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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1260–1262

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dinter, Astrid, Heimbrock, Hans-Günter, u. Kerstin Söderblom [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 384 S. m. 27 Abb. 8° = UTB, 2888. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-525-03615-0 (Vandenhoeck & Ruprecht); 978-3-8252-2888-0 (UTB).

Rezensent:

Jan Hermelink

Seit Mitte der 1990er Jahre hat die ›Frankfurter Schule‹ einer dezidiert phänomenologisch orientierten Praktischen Theologie, die im Umkreis des Lehrstuhls von H.-G. Heimbrock entwickelt wird, zahlreiche Forschungsbeiträge sowie mehrere programmatische Sammelbände vorgelegt; weite Verbreitung fanden insbesondere W.-E. Failing/H.-G. Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen (1998) und Dies./Th. Lotz (Hrsg.): Religion als Phänomen (2001). Der vorliegende Band, an dem zahlreiche ehemalige und derzeitige Mitarbeitende des Lehrstuhls beteiligt sind, führt in diesen spezifischen Ansatz »Empirischer Theologie« ein, und zwar durch grundlagentheoretische und methodologische Reflexionen sowie durch Skizzen exemplarischer Forschungsprojekte. Die Einführung richtet sich sowohl an das (praktisch-)theologische sowie sozialwissenschaftliche Fachpublikum als auch ausdrücklich an diejenigen, »die einen methodisch nachvollziehbaren und theologisch belastbaren Weg vom alltäglichen Staunen zum Forschungsdesign für ihre eigene Praxis suchen« (15). Diese Mehrdimensionalität eröffnet zahlreiche anregende Verbindungen zwischen Rahmentheorien und Forschungspraxis; jene Theorien selbst werden jedoch mitunter recht verkürzt rezipiert. Das erste von fünf Kapiteln (17–59) umreißt sehr knapp, oft eher in Frageform eine »Praktische Theologie als Empirische Theologie«, u. a. durch Skizzen zum Verhältnis von »Glaube und Erfahrung«, zum Begriff der Empirie, durch den Rekurs auf andere »Typen empirischer Theologie«, etwa die handlungswissenschaftlichen An­sätze der 1970er/1980er Jahre oder das Programm von J. A. van der Ven und durch den Versuch, spezifisch theologische »Erkenntnisinteressen« im Forschungsansatz zu markieren (56–58).
Deutlich ist das Bemühen um Gesprächsfähigkeit sowohl mit den ›säkularen‹ Sozial- und Kulturwissenschaften als auch mit Philosophie und (Systematischer) Theologie. Dass dabei nur Abbreviaturen geboten werden, ist wohl unvermeidlich, führt aber – etwa im Blick auf Schleiermacher (45–47) oder Bon­hoeffer (49 f.) – doch auch zu Simplifizierungen. Bedauerlicher ist, dass an­dere, durchaus wirkmächtige Ansätze empirisch orientierter Praktischer Theologie allenfalls am Rande bedacht werden, etwa die Arbeiten aus dem Pastoralsoziologischen Institut (seit 2005 Sozialwissenschaftliches Institut) in Han­nover, die römisch-katholischen Arbeiten im Umfeld von K. Gabriel und H.-G. Ziebertz oder die zahlreichen Versuche, die theologische Valenz popkultureller Phänomene zu rekonstruieren.
Das zweite Kapitel (60–100) umreißt die in Frankfurt entwickelte, spezifische »Methodologie phänomenologisch-empirischer Theologie« anhand von drei aufschlussreichen Essays: Th. Lotz skizziert phänomenologische Einsichten u. a. von Merleau-Ponty, Schütz/ Luckmann, Waldenfels und zieht forschungspraktische Konsequenzen etwa für den Umgang mit Grundbegriffen oder die Generalisierbarkeit von Ergebnissen (71 f.). H.-G. Heimbrock benennt theoretische Kontexte des Schlüsselbegriffs »Gelebte Religion«, etwa Th. Luckmanns gestuften Transzendenzbegriff oder H. Lu­thers Hinweise auf die Abgründigkeit alltäglicher Erfahrung. Und an­hand eines konkreten Projekts (zum alltagsästhetischen Phänomen ›Kreuz‹) wird von Chr. P. Scholtz und H.-G. Heimbrock der Weg vom höchst subjektiven »Staunen« über alltägliche Widerfahrnisse bis zum Design einer Forschung nachgezeichnet, die nach angemessenen Theoriehorizonten und Methoden sucht, diese »phänomenologisch adaptiert« und auf eine »phänomenologische Beschreibung« zielt (sehr instruktiv: 93–100).
Das umfangreiche dritte Kapitel (101–212) illustriert den phänomenologisch-theo­logischen Ansatz durch acht Skizzen laufender bzw. ab­ge­schlossener Forschungsprojekte, die etwa das »Erleben« von Gottesdienst, jugendliche Computernutzung oder theologische Dimensionen im Umgang mit Roboterhunden betreffen. Stets wird an exemplarisch überraschenden Szenen das anfängliche Forschungsinteresse markiert; es werden – aus einem breiten Spektrum von Sozialphilosophie bis zur Kulturgeschichte und Or­ga­nisations­soziologie – relevante Theorien skizziert, einschlägige Forschungsmethoden benannt und (praktisch-)theologische Einsichten knapp benannt. Die Skizzen sind besonders dort anregend, wo sie – wie der Ansatz es nahelegt – die ›Eigentheorien‹ der er­forschten Subjekte erkennbar machen, wo sie Widersprüchliches freilegen und einen ›schrägen Blick‹ auf scheinbar Selbstverständliches eröffnen. Insbesondere den Projektskizzen zu »persönlichen Gegenständen« als Medium der Identitätsvergewisserung (I. Mädler), zu sozialen Erfahrungsmustern auf dem Frankfurter Flughafen (K. Söderblom) und zur Gelebten Religion im ›Paradies‹ des Kleingartens (J. P. Grevel) gelingt es zudem, die Phänomene im Horizont der christlichen Tradition noch weiter zu erhellen. Das vierte Kapitel präsentiert auf 90 Seiten acht häufig genutzte »Einzelmethoden in phänomenologischer Zuspitzung«, von der Teilnehmenden Beobachtung über die Grounded Theory und Leitfadeninterviews bis zur Analyse von Alltagsphotographien oder Websites. In höchst instruktiver Weise wird jeweils der ursprüngliche theoretische Horizont markiert, eine phänomenologische Adaption angedeutet, eine exemplarische Vignette aus der Forschungspraxis gezeichnet (das ist besonders bei den visuellen Methoden hervorragend gelungen) und – mitunter sehr knapp – die bisherige praktisch-theologische Rezeption umrissen. Nicht nur für die Anfänger im Forschungsprozess bieten diese Skizzen viele Anregungen, nicht zuletzt zur Klärung so unscharfer Ansätze wie der »dichten Beschreibung« oder der »Diskursanalyse« (hier ist allerdings M. Foucaults Sozialtheorie – noch? – nicht im Blick). Das Schlusskapitel versucht zum einen, den nunmehr entfalteten Forschungsansatz für »ein theologisches Gesamtinteresse« (310) an Erfahrung fruchtbar zu machen. Die sehr knappe Programmskizze zielt jedoch eher (nochmals) darauf, das Wirklichkeitsverständnis der ›harten‹ Sozialwissenschaften gleichsam ›aufzuweichen‹ durch phänomenologisch begründete Hinweise auf die Dimensionen des Widerfahrnisses, des irritierend Abweichenden oder darauf, dass sich Forschungs­ge­genstände »im Erkenntnisvorgang nicht nur zeigen, sondern zugleich auch entziehen« (314).
Was ein solches Wirklichkeitsverständnis für das wissenschaftlich-theologische Welt- und Selbstverständnis bedeutet, wird – auch in den anderen Beiträgen des Bandes – allenfalls am Rande deutlich. Wenn zum anderen abschließend einige »Erträge für praktisches Handeln (in) der Kirche« (319–339) umrissen werden, so ergibt sich ein ähnliches Desiderat. Dass die Bereitschaft für eine »geschärfte, leibhaftige, sinnenfällige und offene Wahrnehmung« (327) der pastoralen wie der kirchenorganisatorischen Praxis gut ansteht, wird zwar kaum zu bestreiten sein. Die entsprechenden Konkretionen, etwa für Gottesdienst, Unterricht oder Strukturreformen, vermögen jedoch gerade nicht zu zeigen, wie mit einer solchen »empiriebezogenen Haltung« (327) die längst ›eingeschlif­ fenen‹ Formen kirchlicher (Selbst-)Wahrnehmung nachhaltig irritiert und transzendiert werden könnten. So vermittelt diese Einführung, durchaus paradigmatisch, ein durchaus ambivalentes Bild der gegenwärtigen Bemühungen um »Empirische Theologie«. Auf der einen Seite zeigt der Band, wie fruchtbar methodologische Reflexionen und wie reichhaltig die methodischen Repertoires inzwischen sind, mit denen die Praktische Theologie im Blick auf den – kirchlichen und außerkirchlichen – Alltag höchst aufschlussreiche Forschungsaktivitäten entfalten kann. Auf der anderen Seite hat auch dieser phänomenologisch orientierte Ansatz bei der Empirie seinen ›Rück­weg‹ in die Theologie wohl noch vor sich. Inwiefern nicht nur die Gegenstände der Forschung oder die nachträgliche Interpretation der Ergebnisse theologisch bestimmt sind (vgl. 45, kritischer 335), sondern ›die Theologie‹ durch eine solcherart wahrgenommene (religiöse) Lebenswirklichkeit auch inhaltlich be­reichert wird, das scheint bislang – auch in Frankfurt – noch ebenso der Klärung zu harren wie die Frage, wie ›die Kirche‹ daran zu hindern ist, die derart gewonnenen Einsichten lediglich pragmatisch oder legitimatorisch zu vernutzen. Es bleibt insofern noch viel zu tun für eine »empirische Theologie«, die – durchaus mit dem hier skizzierten Rüstzeug – in der gegenwärtigen kirchlichen Praxis das Irritierende, das Fremde und das noch Ausstehende (vgl. sehr kurz: 338 f.) erhellen will.