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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1262–1264

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian, u. Helmut Schwier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. X, 825 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 33. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02514-5.

Rezensent:

Reinhard Schmidt-Rost

Als Fortsetzung einer früheren Veröffentlichung im gleichen Verlag, der Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 1999 (hrsg. v. Chr. Grethlein u. M. Meyer-Blanck), stellen die Herausgeber diesen neuen Band vor. Der biographischen Ordnung des älteren Bandes folgt nun eine Sammlung nach drei systematischen Auswahlkriterien: Der wissenschaftstheoretischen Reflexion (»1. Stellung der Praktischen Theo­logie innerhalb der Theologie und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften«) folgen »2. Zentrale Themen der Praktischen Theologie« und 3. »Ausgewählte Bereiche der Praktischen Theologie«. Der Anspruch des Bandes zielt auf eine systematische Darstellung und Durchdringung der ganzen Disziplin, ist aber erneut problem geschichtlich angelegt. (s. V).
Die Beiträge des ersten Teils bieten drei selbständige enzyklopädische Studien »Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie – aus praktisch-theologischer Sicht« (Christian Al­brecht), »Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie – aus systematisch-theologischer Sicht« (Martin Laube) und »Kommunikation des Evangeliums als interdisziplinäres Projekt. Praktische Theologie im Dialog mit außertheologischen Wissenschaften« (Wilfried Engemann), die jede auch für sich stehen könnten und den Leser fragen lassen, ob eine dieser Grundlegungen auch den weiteren zehn Beiträgen als Grundlage dienen soll oder könnte.
Der zweite Teil zeigt allerdings in der gleichfalls profilierten Eigenart der Erörterung von fünf Themen: »Praktische Theologie und Bibel« (Helmut Schwier), »Praktische Theologie und Empirie« (Christian Grethlein), »Praktische Theologie und Religion« (Mi­chael Meyer-Blanck), »Praktische Theologie und Kirche« (Jan Hermelink), »Praktische Theologie und Mission« (Eberhard Hau­schildt), dass in keinem Fall etwa ein Anschluss an eine vorausgesetzte Grundlegung konstruiert wird, sondern jeder Beitrag seine eigenen Voraussetzungen impliziert, wenn auch selbstverständlich eine gewisse Nähe in den Grundlagen gegeben ist.
Gleiches gilt auch für den in seiner Aufteilung eher konventio­nellen dritten Teil. Diese Studien sind ebenfalls jeweils eigene praktisch-theologische Ansätze der Autorinnen und Autoren: »Pastoraltheologie« (Uta Pohl-Patalong), »Poimenik« (Isolde Karle), »Kybernetik« (Ralph Kunz), »Katechetik und Religionspädagogik« (Bernd Schröder), »Diakonik« (Christoph Schneider-Harpprecht).
Dass die »Mission« ausdrücklich am Ende des zweiten Teils als »Thema«, nicht aber als ein »Bereich« der Praktischen Theologie im dritten Teil geführt oder ganz übergangen wird, zeigt das gewachsene Bewusstsein für ein Problem der Volkskirchen und der Multikulturalität (vgl. 236). Die Diakonik scheint sich ihres Platzes im Arbeitskanon der Praktischen Theologie noch nicht ganz sicher zu sein, denn die biblisch-historische Herleitung fällt vergleichsweise breit aus (735–745). Eine Bearbeitung des Themas »Medien« wird wohl durch die kommunikationswissenschaftlichen Abschnitte in Engemanns Beitrag als erledigt angesehen. Man kann aber auch vermuten, dass der geplante, aber nicht abgeschlossene Beitrag (VI) den Medien (im Zusammenhang mit Homiletik?) gegolten hat.
In der Einleitung, den Überleitungen zwischen den drei Teilen und einem Ausblick geben die beiden Herausgeber Auskunft über Anlage, Absicht und Zusammenhang des Bandes. Solche Orientierung ist zweifellos nötig, denn während der Vorgängerband leichten Schrittes an Lebensläufen entlangzugehen erlaubte, findet man sich hier an den Ufern oder auf den Fluten eines Datenstroms, zusammenströmend aus vielen Lebensläufen und wissenschaftlichen Erkenntnisquellen, kurz vor der Mündung ins Meer der Un­überschaubarkeit.
Die Position eines Lotsen ist alles andere als bequem: Die Fülle der erprobten Reflexionsperspektiven und ins Gespräch gezogenen wissenschaftlichen Disziplinen, die Datenmenge und Erkenntnisfülle ist in 200 Jahren Wissenschaftskultur soweit angeschwollen, dass es einer Herkules-Arbeit des Vergessens bedarf, damit sich wenigstens die Experten, also die Autorinnen und Autoren, für eine genauere Skizze der Mündung von Reflexion in Realität und für bestimmte Koordinaten ihres Kurses entscheiden können.
Unter den drei Fundamentalbeiträgen favorisiert die eine praktisch-theologische Betrachtungsweise das Delta vieler verschiedener Typen der Zuordnung von Reflexionstheorie und Kunstlehre (Albrecht), während der andere praktisch-theologische Überblick den Strom möglicher Daten als »Kommunikation des Evangeliums« (Engemann) signifiziert und wie durch einen Trichter in das weite Meer der »Interdisziplinarität« mit einem erhofften Zugewinn an Freiheit einfließen lässt. Der Betrachter vom Ufer der Sys­tematik (Laube) wendet vorsichtig ein, dass der viel zitierte Begriff »Kommunikation des Evangeliums« (Dalferth hat ihn jüngst für die Systematische Theologie adaptiert, durch Ernst Lange ist er für die Praktische Theologie längst geadelt) über die »Unterscheidung von christlicher Kommunikation und göttlicher Selbstkommunikation« (129) jede christliche Praxis im Hafen der Dogmatik festmache, und empfiehlt deshalb – im Rekurs auf Schleiermacher –, Theo­logie insgesamt »als Wissenschaft vom Christentum zur Förderung des Christentums« (ebd.) zu entfalten. Er formuliert in diesem Zusammenhang nachgerade en passant, aber scharfsinnig die Hoffnung, es könne auf diese Weise »dem rasanten Verselbständigungsprozess der Praktischen Theologie« und der damit verbundenen Tendenz einer schleichenden ›Detheologisierung‹« (ebd.) eine neue Koalition von Systematischer Theologie und Praktischer Theo­logie entgegenwirken, zumal wenn sie »die Dimension des empirisch-phänomenologischen Zugriffs zur gegenwärtigen Wirklichkeitsgestalt des Chris­tentums« (130) als dritten Pol hinzuziehe.
Eine zentrale Koordinate dieser dreipoligen Interpretationsaufgabe bildet das Begriffspaar »historisch und empirisch«, wobei deren funktionale Äquivalenz von Schwier und Grethlein in ihren beiden benachbarten Beiträgen (Praktische Theologie und Bibel, Praktische Theologie und Empirie) hervorgehoben wird. Dass aber bei empirischer Arbeit deren Eigendynamik näher zu bedenken ist, wird wohl weiter zu diskutieren sein (zu 344). Mit gleichem Gewicht bieten die Begriffe »Kirche« und »Religion« Ausgangspunkt und Orientierung für weitere Diskussionen in mehreren Beiträgen.
Ein ausführliches Sach- und Personenregister erleichtert die Erschließung des umfangreichen Werkes. Dennoch dürfte diese »Theorie- und Problemgeschichte« ihre Leser vorwiegend unter den Fachkolleginnen und Fachkollegen finden; denn ein Handbuch zur Bildung der Pfarrer ist dies nicht und will es auch nicht sein, so sehr es auf Leser in kirchenleitender Position hofft. Der Band brilliert aber seinem Selbstverständnis entsprechend nicht mit herausfordernden Thesen zur Gestaltung kirchlicher Praxis, sondern trägt in der Fortsetzung des Fachgesprächs über die Funktion der Praktischen Theologie zur Deutung von Kirche und Religion in der Gegenwart weitere Facetten bei.
Inwieweit andere theologische oder außertheologische Disziplinen auf diesen Diskurs bei einem so hohen Stand an Differenzierung eingehen können, muss sich zeigen; als Nichttheologe, der die Praktische Theologie in ihren interdisziplinären Bemühungen hätte vorstellen können (vgl. 4), wäre der Luh­mann-Schüler Armin Nassehi denkbar gewesen, aber Luhmann selbst wird nur in drei Beiträgen (Meyer-Blanck, Karle, Schneider-Harpprecht) zitiert; P. Groß, H. Keupp und R. Münch fehlen, U. Beck erscheint nur einmal vereint mit G. Schulze bei Engemann (169), auch der Medienwissenschaftler J. Hörisch kommt nicht vor, das Stichwort »Religionswissenschaft« fehlt im Sachregister: Die Interdisziplinarität ist ein weites Feld, und die Offenheit zum Austausch muss im Kampf der »kleinen« Fächer ums Überleben geduldig um- und erworben werden.