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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1270–1272

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Stein, Tine

Titel/Untertitel:

Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates.

Verlag:

Frankfurt a. M.-New York: Campus 2007. 372 S. 8°. Kart. EUR 32,90. ISBN 978-3-593-38338-5.

Rezensent:

Christian Polke

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung. Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XXIV, 764 S. gr.8° = Jus Publicum. Beiträge zum öffentlichen Recht, 90. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-147826-0.
Heinig, Hans Michael, u. Christian Walter [Hrsg.]: Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit. Tübingen: Mohr Siebeck 2007. IX, 367 S. gr.8°. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149136-8.


Drei neuere Veröffentlichungen sind hier auf knappsten Raum an­zuzeigen, die sich mit einem ebenso großen wie aktuellen Thema beschäftigen: dem Verhältnis von Religion und Recht. Aus theo­­logischer Perspektive erhalten die Publikationen ihren Charme durch die juristischen, philosophischen und politikwissenschaftlichen Außenperspektiven, die sie gegenüber dem öffentlichen Faktor Religion einnehmen. Insofern darf schon vorweg dafür ge­worben werden, jeden dieser Versuche für eine theologische Be­arbeitung fruchtbar zu machen.
Zunächst das monumentale Werk von Stefan Huster: Huster nimmt die Rede von der Neutralität des Staates als Anlass, diese in ihren unterschiedlichen Bedeutungskontexten zu erfassen und sie für eine Gesamtinterpretation der Verfassung aus liberaler Sicht aufzuschließen. Seit der Studie von K. Schlaich zum Neutralitätsgedanken aus dem Jahre 1972 ist keine Arbeit mehr mit solchem Format zu diesem, in den letzten Jahren immer wichtiger gewordenen Grundproblem der Verfassungsinterpretation erschienen. Huster kommt schon von daher ein großes Verdienst zu. Das Besondere an seiner Herangehensweise ist seine gründliche Einarbeitung rechts- und sozialphilosophischer Positionen aus dem Umfeld der sog. Liberalismus/Kommunitarismus-Debatte. Seine These lautet, »daß die grundlegenden Prinzipien individueller Freiheit und Gleichheit … tatsächlich ein Gebot staatlicher Neutralität enthalten, das allerdings nicht … auf die Wirkungen, sondern auf die Begründungen staatlichen Handelns zu beziehen ist.« (2) Huster greift dabei auf die aus theologischer Sicht nicht ganz unproblematische Trennung der Sphären des moralisch Richtigen vom ethisch Guten zurück.
Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum er nicht nur von einer religiös-weltanschaulichen, sondern auch von einer ethischen Neutralität des Staates spricht. Diesem umfassenderen Konzept korrespondieren dann umfangreiche Analysen betroffener Grundrechtsinterpretationen. Huster verhandelt nicht nur das Kruzifix-Urteil (127 ff.) und den Streit um LER (325 ff.), sondern nimmt auch die Fragen einer Anerkennung nichtehelicher Le­bensgemeinschaften (436 ff.) sowie der Ausgestaltung und Grenzen von Kunstfreiheit (566 ff.) in den Blick. Somit erweist sich jedes Neutralitätskonzept erst dann als tragfähig, wenn es zur Lösung rechtlicher Einzelfragen beiträgt. Eine Auseinandersetzung mit Husters Entwurf kann nur en détail geschehen und muss von daher an dieser Stelle unterbleiben. Auf zwei Probleme möchte ich wenigstens noch verweisen: Husters Konzept lebt von der Möglichkeit einer neutralen, also nicht wertenden Begründung (Rechtfertigung) von staatlichen Gesetzen und Maßnahmen. Aber schon das darin implizierte Modell einer öffentlichen Vernunft vermag angesichts des religiösen Pluralismus immer weniger zu überzeugen. An welche Form von allgemein plausibler, a-historischer Vernunft denkt Huster, wenn er darauf seine These aufbaut? Damit hängt die zweite Frage zusammen. Ist es wirklich sinnvoll, im Sinne des politischen Liberalismus den Gedanken einer Wirkungsneutralität in Gänze zu verabschieden? An dieser Stelle spricht mir zu sehr der gestrenge Verfassungsrechtler und zu wenig ein die politischen Ge­samt­bedingungen ins Auge fassender Zeitgenosse.
Die angesprochenen Probleme lassen sich sehr schön an Husters Interpretation des staatlichen Erziehungsauftrages in der Schule illustrieren (zum Folgenden vor allem 300 ff.316 ff.). Zwar verbietet das Gebot der Begründungsneutralität weitreichende Werte- und Normenerziehung. Ethische Erziehungsideale, wie die in einzelnen Länderverfassungen noch erwähnte »Ehrfurcht von Gott«, scheiden von daher aus. Aber schon eine Aufgeschlossenheit vor dem »Wahren, Guten und Schönen« sowie Leistungswille und Eigenverantwortung lässt Huster gelten. Wichtiger noch sind ihm sittliche Verantwortung samt gegenseitiger Achtung als moralische sowie Gesetzestreue und Vaterlandsliebe als politische Erziehungsziele. Zusammengefasst dient der Moralunterricht in der Schule zur Förderung der Akzeptanz der Verfassungsessenz sowie der Vermittlung einer Kern- oder Minimalmoral. Jenseits dieses Kataloges können die moralischen Normen freilich kaum eine inhaltliche Füllung durch das Recht erfahren. Ihre Begründung verbleibt trotz gegenteiliger Behauptung im Rahmen einer ab­strakt Kantischen Trennung von Legalität und Moralität, da sie ihrer kulturell-motivationalen Quellen beraubt sind.
Von der Abstraktheit der Rechtsnormen im kulturell luftleeren Raum kommt Tine Stein zu ihrem Thema, der Einlösung der Böcken­förde-Formel durch materiale Analyse derjenigen ethischen Grundgedanken, die als religiöse die Voraussetzungen des neuzeitlichen Verfassungsstaates bilden, die er selbst nicht garantieren kann. Es geht ihr dabei um Genesis und Geltung. Stein steht zu ihrem grundsätzlich positiven Verständnis der politischen Dimension des Christentums, bekennt gleich zu Beginn: »Diese Arbeit ist … sub specie divinitatis geschrieben.« (7) In einer groß angelegten geis­tes- und kulturgeschichtlichen Analyse informiert sie kenntnisreich über die ideellen und institutionellen Impulse des jüdisch-christlichen Verständnisses von Freiheit und Verantwortung (62 ff.), Gleichheit und Solidarität (112 ff.), Herrschaft und Heil (150 ff.197 ff.) sowie Menschenwürde (223 ff.). Stein gewinnt eine materiale Dichte der Grundlagen unserer Verfassung und rehabilitiert damit zu­gleich den Begriff der Religion als politikwissenschaftliche Größe. Nicht immer überzeugt freilich die bloße Addierung dieser Facetten, ein strenger systematisch verfahrender Zugriff wäre wohltuend gewesen. Auch das Kapitel über das meta-positive Fundament unserer Verfassung (266 ff.289 ff.), welches nach Steins Meinung vor allem in Art. 1 GG i. Vbg. mit Art. 79 (3) GG zum Ausdruck kommt, kann dies nicht ersetzen. Außerdem verschiebt sich Steins Interesse hier zunehmend auf Fragen der Biopolitik.
Der dritte anzuzeigende Band– von Hans Michael Heinig und Christian Walter herausgegeben – befasst sich unter dem Titel Religionsverfassungsrecht oder Staatskirchenrecht? mit einem begriffspolitischen Streit innerhalb der Staats- und Verfassungsrechts­lehre. In jeweils konträr angelegten Beiträgen werden insbeson­dere die sog. Weimarer Kirchenartikel des Grundgesetzes, also die Pas­sagen über das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und die korporative Religionsfreiheit, in den Blick genommen. Inwieweit kommt diesen Zusätzen eigenständige Bedeutung zu, und zwar jenseits der positiven Ausgestaltung des Grundrechts auf Re­ligionsfreiheit? Stellen z. B. die Kirchen einen Teil des Beziehungsdreiecks aus Staat, Bürgern und Religionsgemeinschaften dar (so Grzeszick in seinem Beitrag, 131 ff.) oder sollte sich das Religionsrecht eher auf das Verhältnis von Staat und (einzelnen) Grundrechtsträgern konzentrieren? Dahinter verbergen sich im­mer schon grundlegende Auffassungen darüber, was unter ›Religion‹ und ›Staat‹ zu verstehen ist und welcher Regelungsumfang einer Verfassung zukommen darf. Ersichtlich ist ferner, dass auf Grund der historischen und kulturellen Verflechtung der Rechtsfigur einer »Körperschaft öffentlichen Rechts« mit dem religionsinstitutionellen Typus der ›Kirche‹ die Integration des Islam ins Recht große Probleme bereitet (vgl. die Beiträge von Uhle [299 ff.] und Heun [239 ff.]). Der Band informiert zudem über die Einwirkungen des Völker- und Europarechts auf die deutsche Rechtslage (vgl. 251–295). Ob das bundesdeutsche Kooperationsmodell mo­mentan schon »im Aufbruch zu einer vierten Phase begriffen« (362) ist, bleibt abzuwarten. Jedenfalls müssten dann die Anliegen des liberal­emanzipativen Religionsverfassungsrechts und seiner Auffassung vom Religionsrecht als Gefahrenabwehrrecht mit einer erneuten Hinwendung der Staats- und Verfassungsrechtslehre zu Fragen des Institutionellen einhergehen.