Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1267–1270

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ragaisis, Mindaugas

Titel/Untertitel:

Umkehr ins Gespräch bringen. Der Beitrag von »kommunikativen Glaubensmilieus« zur Erneuerung der Bußpraxis.

Verlag:

Würzburg: Echter 2006. XXII, 225 S. gr.8° = Erfurter Theologische Studien, 91. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-429-02837-4.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Mindaugas Ragaisis stammt aus Litauen und hat das vorgelegte Buch als Dissertation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt verfasst. Wie er im Vorwort schreibt, geht es ihm in seiner Untersuchung weniger darum, ein fertiges pastoraltheologisches Modell zur Erneuerung des Bußsakraments vorzulegen, als vielmehr darum, die Rolle der Gemeinde bei einer möglichen Erneuerung der Bußpraxis zu untersuchen.
Auslöser der Arbeit war die Beobachtung, dass das katholische Bußsakrament in einer Krise steckt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass im deutschen Katholizismus inzwischen nur noch eine Minderheit die Einzelbeichte in Anspruch nimmt. Seit einiger Zeit gibt es eine Reihe von kirchenamtlichen Versuchen, das Bußsakrament zu erneuern. Entsprechende Verlautbarungen konzentrieren sich auf das sakramentale Bußgeschehen als solches. Ihr Tenor be­steht darin, unter allen Umständen an der kirchlichen Lehre festzuhalten, dass Todsünden, um vergeben zu werden, in der sakramentalen Beichte bekannt werden müssen. Wissenschaftliche Theologen und kirchliche Praktiker meinen dagegen, dass eine Erneuerung des Bußsakraments nur unter Berücksichtigung der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen möglich sein wird. Diesem Ansatz fühlt sich auch die Studie von R. verpflichtet.
Sie umfasst vier Hauptteile. Der erste Teil umfasst eine Situationsanalyse: Wie stellt sich die sakramentale Beichte im Katholizismus heute dar? Im zweiten Teil der Arbeit setzt R. geschichtlich ein und untersucht die Buße von ihren biblischen Anfängen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, wobei er das Hauptaugenmerk auf die Bedeutung der Mitwirkung der Gemeinde beim Bußsakrament legt. Der dritte Teil der Arbeit hat die Rolle der Gemeinde in der heutigen Bußpraxis als Thema. Dabei setzt R. bei den kirchenamtlichen Dokumenten ein, weitet dann die Fragestellung auf die Rolle von Gemeinden für das Glaubenlernen und den Umkehrprozess aus. Im abschließenden vierten Teil der Untersuchung widmet er sich exemplarisch der Bedeutung, die kommunikativen Glaubensmilieus für eine Erneuerung der Bußpraxis zukommt.
Zum 1. Teil: Die kirchliche Bußpraxis im Abseits: Zu Recht weist R. hier darauf hin, dass die Veränderung der so­ziokulturellen Situation die Weitergabe des christlichen Glaubens an die kommende Generation erschwert, was automatisch auch die traditionelle Bußpraxis betrifft. Die Auflösung der katholischen Milieus hat dazu geführt, dass die gesellschaftlichen Stützfunktionen für den Glauben mehr und mehr in den Hintergrund getreten sind. Damit ist gleichzeitig die Selbstverständlichkeit, mit der die sakramentale Buße bisher praktiziert worden ist, in Frage gestellt. Überdies hat der Missbrauch der sakramentalen Buße, wie er sich im Laufe der Geschichte zeigt, wesentlich zu deren Unattraktivität beigetragen. Entscheidend für den Niedergang des Bußsakramentes ist jedoch die Veränderung des Sündenverständnisses und –bewusstseins in der Gegenwart. Sünde wird nicht länger in ihrem Bezug zu Gott verstanden. Dadurch kommt es zur Privatisierung und Indivi­dualisierung der Sünde. R. weist zu Recht darauf hin, dass heutige Formen des Schuldbekenntnisses und der Schuldbewältigung an Stelle der traditionellen kirchlichen Bußpraxis getreten sind. Dazu gehören Schuldbekenntnisse in Talkshows, in de­nen es jedoch we­niger darum geht, Vergebung zugesprochen zu bekommen, als vielmehr so, wie man gehandelt hat, angenommen zu werden.
Zum 2. Teil: Das Mitwirken der Gemeinde bei Unterstützung der Buße in der Bibel und im Laufe der Geschichte: Dieser Abschnitt kann als Kompendium der Bußauffassung vom Alten Testament bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gelesen werden. Besonders instruktiv ist dabei der biblische Teil. Es fällt auf, dass R. nirgends ultramontane katholische Positionen ins Neue Testament hineinträgt. Auch für einen evangelischen Theologen ist es lehrreich, die ekklesiologische Dimension von Buße in den neutestamentlichen Gemeinden vor Augen gestellt zu bekommen. Die Darstellung der weiteren Entwicklung konzentriert sich auf Wendepunkte im Bußverständnis: so z.B. auf die Herausbildung der Einzelbeichte im Gefolge der iroschottischen Mission. Dabei ist der Gedanke wichtig, dass mit der Einführung der Privatbeichte die Rolle der Gemeinde im Rahmen des Bußvorgangs mehr und mehr zurück­trat. Hervorheben möchte ich auch den Abschnitt über das Bußverfahren in der ostkirchlichen Tradition, das einen anderen An­satz als die Westkirche erkennen lässt. Hier steht der seelsorgerlich-therapeutische Umgang mit der Schuld im Vordergrund, was dazu führt, dass die Laienbeichte bis in das 13. Jh. die Regel ist. Juridische Kategorien werden demgegenüber zurück­gedrängt.
Zum 3. Teil: Die heutige Bußpraxis im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft: Der Verfasser setzt hier bei den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils ein. Er hebt hervor, dass diese um eine Erneuerung der ekklesiologischen Dimension des Bußsakraments be­müht waren, wodurch das Bußsakrament in besonderen Fällen in Form einer Generalabsolution gespendet werden konnte. Zu Recht weist R. jedoch darauf hin, dass die veränderten soziokulturellen Rahmenbedingungen die Rolle der Gemeinde bei der Bußpraxis, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil intendierte, kaum zur Geltung kommen ließ. Darum schlägt R. vor, anders an­zusetzen. Er betont den inneren Zusammenhang zwischen Glaubenlernen und Umkehr bzw. Buße. Es geht seiner Überzeugung nach in Zukunft darum, die unterstützende und begleitende Mitwirkung der Gemeinde bei der Bekehrung des Einzelnen zum persönlichen Glauben zu erkennen. In Aufnahme von Überlegungen L. R. Rambos zur Konversion vermag er systematisch zu beschreiben, was unter Bekehrung zum persönlichen Glauben zu verstehen ist. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass die Bekehrung zum persönlichen Glauben immer auch einen sozial verorteten Prozess darstellt. Dabei kommt der christlichen Gemeinde, und hier speziell »kommunikativen Glaubensmilieus« (M. Kehl), besondere Be­deu­tung zu. R. sieht in der Weckung des persönlichen Glaubens und der damit verbundenen Umkehrerfahrung die entscheidende Voraussetzung, dass ein Mensch Zugang zum traditionellen Bußsakrament bekommt. Hinter diesen Überlegungen steht letztlich die Überzeugung, dass das absehbare Ende volkskirchlicher Strukturen es notwendig macht, Christsein aus persönlicher Einsicht und Entscheidung zu leben. Deshalb gehe es in der zukünftigen Seel­sorge darum, verstärkt nach Wegen der Glaubensvertiefung zu suchen.
Zum 4. Teil: Die »kommunikativen Glaubensmilieus« und die Bußpraxis: Hier soll die Bedeutung der Glaubensmilieus für die Erneuerung des Bußsakraments bestimmt werden. Unter kommunikativen Glaubensmilieus sind nach M. Kehl Gruppen, Ge­meinden, Gemeinschaften, geistliche Bewegungen, Initiativen (z.B. Exerzitien im Alltag oder Wallfahrten), Gesprächskreise, geistliche Zentren u. A. zu verstehen. Entscheidend ist für diese Gruppen und Kreise, dass sie versuchen, den Glauben ausdrücklich zu thematisieren, wobei dies nicht nur auf intellektuellem Wege, sondern primär persönlich existenziell geschehe. Man kann diese Gruppen und Kreise auch als eine Art Beziehungskirche verstehen. Entscheidend ist dabei, dass sie ihren Glauben ein Stück weit auch über Gottesdienstgemeinschaft hinaus im Alltag leben. R. entfaltet in diesem Kapitel am Beispiel der Jugendtreffen von Taizé, der charis­matischen Erneuerung in der katholischen Kirche und eines Bi­belgesprächskreises in einer normalen Pfarrei die Mitwirkung von kommunikativen Glaubensmilieus bei der Erneuerung der Bußpraxis. Entscheidend sind für ihn drei Punkte:
Die kommunikativen Glaubensmilieus wirken bei der Glaubensweitergabe mit, sie vermögen den Glauben ganzheitlich zu leben, sie schaffen durch gemeinschaftlich gelebtes Christsein die Voraussetzung für die Bußpraxis. Dabei ist sich R. der Gefahr solcher kommunika­tiven Glaubensmilieus bewusst: dass sie ein eli­täres Gruppenbewusstsein entwickeln, die emotionale Dimen­-sion des Glaubens überbetonen bzw. zu einer Getto-Mentalität führen.
Man spürt dem Buch ab, dass R. die amtskirchlichen Bemühungen zu einer Erneuerung des Bußsakraments für unzureichend hält. Wahrscheinlich nicht zuletzt angesichts seiner Herkunft aus Litauen ist er sich bewusst, dass die Erneuerung der Einzelbeichte auch im Katholizismus tiefer ansetzen muss als bei einer bloßen Repristination traditioneller liturgischer Formen und Formeln. Entscheidende Voraussetzung ist für ihn die Erneuerung des persönlichen Glaubens. Nur über den Weg des persönlichen Glauben s– so seine Überzeugung – wird auch eine Erneuerung des Sündenbewusstseins im biblischen Sinne möglich werden. Dass er dabei den kommunikativen Glaubensmilieus, speziell den neuen geistlichen Bewegungen, eine wesentliche Rolle zubilligt, liegt übrigens wieder ganz im Sinne des Vatikans. Sowohl Johannes Paul II. als auch der damalige Kardinal Ratzinger verstanden die neuen geistlichen Bewegungen als unverzichtbare Quelle für eine Erneuerung der katholischen Kirche. Auch als Papst Benedikt XVI. hat sich meiner Bobachtung nach für Josef Ratzinger an dieser Po­sition nichts geändert.
Erstaunlich ist für mich, dass ein katholischer Theologe ganz ohne einen Blick auf die reformatorischen Erneuerungsversuche der Beichte, etwa durch Martin Luther oder Dietrich Bonhoeffer, eine solche Arbeit vorlegen kann. Man gewinnt dadurch unwei­gerlich den Eindruck, dass katholische Theologie immer noch – oder wieder – möglich ist, ohne den ökumenischen Horizont zu berück­sichtigen. Indirekt geschieht es immerhin, indem R. die Kom­munität von Taizé als ein Beispiel für kommunikative Glau­bensmi­lieus heranzieht und von der katholischen geistlichen Ge­meinde­erneuerung handelt, die sich nicht zuletzt protestantischen Wurzeln verdankt.
In formaler Hinsicht fällt gelegentlich negativ auf, dass viele Überlegungen im Rahmen von Zusammenfassungen mehrfach wiederholt werden. Hier hätte bei der Überarbeitung der Dissertation für den Druck ruhig mutig gekürzt werden können.