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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1264–1266

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haese, Bernd-Michael

Titel/Untertitel:

Hinter den Spiegeln – Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 355 S. m. Abb. u. 1 Kt. im Anhang. gr.8° = Praktische Theologie heute, 81. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-019530-1.

Rezensent:

Andreas Mertin

»Weitere Informationen zu diesem Thema finden sie im Internet unter …« – diese Formulierung gehört zwischenzeitlich zu jeder Art der öffentlichen Kommunikation. Ob Tagesschau oder wissenschaftliche Zeitschrift, ob Kommune oder Kirchengemeinde, nahezu jeder und nahezu jede Institution ist in irgendeiner Form im Internet präsent. Mehr als zwei Drittel aller Haushalte in Deutschland verfügen über einen Internetanschluss und allein von der deutschen Domain-Endung ».de« gibt es laut Statistik weit mehr als eine Million, eine Zahl, die vor knapp acht Jahren noch bei etwa 50.000 gelegen hat. Vermutet werden kann, dass das Internet die am schnellsten verbreitete Kulturtechnik der Menschheit ist, eine Kulturtechnik, die weitreichende Folgen für die Wissensdistribution hat, aber auch für Urheberrechte, soziale Kommunikation, für die Ökonomie der Aufmerksamkeit und die Begegnung der Kulturen. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist seit vielen Jahren im Internet präsent, sehr viele Gemeinden haben ein »Schaufenster« im WWW. Auch Predigten und Unterrichtsentwürfe erfreuen sich reger Nachfrage in den virtuellen Welten.
Bernd-Michael Haese ist in seiner nun als Buch vorliegenden Habilitationsschrift der Entwicklung des Internets und dessen Bedeutung für die Kirche nachgegangen. In sechs Kapiteln auf 355 Seiten entfaltet er die Geschichte des Internet und seiner Techno­logien. Grundsätzlich möchte er mit seiner Schrift die »großen Chancen der neuen Medien für das Kommunikationssystem Kirche« herausarbeiten. Dazu betreibt er zunächst eine kleine »Netzarchäologie«, die die Geschichte des Internets von den Anfängen her rekonstruiert (25–52). Es folgt eine aktuelle Bestandsaufnahme der Trends des Internets mit Seitenblick auf aktuelle Problemlagen wie Zensur, Unübersichtlichkeit etc. (53–104). Das nächste und umfangreichste Kapitel des Buches widmet sich der »virtualen Realität« bzw. der »realen Virtualität« und skizziert die Mediendiskussion, den simulierten Raum und nicht zuletzt die spielerische Nutzung dieser Kulturtechnik (105–262). Ein wichtiger Abschnitt da­rin beschäftigt sich auch mit den unterschiedlichen Kom­mu­ nikationsformen im Netz (223–262), angefangen von der E-mail-Kommunikation bis zum »computer supported collaborative learn­ing« (CSCL) und der noch relativ jungen Entwicklung der Wikkis. Im folgenden Kapitel wendet H. sich schließlich konkret dem Thema »Cyberkirche« zu, also der Kirche und den Gemeinden in der Informations- und Kommunikationsgesellschaft (263–310). Ge­rahmt wird das Buch – ganz in der Terminologie der Computerwelten – jeweils von einem Kapitel »Login« und »Logout«.
In der gesamten Darstellung sucht H. »nicht nur den Phantas­ten, sondern auch den pessimistisch Enttäuschten« (59) zu widerstehen. Sein »realistischer Blick« untersucht die produktive Alltäglichkeit des Internets, wobei er allerdings auch die gesellschaftlichen Grenzen des Netzes (Informationsfreiheit, Zensur und Jugendschutz) mitberücksichtigt. (Der Abschnitt zur digitalen Wissenskluft ist allerdings inzwischen revisionsbedürftig, da sich faktisch die Spaltung zwischen den Bevölkerungsschichten nicht so vollzogen hat, wie noch vor wenigen Jahren angenommen. Das aber ist der rasanten Veränderung des Untersuchungsgegenstandes geschuldet.) Grundsätzlich bestimmt folgende Wahrnehmung die Arbeit: »Was die Kommunikation des Evangeliums aus einer kirchentheoretischen Perspektive für die Institution bewirkt und wie sie idealerweise gestaltet sein muß, weist eine Reihe von Ähnlichkeiten mit der Kommunikation zwischen Menschen und Institutionen mit Hilfe vernetzter Rechner auf.« Schritt für Schritt verweist H. auf Potentiale, die im Medium Internet für die kirchliche Kommunikation liegen könnten.
Es bleibt aber auch etwas kritisch anzumerken. So scheint mir streckenweise nicht immer die notwendige Distanz zum Gegenstand vorzuliegen. Allzu enthusiastisch werden Entwicklung und Potentiale des Internets beschrieben. Ein nicht von H. zu verantwortendes Handicap ist der Umstand, dass, wann immer man etwas Grundlegendes über das Internet geschrieben hat, es technisch schon wieder überholt und von neuen Entwicklungen abgelöst ist. So findet die gesamte Diskussion, die sich am Web 2.0 entzündet hat, naturgemäß keine Berücksichtigung mehr. Dabei bündeln sich hier noch einmal all jene Aspekte, die die Fragestellung von H. bestimmen. Hier steckt noch viel Sprengstoff – gerade auch in religiöser Perspektive – für kommende Untersuchungen.
Des Weiteren fehlen meines Erachtens elementare Aussagen über die grundlegenden Probleme der Kulturtechnik »Internet«: zum Beispiel, dass sie noch keine Technik des dauerhaften Speicherns entwi­ckelt hat. Theologische Zeitschriften, die einmal als online-Zeitschriften begonnen haben, sind längst im virtuellen Hades verschwunden und in den Archiven des Netzes nur noch fragmentarisch greifbar. Wer Wissen im Netz präsentiert, kann es von heute auf morgen auch daraus entfernen. Und wer Wissen dauerhaft präsentieren will, muss dafür auch dauerhaft ökonomisch aufkommen. Was eine Kirchengemeinde im Netz kommuniziert, ist sehr schnell wieder verschwunden und bleibt einem künftigen Zugriff entzogen. Wer etwa www.theologia.de, die Netzzeitschrift des Marburger Sozialethikers und frühen Internetaktivisten Wolfgang Nethöfel ansteuert, stößt heute nur noch auf eine leere Seite. Wer sich in seiner wissenschaftlichen Kommunikation auf die dort publizierten Texte be­zogen hat, bleibt daher den Nachweis schuldig, dass es sie jemals gegeben hat. Die Kulturtechnik Internet ist hier eher etwas Fließendes, für das Bezugsformen erst noch entwickelt werden müssen.
Kritisch ist zudem noch anzumerken, dass der vielleicht aktivste Teil der kirchlichen Internetnutzung bei H. ausgeblendet ist. Das seit mehr als fünf Jahren von der EKD im Internet betriebene virtuelle religionspädagogische Institut (rpi-virtuell.net) versammelt inzwischen mehr als 25.000 aktive Nutzer, die gemeinsam an der Vermittlung von Religion arbeiten und ihr Wissen austauschen und vor allem auch kommende Generationen ganz selbstverständlich in die Nutzung des Internets in religiöser Perspektive einführen. Und auch funktionierende religiöse Communities wie Jesus.de mit immerhin mehr als 120.000 Nutzern werden nicht in die Erörterung einbezogen. Dabei könnte man gerade an ihnen zeigen, wie sich die lebensweltlichen Konturierungen von Religion im Netz reproduzieren.
Dennoch sind wissenschaftliche Arbeiten dieser Art wichtig, weil sie neben der kirchlichen Pragmatik der Internetnutzung, die ganz selbstverständlich weiter voranschreitet, auch deren theologische Reflexion leisten. Wer liest das Buch mit Gewinn? Vor allem jene, die sich grundsätzlich mit dem Medium Internet auseinandersetzen wollen und eine zugleich sachorientierte wie an den kirchlichen Besonderheiten orientierte Darstellung suchen. Auch für diejenigen, die sich ab und an fragen, ob das Internet jenseits des immer noch anhaltende Medienhypes auch theologisch durchdacht und begründet werden kann, ist das Buch hilfreich.