Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1250–1252

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Scheiber, Karin

Titel/Untertitel:

Vergebung. Eine systematisch-theologische Un­tersuchung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XII, 332 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 21. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-148893-1.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Obwohl das Thema Vergebung ein zentraler Gehalt des christlichen Glaubens ist und die Lehrstücke der gesamten Dogmatik zumindest mitbestimmt, gibt es kaum monographische Abhandlungen, die der Vergebungsthematik eigens gewidmet sind. Die Vfn. sucht hier Abhilfe zu schaffen, indem sie sich der Aufgabe stellt, einen »konsistenten, die göttliche und die menschliche Vergebung umfassenden Vergebungsbegriff« (11) zu erarbeiten. Die in Zürich eingereichte Dissertation (Gutachter: I. U. Dalferth/P. Bühler) ist entsprechend gegliedert. Im ersten Teil werden Aspekte der göttlichen (15–115), im zweiten die Konstitutionsbedingungen zwi­schenmenschlicher Vergebung (116–280) entfaltet und ab­schlie­ßend göttliche und menschliche Vergebung miteinander verglichen (281–316). Für die Behandlung der göttlichen Vergebung wählt die Vfn. eine trinitarische Gliederung. Hier werden – vielfach lexikalisch – verschiedene Gesichtspunkte angeführt, die im Kern die eigene Konzeption von Vergebungspraxis unterstützen sollen (zur Kritik s. u.).
Den eigentlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht die Vfn. in den Ausführungen zu den Bedingungen der Vergebung unter Menschen. Vor allem in der angelsächsischen, insbesondere sprachanalytisch geprägten Forschung, der sie sich selbst verpflichtet fühlt, findet sie wenige Ansätze für ihre eigene Fragestellung, die sie kritisch aufzunehmen sucht, was in jedem Fall verdienstvoll ist, da diese Tradition von nur wenigen in die deutschsprachige theologische Debatte eingebracht wird.
Um ihren eigenen Ansatz zu profilieren und den »moraltheoretischen Rahmen zum Verständnis von Schuld und Vergebung« (Kapitel 4) abzustecken, rekurriert die Vfn. zunächst äußerst kurz auf die konsequenzialistischen (116–118) sowie vertragstheoretischen Moraltheorien (119–121) und unterzieht auch die Kantische Ethik einer – wiederum höchst knappen – kritischen Prüfung (121–132) mit dem Ergebnis, dass erstere außer Stande sei, die Beziehungen von Individuen zu berücksichtigen, die zweite die moralische Dimension von Beziehungen unter Menschen nicht erfasse, Kant schließlich sei zwar an moralischen Individuen interessiert, »nicht jedoch an ihren alltäglichen Beziehungen zueinander« (144), »zwi­schenmenschliche Vergebung« finde bei ihm überhaupt keine Be­achtung (132). An Kants Konzeption der moralischen Person will die Vfn. indes festhalten. Aus der angelsächsischen Debatte greift sie Peter Strawsons Analyse moralischer Gefühle als reaktiver Haltungen auf und führt sie mit Jeffrie Murphy und Jean Hampton weiter zur Idee der »moralischen Kommunikation«, um die es im Vergebungsgeschehen gehe. Ferner prüft sie den Vergebungszuspruch in sprechakttheoretischer Perspektive (J. L. Austin, J. R. Searle). Die Vfn. sucht nach einer Möglichkeit, »wie Schuld und Vergebung als kommunikatives Interaktionsgeschehen von moralischen Personen, die miteinander in einer moralischen Beziehung stehen, verstanden werden können« (144). Damit ist die Fragestellung zugespitzt auf das Geschehen zwischen zwei als moralische agierenden Personen. Die Gemeinschaft und die Frage der kollektiven Schuld bzw. Schuldvergebung wird bewusst nur gestreift (93 ff.145.245 f.).
Aus besagtem Grundsatz heraus ergeben sich weitere Bedingungen, die für die Vergebung nach Auffassung der Vfn. unabdingbar vorauszusetzen sind. Es muss ein in moralischer Hinsicht verletzendes Geschehen der einen gegenüber der anderen Person vorliegen, von dem Letztere persönlich betroffen ist (vgl. besonders 230 ff.) und es übel nimmt und welches wiederum der Ersteren als moralisch verwerflich bewusst ist. Unter dieser Voraussetzung gilt grundsätzlich, dass von Seiten der verletzten Person nicht etwa bedingungslos vergeben wird.
Gegen den Gedanken der bedingungslosen Vergebung spricht sich die Vfn. entschieden aus, sei es, dass diese als Ausdruck der christlichen Barmherzigkeitsauffassung, sei es, dass sie als philosophische Option vertreten wird (224, besonders 254–265). Vielmehr kann gelingende Vergebung nur solcherart zu Wege gebracht werden, dass die verletzende Person vermittelt durch das Gefühl der Scham (152 ff.) ob der eigenen den anderen »verletzenden Botschaft« dazu gelangt, wahrhaftig Reue zu empfinden und auf Grund dessen eine entsprechende »Botschaft der Reue« an die verletzte Person sendet. Echte Reue ist Voraussetzung für die Vergebung und sie umfasst »ein Schuldeingeständnis, ein Bedauern über die Tat und deren Folgen, Scham über sich selbst, Zurücknahme der verletzenden Botschaft und das Einnehmen einer wertschätzenden Haltung« gegenüber der verletzten Person (156).
Damit vollzieht sich nicht nur ein Akt der Selbsterniedrigung des Bereuenden, sondern zugleich ein Appell an den anderen, ihn, den Urheber der verletzenden Botschaft, wieder als moralisches Wesen anzuerkennen. Weil es dabei um moralisch anzusehende und sich als solche verstehende Agenten geht, müssen die genannten Bedingungen beim Vergebungsvollzug eingehalten werden. Alles andere liefe darauf hinaus, den moralischen Status der Beteiligten zu unterlaufen. Es kann also keine »billige« Vergebung geben. Es kann auch keine Vergebung durch bloß indirekt Betroffene geben (234 ff., vgl. 25 ff.). Es muss um der Verantwortung für die Schuld willen angenommen werden, dass die zu Grunde liegende Handlung Ausdruck eines freien Willens (die Bestimmung desselben erfolgt im Anschluss an P. Bieri, 226 ff.) ist. Hiermit sind die wesentlichen Bedingungen für das Vergebungsgeschehen genannt (vgl. zusammenfassend 176.178). Damit es zum Ziel führt, »muss das Vergebungsverfahren von allen Beteiligten korrekt« (178) und »von allen Beteiligten vollständig durchgeführt werden« (179). Dazu gehört auch, dass Vergebung nicht verweigert werden darf, sie mithin zur »Pflicht« wird, wo die schuldig gewordene Person die Bedingungen zu ihrer moralischen Rehabilitierung erfüllt hat, auch wenn Vergebung grundsätzlich zu erbitten ist und nicht eingefordert werden kann.
Die Vfn. betont, was en de´tail zu berücksichtigen ist, wenn vergeben werden können soll, und wo Gefahren von Unterbestimmungen sowohl im wissenschaftlichen Diskurs dazu als auch in der Alltagspraxis lauern, die es abzuwehren gilt. Sosehr ihr zuzugeben ist, dass Vergebung von »moralischer« Qualität zu sein hat und nicht der Oberflächlichkeit preisgegeben werden darf, so kommt angesichts der eingeforderten strikten Einhaltung des von ihr aufgestellten Katalogs an Bedingungen die Frage auf, ob es dann überhaupt noch zur Vergebung kommen kann. In der so zugespitzten Frage könnte man nun gleichsam eine wesentliche Funktion ihrer Erläuterungen sehen, auf deren Hintergrund umso deutlicher wird, dass zwischenmenschliche Vergebung von der göttlichen Vergebung lebt und von ihr her allererst gelingend in Vollzug gesetzt wird. Jedenfalls könnte man darin eine entscheidende theo­logische Perspektive auf das verhandelte Thema sehen wollen. Geht man indes mit dieser Erwartung an den abschließenden dritten Teil (vgl. auch schon Teil I) der Untersuchung heran, so wird man doch eher enttäuscht. Dessen Aussagen gipfeln in der Behauptung, dass die göttliche in genauer Entsprechung zur menschlichen Vergebung zu verstehen sei und mithin denselben Bedingungen unterliege wie erstere.
Zwar bemüht sich die Vfn., die »Asymmetrie« zwischen Gott und Mensch festzuhalten (281 ff.); und sie kann auch affirmieren, dass »Gottes Vergebungswille … die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen überhaupt in der Lage sind, vergeben zu können« (308; vgl. 58–65). In den Ausführungen zum zwi­schenmenschlichen Vergebungsvollzug wird dies aber in seiner Bedeutung für diesen nicht wirklich zum Zuge gebracht. Stattdessen wird umgekehrt gesagt, dass die aufgestellten Bedingungen zwischenmenschlicher Vergebungspraxis ebenso für Gott gelten, »die Bestimmung von Gottes Handeln als Vergebung unterliegt wie alles Vergebungshandeln der konstitutiven Bedingung, dass es in Reaktion auf die Botschaft der Reue erfolgt« (301). Auch für die jesuanische Praxis wird betont: »Dass das Konzept der Vergebung begrenzt ist durch die sie bestimmenden Bedingungen, wird auch von Jesus nicht außer Kraft gesetzt, kann gar nicht sinnvoll außer Kraft gesetzt werden« (309). In Auslegung des Gleichnisses vom unbarmherzigen Knecht (anknüpfend an U. Luz) und im Rückgriff auf die jüdische Praxis am Jom Kippur sowie die rabbinische An­weisung Joma 8,9 wird darauf bestanden, dass die zwischenmenschlich erfolgte Versöhnung die Bedingung für Gottes Vergebung ist, so dass Gott jene Schuld, die nur zwischenmenschlich vergeben werden kann, nicht vergeben kann, mithin die verweigerte zwischenmenschliche Versöhnung eine »unvergebbare Sünde« darstellt. »Gott kann uns nicht vergeben, wenn wir nicht vergeben, obwohl wir vergeben könnten« (301). In dieser Perspektive wird auch die fünfte Vater-unser-Bitte ausgelegt und die Bitte um die göttliche an den Vollzug zwischenmenschlicher Vergebung rück­gebunden.
Indem die Vfn. das Vergebungsgeschehen in dieser Weise an die zu erfüllenden Bedingungen bindet, kommt ein zentrales Anliegen evangelischer Theologie m. E. nicht hinreichend zum Tragen. Müsste nicht stärker darauf reflektiert werden, wie und woraufhin wir überhaupt in Stand gesetzt sind, vergeben zu können, und ebenso, wie und woraufhin wir unsere Schuld eingestehen, Reue zu zeigen und um Vergebung zu bitten vermögen? Wäre nicht die Bedeutung der dem Sünder zuvorkommenden Gnade als bedingungslose Gabe im Vollzug göttlicher Vergebung besonders zu betonen? Müsste sich dieses Moment nicht auch im zwischenmenschlichen Vergebungsgeschehen spiegeln? Und wäre nicht eigentlich erst dadurch die Argumentation über die rechts- und moraltheoretischen Festlegungen hinausgeführt?