß H. zunächst den heilsamen Zeit-Raum der Gnade im Alten Testament aufweisen (237 ff.), dem ein entsprechender Abschnitt über das Neue Testament folgt (243 ff.)

Indessen ist noch ein letzter Schritt zu gehen. Die neutestamentliche Christologie hat ihr Fundament im incarnierten Logos. Was in der Darstellung folgt, ist demgemäß ein tractatus de Domine, in dem die klassischen Themen erörtert werden, die sich sonst etwa in Jesusbüchern finden (253ff.). Darauf zielt die Biblische Theologie! Oder noch genauer: Sie mündet in sehr vorsichtigen, aber in ihrer Tendenz eindeutigen Erwägungen zu besonders heiklen Themen der historischen Forschung: Eucharistie, Opfer, Selbstverständnis Jesu. Und dann noch einmal: das theologische Fazit mit Erwägungen über Unmittelbarkeit und Vermittlung, über das Verhältnis von Glaube ­ Bekenntnis ­ Theologie (275 ff.).

Da der Vf. selber das Fazit seines Werkes formuliert hat, bedarf es keiner diesbezüglichen mühsamen Abstraktion. Aber vielleicht darf man versuchen, sich selbst die charakteristischen Eigenarten des Werkes im Ganzen zu vergegenwärtigen.

(1) Wir finden mehrfach Überlegungen zum Wesen der Theologie, zu ihrer Relation zu Glaube, Kirche, Existenz. Theologie ist ein zweites, sie setzt ein erstes voraus (nämlich den Glauben), zu dem sie wieder zurückführt. Sie hat sich also (könnte man sagen) ständig auf den Glauben hin als auf ihr Ziel zu transzendieren (vgl. z.B. 187). Dabei ist Theologie immer nur als kirchliche Theologie denkbar (vgl. 30 f.187 255). Sie muß zugleich wesentlich durch den existentiellen Lebensakt gedeckt sein. Es gibt in der Theologie kein "objektives", sondern nur ein existentielles Urteilen.

(2) Aber was ist dann Biblische Theologie des Neuen Testaments? Die aus den beiden ersten Bänden bekannten Prinzipien treten jetzt, da das Werk abgeschlossen ist, noch einmal deutlich heraus: (a) Es geht darin um die Einsicht in die Geschichte des einen Gottes mit Israel und der Kirche; das Heil, das sich in der Geschichte öffnet, wird vermittelt durch das Existenzial des Zeit-Raums der Gnade; (b) Das Verhältnis, das dabei zu bestimmen ist, ist dialektischer Natur: Kontinuität in der Diskontinuität; das wird (c) konkretisiert durch die hermeneutische Unterscheidung zwischen Vetus Testamentum per se und Vetus Testamentum in Novo receptum.

(3) Das Ganze zielt letztlich in seiner Weise auf eine reductio in mysterium, nämlich auf Jesus, seine Verkündigung, sein Geschick, seine Person, sein Geheimnis.

(4) Die philosophisch-hermeneutischen Ausführungen sind kein Beiwerk, sondern unentbehrliches methodisches Fundament. D.h.: philosophische Begrifflichkeiten (in diesem Fall: vor allem der Existenzialontologie in der Schule Martin Heideggers, daneben vor allem Motive E. Cassirers) machen die Positivität der biblischen Überlieferung verständlich.(4) Die Bedeutung dieser drei Bände liegt m. E. nicht zuletzt auch darin, daß die philosophische Reflexion ständig präsent ist. Der Vf. deutet an, daß er vorhat, die hier nur angedeuteten Zusammenhänge ausführlich in einer Fundamentaltheologie zu erörtern. Daß die Darstellung der Biblischen Theologie zuletzt auf eine Fundamentaltheologie hinausdrängt, wirkt wie eine Bestätigung des eingeschlagenen Weges.

Indessen soll der Blick in die Zukunft nicht daran hindern, das hier vorliegende Abgeschlossene zu würdigen. H. hat ­ um es mit einem Satz zu sagen ­ ein Werk von herausragender Bedeutung geschaffen.

Fussnoten:

(1) Dabei wird selbstverständlich zwischen der ontologischen Differenz bei Platon und dem alexandrinischen Platonismus des Hebr., der Heilsordnungen voneinander trennt, unterschieden. Und ebenso wird mit Recht betont, daß die Differenz zwischen Urbild und Abbild im Hebr. größer ist als in der platonischen Ontologie (56). Natürlich: die Anwendung ontologischer Begriffe zur Interpretation biblischer Motive muß zu einer partiellen (und je und dann wesentlichen) Veränderung der Begriffsinhalte führen.
(2) Aber meint die Rede von der immutabilitas Dei eine "starre" Unveränderlichkeit? Meint sie nicht vielmehr die Fülle des Seins selbst in seiner ewigen (dynamischen!) Identität, die als ewige Ruhe zugleich der Ursprung aller geschöpflichen Bewegung ist?
(3) Der Zusammenhang erlaubt nur das Vorgehen nach dem Prinzip: multum, non multa. Es wäre unbillig, noch zusätzliche Auseinandersetzungen zu fordern, ­ oder darf man doch das Fehlen des Aquinaten monieren?
(4) Der Vf. zeigt sehr schön, daß (für uns!) ein wirkliches Verstehen der biblischen Texte ohne Analyse der darin implizierten ontologischen Strukturen nicht möglich ist (ob das vom Vf. ­ natürlich nicht willkürlich ­ gewählte philosophische Instrumentar das einzig mögliche ist, mag man diskutieren).