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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1253–1256

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stock, Konrad

Titel/Untertitel:

Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XIII, 334 S. 8°. Kart. EUR 34,00. ISBN 3-16-148746-X.

Rezensent:

Friederike Nüssel

In der Absicht, die Theologie im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs als Wissenschaft auszuweisen und gleichzeitig die Einheit der Theologie in der Unterscheidung ihrer Disziplinen neu zur Geltung zu bringen, legt der Bonner Systematiker Konrad Stock in diesem Buch seine ausgearbeitete enzyklopädische Konzeption vor. Dabei greift er auf Grundlinien protestantischer Theologieent­wick­lung zurück, indem er die reformatorische Ausrichtung der Theologie auf die im Evangelium gründende Heilsgewissheit und Friedrich Schleiermachers Verständnis der Theologie als positiver, auf die Aufgabe der Kirchenleitung bezogener Wissenschaft integriert. Als Gegenstand der Theologie bestimmt er in Anlehnung an Schleiermacher das Wesen des Christentums und erblickt dieses auf der Linie reformatorischer Theologie in der »Gewißheit von der Wahrheit des Evangeliums« (VII f.), die kirchliche Gemeinschaft begründe und gesellschaftliche Verantwortung impliziere.
Im Anschluss an eine knappe Aufgabenbestimmung theologischer Enzyklopädie im ersten Kapitel (1–7) erörtert S. im zweiten Kapitel zunächst den Wissenschaftscharakter und »wissenschafts­sys­tematischen Ort« (10) der Theologie. Von tragender Bedeutung sind hier die Ausführungen zur Idee des Wissens (11–16), die dazu dienen, theologisches Wissen im Rekurs auf die erkenntnistheoretische Entwicklung von Kant über Schleiermacher bis hin zu Husserl als Wissen qualifizieren zu können und gleichzeitig seine Be­sonderheit zu bestimmen. Indem sich »genuines theologisches Wissen« (30) auf das religiöse Symbolsystem des Evangeliums beziehe, bringe es »die unmittelbare Vertrautheit mit der Ursprungsrelation der Person, die die Bedingung der Möglichkeit sachhaltiger Erkenntnis ihres Selbst- und Weltverhältnisses ist, … zu klarer Be­stimmtheit« (ebd.). Darum komme der Theologie im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften die Funktion einer »Grund-Wissenschaft« (31) zu. Als positive Wissenschaft habe sie dabei kommuni kative Kompetenz zu vermitteln (30). Die argumentative Bewegung von allgemeinen Begriffsbestimmungen hin zur Beson­derheit theologischer Theoriesprache wiederholt sich im dritten Ka­pitel über den Gegenstand der Theologie. Im Rekurs auf Schleiermacher bestimmt S. hier zuerst die Funktion von Religion »für das Ethos einer Gesellschaft« (40–50) und die konstitutive Be­deutung des Gottesverhältnisses für menschliches Person-Sein (50–66), um dann Offenbarung in allgemeinem Sinne als ein Wahrheitsgewissheit begründendes Erschließungsgeschehen zu analysieren. Wichtig ist ihm dabei, Offenbarung im christlichen Sinne nicht als »eine jeder Kritik entzogene Quelle der Erkenntnis in An­spruch« (81) zu nehmen. Vielmehr handele es sich beim christlichen Offenbarungsgeschehen um »das je gegenwärtige Wesen des Geistes, dessen Werk es ist, die individuelle Person in die Begegnung mit früheren und anderen Zeugnissen wahrhaftiger Da­seinsgewißheit und nur so in ihre eigene wahrhaftige Daseinsgewißheit zu führen« (ebd.). Darin eröffne der Geist zugleich die Freiheit der Gotteskindschaft in Glaube, Liebe und Hoffnung (81 f.; vgl. 91–99). Wegen »der Eigen-Art ihrer Gotteserkenntnis« (68) sei die christliche Wahrheitsgewissheit dabei innerhalb der Religionsgeschichte unüberbietbar. Zur Gegenstandsbestimmung gehört für S. schließlich die Reflexion auf die Kirche als die dem christlichen Glauben eigene soziale Form. Durch ihr »Rechtssetzungsrecht« (119) in der Ordnung des Gottesdienstes, der religiösen Kommunikation und der Lehre erweise sich diese »als ein besonderes ›Kommunikationssystem‹« (ebd.) mit besonderer Funktion innerhalb und im Gegenüber zur Gesellschaft. Wenngleich die weltanschauliche Neutralität des Staates »das Engagement der Mitglieder der christlichen Glaubensgemeinschaft in allen öffentlichen Angelegenheiten« (120) ermögliche, seien allerdings die Kriterien und Grundsätze öffentlicher Verantwortung in den christlichen Traditionen strittig (121). Darum bedürfe es einer ›öffentlichen Theologie‹, deren Grundlinien S. knapp skizziert (122–124).
Im vierten Kapitel kann S. nunmehr die enzyklopädische Kernaufgabe in Angriff nehmen und zeigen, dass und warum zur Erhaltung und Erneuerung »der kirchlich verfassten Wahrheitsgemeinschaft des Glaubens« (126) exegetische, historische, systematische und praktische Theologie notwendig sind. In der exegetischen Theo­logie gehe es um den Erwerb exegetischer Kompetenz in Gestalt der Fähigkeiten, »das religionsgeschichtlich singuläre Faktum des Doppel-Kanons der Bibel als der Heiligen Schrift des Christentums sachgemäß zu verstehen« (171), »die einzelnen Schritte der historisch-kritischen Methodenlehre in ihrer fundamentaltheologischen Bedeutung zu begreifen« (ebd.) und selbst »zum Verstehen der genuinen Aussageintention der kanonischen Texte anzuleiten« (172). Entsprechend erörtert S. als Grundlegungsfragen exegetischer Theologie die theologische Funktion des Kanons (129 ff.) und das Verhältnis von Text und Auslegung (133 ff.). Weiter entwirft er im Rekurs auf Schleiermachers Grundlinien einer allgemeinen Hermeneutik (155–158) und Rudolf Bultmanns existentialer Interpretation (158–163) die Aufgabe einer hermeneutischen Theorie (163–167) und formuliert abschließend Regeln für die Beantwortung der grundlegenden Frage nach der Einheit von Altem Testament und Neuem Testament (167–170).
Lässt sich mit exegetischer Kompetenz der Kanon als Ur­sprungszeugnis evangelischer Wahrheitsgewissheit verstehen, so ist nach S. historische Kompetenz in Gestalt eines intensivierten Geschichtsbewusstseins und Geschichtsverstehens nötig (173), um »an der Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft in der Umbruchssituation der reflexiven Modernisierung aller Lebensverhältnisse« (172) teilnehmen und kirchliches Leben verantwortlich gestalten zu können. Im Anschluss an eine historiographische Problemanzeige (175 ff.) rekonstruiert er in der Analyse des Phänomens ›Geschichte‹ den Zusammenhang von Geschichtlichkeit, Sittlichkeit und Religion (183 ff.), um sodann Grundzüge einer Historik in theologischer Perspektive und historiographische Grundsätze der Kirchengeschichte zu gewinnen. Mit deren Hilfe sollen »in methodisch kontrollierter Weise die Geschichte der Struktur der Glaubensgemeinschaft und die Geschichte ihrer In­teraktionen mit ihrer jeweiligen sozialen Umwelt« (182; vgl. 210) verknüpft werden können.
Weiter bedarf es systematisch-theologischer Kompetenz, um »die Kommunikation der christlichen Glaubensgemeinschaft über das Evangelium und damit über das Verstehen der Wirklichkeit als Weg zur menschlichen Teilhabe an dem in Wahrheit Guten situationsgerecht zu leiten« (218). Während S. in fast allen Teilen seines Entwurfs stark an Schleiermacher anknüpft, geht er hier deutlich über ihn hinaus, indem er Prinzipienlehre, Dogmatik, Ethik und Fundamentaltheologie in die Disziplin der Systematischen Theologie integriert. Die Prinzipienlehre habe dabei im Rekurs auf die Er­kenntnis der menschlichen Existenzverfassung und den Begriff des Offenbarungsgeschehens die Theoriesprache der Dogmatik und Ethik zu reflektieren (226–235), was S. selbst in den Kapiteln II und III geleistet hat. Die Dogmatik leite sodann »zur begrifflichen Ex­plikation der Offenbarungszeugnisse« (226) an, die sich material in den vier Gedankenkreisen zur Gotteserkenntnis, zur Schöpfungswirklichkeit, zur soteriologischen Bedeutung der Geschichte Jesu von Nazareth und zur Vollendung der Schöpfung (237–244) bewege. So fungiere materiale Dogmatik zugleich als Rahmentheorie theologischer Ethik. Diese wiederum konzipiert S. in ihrem Bezug auf das christliche Ethos als Güterlehre, Pflichtenlehre und Tu­gendlehre (253–263). Der Fundamentaltheologie schließlich weist er die Aufgabe zu, als »›Kunstlehre‹ des Argumentierens« (271) im Dialog mit anderweitigen Überzeugungen zu zeigen, dass sich die Alltagserfahrung im Licht des Evangeliums adäquat auslegen lasse. In dieser Zuordnung der systematisch-theologischen Aufgabenbereiche bringt S. zur Geltung, dass Dogmatik und Ethik auf eine prinzipielle Klärung der mit ihrer Theoriesprache in Anspruch genommenen Erkenntnisbedingungen angewiesen sind, dass sich aber über die Wahrheit des christlichen Glaubens nur Rechenschaft ablegen lässt im Rekurs auf die konkrete Auslegung seines Inhalts und seiner Ethosgestalt.
Theologie als positive Wissenschaft bedarf nach S. schließlich der Praktischen Theologie, die darauf ziele, »im Lichte einer sachgemäßen Bestimmung der menschlichen Praxissituation Regeln der religiösen Kommunikation des Evangeliums einzuüben und anzuwenden« (275). Dabei geht es ihm um den »Auftrag aller Getauften und Glaubenden, die notwendigen Bedingungen dafür zu erfüllen, daß auch andere durch Gottes Geist ›zur Erkenntnis der Wahrheit‹ (1 Tim 2,4) gelangen« (ebd.). Als »Theorie für die Praxis« (279) erscheint die Praktische Theologie in S.s Entwurf zwar nicht einfach als eine reine Anwendungswissenschaft, wohl aber als eine »technische Disziplin, die praxisbezogenes Wissen gewinnen und einzuüben sucht« (279). Wie in den anderen Disziplinen, so klärt S. auch hier Grundlegungsfragen, indem er den entwicklungstheoretischen, den wahrnehmungstheoretischen und den handlungstheoretischen Ansatz zur »Idee einer Allgemeinen Praktischen Theo­logie« (294) integriert und für die einzelnen praktisch-theologischen Subdisziplinen Regeln religiöser Kommunikation be­schreibt. Mit der Zuordnung des Kirchenrechts zur Praktischen Theologie unterstreicht er, dass kirchenleitendes Handeln wie die Rechtsgestalt der Kirche insgesamt der » Aufsicht über die öffentliche Kommunikation des christlichen Verstehens der Wirklichkeit« (307) zu dienen haben.
Die abschließenden Überlegungen im fünften Kapitel sind der theologischen Identität als dem Bildungsziel des theologischen Studiums gewidmet. Entscheidend ist nach S. dabei die Verbindung von Rationalität und Spiritualität, weil nur »im Medium einer eigenen Frömmigkeitspraxis« (314) die Rationalität der theoretischen und praktischen Regeln für kirchenleitende Berufe eingeübt werden könne. Somit gehört die theologische Identitäts­bildung selbst konstitutiv zum demjenigen Leitbild einer theo­logischen Berufspraxis, »das die ›selbständige Ausübung des Chris­tentums‹ und damit das Leben der Glaubenden in der individuellen Selbstverantwortung vor Gott für die private wie für die öffentliche Lebensgestaltung zum Ziele hat« (314). Wie die in den einzelnen theologischen Disziplinen zu vermittelnden Kompetenzen diesem Ziel zu dienen vermögen, zeigt S.s enzyklopädische Orientierung in kaum zu überbietender Konsistenz, indem die Grundlegungsfragen der einzelnen theologischen Fächer in einer Theorie christlicher Gewissheit fundiert und einer gemeinsamen praktischen Aufgabe zugeordnet werden. Wie tragfähig die Be­schreibung der einzelnen Disziplinen ist, muss in der Diskussion der Fachvertreter ausgelotet werden.
Dass ein solcher Diskurs für die enzyklopädische Gegenstandsbestimmung der Theologie grundlegend ist, weil diese selbst von der Bewährung durch die Forschung in den einzelnen Disziplinen abhängt und darin dem »unabgeschlossenen und unabschließbaren Prozeß des kritischen Verfahrens« (14) unterliegt, hätte m. E. in S.s Entwurf noch deutlicher zur Geltung gebracht werden können. Zu bedenken ist überdies, dass sich die Fragehorizonte im Umgang mit Religion gegenüber der Schleiermacherschen Problemkonstellation weiter pluralisiert haben und die Differenzierung gesellschaftlicher Funk­tionsbereiche einschließlich der Funktion von Religion dif­fuser geworden ist. Evangelische Theologie könnte in diesem Zu­sam­menhang ihre eigene Theorieentwicklung daraufhin befragen, ob in ihr nicht mehrere, einander nicht ausschließende Ansätze zur Bestimmung von Einheit und Aufgabe der Theologie bereitstehen, die sie in unterschiedlichen Fragehorizonten und Problemkon­stellationen gesprächsfähig sein lassen.
Die Reformulierung der Schlei­ermacherschen Konzeption, die S. in seinem anspruchsvollen Entwurf bietet, ist jedoch auf alle Fälle geeignet, Studierenden zu erschließen, warum die Theologie eine »große, schöne und ernste Wissenschaft« (VII) ist. Überdies ist zu wünschen, dass S.s enzyklopädische Orientierung die interdiszi­plinäre Verständigung der theologischen Fächer vertiefen hilft, die an­gesichts der Tendenz zur Verselbständigung der Disziplinen einer­seits und der anstehenden Umstrukturierung theologischer Studiengänge an­derer­seits dringlicher ist denn je. Darum sei Studierenden und Lehrenden die Lektüre dieses Buches ans Herz gelegt.