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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1243–1248

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried

Titel/Untertitel:

Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 395 S. gr.8°. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02566-4.

Rezensent:

Peter Steinacker

Mit dem Aufsatzband »Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik« legt der zuletzt in Heidelberg, davor in Marburg Systematische Theologie und speziell Ethik lehrende Theologe Wilfried Härle (Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Mitglied der früheren En­quete-Kommission des Deutschen Bundestages ›Ethik und Recht der modernen Medizin‹, Leiter des Heidelberger Interdisziplinären Forums für Biomedizin und Kulturwissenschaften, IFBK, sowie dessen Projekt ›Menschenbilder und Menschenwürde‹) den zweiten Teil der Sammlung von Aufsätzen vor. Der erste Teil erschien 2005 unter dem Titel »Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie« (Mohr Siebeck, Tübingen). Beide Bände sind, obschon in sich thematisch selbständig und ein geschlossenes (d. h. gerade nicht abgeschlossenes) Ganzes bildend, doch sachlich stark aufeinander bezogen. Während die sachliche Mitte der Beiträge des ersten Bandes bestimmt ist durch die Frage der Rechtfertigung und ihrer Explikation in Gestalt der Anthropologie »geht [es] in diesem [sc. zweiten] Band vor allem um die sozialen Gestalten, Auswirkungen und Konsequenzen des christlichen Glaubens«, wie H. ihn »kennen, verstehen, schätzen und lieben gelernt« hat (7).
Wie schon im ersten Band werden die hier publizierten Beiträge allesamt in einer bis dato noch nicht veröffentlichten Fassung vorgelegt. Neben den bisher unveröffentlichten Texten sind die be­reits anderswo publizierten Beiträge allesamt deutlich überarbeitet, d. h. erweitert oder umgearbeitet worden, um sowohl den in der weiteren Auseinandersetzung geltend gemachten Gesichtspunkten als auch den in der Zwischenzeit gewonnenen neuen eigenen Einsichten Rechnung zu tragen. Der hierin implizit deutlich werdende betont »geschichtliche Charakter« von systematisch-theo­logischen, d. h. dogmatischen und ethischen Argumentationen und Positionen, der von H. auch explizit festgehalten wird, wenn er (in Bd. 1, XVII) betont, dass diese Studien sein » derzeitiges theologisches Denken« (Hv. i. O.) spiegeln, stellt dabei keine zufällige oder gar widerwillig in Kauf genommene Begleiterscheinung dar, sondern er ist Programm, d. h. qualifizierter Ausdruck seines an Schleiermacher anschließenden Verständnisses von Theologie im Allgemeinen und von Dogmatik im Besonderen. Dass dieser Anspruch nicht nur behauptet, sondern auch eingelöst wird, veranschaulicht der umfangreiche, »Vorwort und Einleitung« be­nannte Teil.
Er hat einen Umfang von fast 17 Seiten und bildet im wahrsten Sinne des Wortes einen »Schlüssel« für diese Aufsatzsammlung, indem hier für jeden Beitrag Angaben zu seiner Veranlassung, seinem argumentativen Ziel, Schwerpunkten und Themen der Auseinandersetzung, seiner Einordnung in die jeweilige Debatte sowie schließlich auch zu Weiterentwicklungen und Über­arbeitun­gen gemacht werden. Die Qualität und Differenziertheit der hier gegebenen Informationen verleiht diesem Teil des Buches einen außerordentlich hohen Wert, der den »Gewinn« der Lektüre eines jeden Beitrags erheblich zu steigern in der Lage ist. Die hier zum Teil deutlich werdende Selbstkritik im Blick auf frühere Urteile oder auch eine früher verwendete Terminologie (cf. z. B. 26–38.49–53) zeugt von einem hohen Grad intellektueller Redlichkeit und theologischer Ehrlichkeit.
H.s spezifische Art theologischen Denkens spiegelt sich sowohl in der Anlage der Beiträge im Einzelnen als auch in der Anlage des Bandes insgesamt, d. h. in der Abfolge der Beiträge. Charakteris­tisch sind der Aufweis von Beziehungen und die Markierung von Übergängen. Dies betrifft nicht nur die Gesamtheit der Beiträge in ihrer Folge, die sich zum Teil organisch aneinander anschließen, Aspekte und Fragestellungen des vorhergehenden Beitrags aufgreifen, weiterführen, vertiefen und präzisieren. Dies betrifft auch die Art der Argumentation im Einzelnen. Denn nur scheinbar und auf den ersten Blick sind unter den Ziffern 2–11 Beiträge mit dogmatisch-ekklesiologischer Thematik versammelt und unter den Ziffern 12–25 solche mit lebensweltlich-ethischer Thematik. Tatsächlich sind beide Aspekte immer miteinander verbunden und bilden gewissermaßen zwei Brennpunkte einer Ellipse, wenngleich die Akzente jeweils unterschiedlich gesetzt werden. Genauer: Der Fokus verschiebt sich kontinuierlich von grundlegenden dogmatisch-ekklesiologischen Fragestellungen hin zu ethisch-lebensweltlichen Themen und betont interdisziplinären Betrachtungen – ohne dass hierbei die Einheit beider Aspekte fallen ge­lassen wird. Dieser Verzicht auf scheinbar klare und einfache Einteilungen sowohl im Aufbau der Beiträge als auch im Vollzug der theologischen Argumentation mag zunächst als eine intellektu­elle Herausforderung für die Leserin/den Leser erscheinen; es ist aber eine, die sich zweifelsohne lohnt.
Die Beiträge sind untereinander sachlich-thematisch wie auch argumentativ sehr deutlich »verzahnt«, d. h. es sind in der Regel mehrere Beiträge dieses Bandes, die einen Problemzusammenhang in gewinnbringender Weise zu beleuchten vermögen (z. B. Nr. 4, 5 und 11; 7 und 8; 12 und 13; 14–16; 19 und 20;17, 18 und 25). Es gibt auch deutliche Verbindungen zur Thematik und zu den Beiträgen im ersten Aufsatzband, speziell im Zusammenhang der Erörterung der Rechtfertigung bzw. der Rechtfertigungslehre (cf. hierzu die Beiträge Nr. 4, 5 und 17 sowie 22). Es ist außerordentlich spannend, hier vorgeführt zu bekommen, welchen heuristischen Sinn es macht, Dinge, genauer Aspekte und Hinsichten zu unterscheiden, die gemeinhin nicht unterschieden werden (z. B. den theologischen und sozialethischen Sinn von »Gerechtigkeit«), und andererseits Zusammenhänge zwischen Phänomenen aufgewiesen zu bekommen, die man gemeinhin nicht in dieser Weise in einen – produktiven – Zusammenhang bringt (z. B. Nr. 17 sowie 11 und 18).
Es ist H.s spezifisches Verständnis von (Systematischer) Theologie, das sich hier spiegelt – und in das er mit seinem ersten Beitrag »Christlicher Glaube im Kontext der gegenwärtigen Lebenswelt. Anmerkungen zu meiner ›Dogmatik‹« einführt, der einen wichtigen Schlüsseltext für diesen Band darstellt – und nicht zufällig am Beginn steht. Ausdrücklich vermerkt H. hierzu: »Der Titel der ersten ... Studie« habe »unverkennbar bei der Namensgebung für den ganzen Band Pate gestanden« (7). Diese (15-seitige) »Einführung« in seine (650 Seiten umfassende) Dogmatik will u. a. Zielsetzung, Aufbau und Kontextbezug seiner Dogmatik, die »immer auch den Charakter eines sehr persönlichen Credo(s) hat« erklären: Indem sie eben das tut, erhellt dieser gewissermaßen programmatische Eingangstext nicht nur das charakteristische theologische Denken von H., sondern lässt – gleich einem hermeneutischen Schlüssel – auch die Konzeption des vorliegenden Aufsatzbandes deutlich werden (das gilt auch für seinen früheren, ersten Aufsatzband). Hauptziel seiner Dogmatik bildet die Befähigung zu eigenständiger Urteilsbildung. In präzisierender Korrektur der Terminologie des sich in der 1. Auflage (1995) seiner Dogmatik findenden Einteilungsschemas von »Wesen und Wirklichkeitsverständnis des Christlichen Glaubens« spricht H. nun von »Rekonstruktion (des Wesens) und Explikation (des Wirklichkeitsverständnisses) des christlichen Glaubens«. Diese (sich dann auch in der Dogmatik ab der 2. Auflage findende) Terminologie bringt das auch schon früher Gemeinte besser und den Zusammenhang beider Denkbewegungen deutlicher zum Ausdruck, insofern das Wirklichkeitsverständnis gerade eine Explikation des Wesens desselben in unserer Le­benswelt darstellt.
Die von H. dann durchgeführte Klärung der möglichen Bedeutungen des Lebensweltbegriffs und seiner eigenen Verwendung desselben erweist sich – nicht nur für die Lektüre dieses Beitrags bzw. dieses Buches – als außerordentlich hilfreich (cf. auch in seiner Dogmatik, den Abschnitt 6, 168–192). Seine Differenzierung von möglichen Gebrauchsweisen und die Bestimmung seiner eigenen Verwendungsweise unterscheiden sich wohltuend von einer Vielzahl anderer Publikationen, in denen dieser Terminus zu einem überall verwendeten und nirgends klar bestimmten Modewort »verkommen« zu sein scheint. Die Lebenswelt bestimmt sich für H. präzise »als der Kontext oder der Ort des christlichen Glaubens«, präziser als der »Gesamtzusammenhang« (im Unterschied zur »Umgebung«), zu dem er gehört, dessen »Teil« er ist und von dem er daher nicht zu trennen ist (so bei Kontext im Sinne von Umgebung). H. plädiert mit seiner Verbindung von terminologischer Unterscheidung und gleichzeitigem sachlichen Zusammenhang für ein Verständnis des christlichen Glaubens, das sich verabschie det von der weithin verbreiteten »Vorstellung des Gegenübers zweier zunächst voneinander unabhängiger Größen ..., die erst (sekundär) zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen« (30).
Die Tatsache, dass H. explizit einräumt, »wie schwer es (ihm) gefallen ist«, sich von dieser im theologischen wie kirchlichen Alltag häufig leitenden Vorstellung zu lösen, unterstreicht die Wichtigkeit dieser Einsicht und ihrer Ernstnahme in der theologischen und kirchlichen Praxis. Es werden in diesem ersten programmatischen Beitrag darüber hinaus noch – gewissermaßen exkursartig – zwei Momente angesprochen und erörtert, die für sowohl die Dogmatik H.s als auch für sein theologisches Denken und Arbeiten insgesamt von struktureller Bedeutung sind, weil er sich in der Stellung zu diesen Punkten nicht nur von der Position manches Kollegen und mancher Kollegin unterscheidet, sondern insbesondere weil eben jene beiden Elemente es sind, die weitreichende Auswirkungen in materialer, d. h. sachlich-inhaltlicher Hinsicht für sein Denken und seine theologischen Urteile haben. Zunächst sind hier die Unterscheidung und präzisierende In-Beziehung-Setzung ka­tegorialer Unterschiede zu solchen quantitativer oder qualitativer Art zu nennen (Abschnitt 4 »Kategoriale Unterschiede«, 30 ff.; cf. Dogmatik, Kapitel 2.3.2.1, 74 ff. im Zusammenhang der Wesensbestimmung des Christentums). Diese Unterscheidung wird in der Dogmatik in zahlreichen Zusammenhängen relevant, von denen die Beziehung von Gott und Mensch nur eine ist. In zahlreiche Themen, wie z. B. Vorsehung, Christologie und Soteriologie reicht diese Frage hinein, insofern ein Zusammenhang zwischen beiden gedacht und formuliert werden muss, ohne dass Gott und Mensch als gleichartige, d. h. vergleichbare und damit unter Umständen auch konkurrierende Größen gedacht werden. Während quantitative und qualitative Unterschiede und Unterscheidungen sich also an dem orientieren, was in der Realität getrennt (d. h. je für sich) vorkommt oder jedenfalls getrennt werden und zugleich einem gemeinsamen Oberbegriff zugeordnet werden kann, beziehen sich die »(echten) kategorialen Unterscheidungen ... ihrerseits auf die allgemeinsten, nicht ableitbaren Grundbegriffe« und ermöglichen damit einerseits das Festhalten des kategorialen Unterschieds und andererseits die Denkbarkeit der untrennbaren Verbundenheit zwischen beidem (33).
In der Verbindung von kategorialer und transzendentaler Differenz in Anwendung kann H. dann interessante Folgerungen für die (immer metaphorische) menschliche Rede von Gott in religiösem und theologischem Zusammenhang ziehen, »wo inhaltlich (also nicht nur methodisch) von Gott und Welt gesprochen wird« (35). Auch das zweite Moment (Abschnitt 5, Rezeptiver und Produktiver Aspekt des Erkennens, 36 ff.; cf. Dogmatik, Kapitel 7.1.1, 195–207, frühere Überlegungen zum produktiven Erkenntnisaspekt: Im Kontinuum, Marburg 1999, 1–16) »betrifft das gesamte inhaltliche Reden von Gott und Welt«, hierbei aber besonders unter der Perspektive der Möglichkeit der Erkenntnis von etwas als etwas. In Anknüpfung an Kants Erkenntnistheorie und in Aufnahme von Einsichten der modernen Naturwissenschaft, namentlich der Quantenmechanik hinsichtlich der Mitbeeinflussung und Mitbestimmung der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen selbst durch den Erkenntnisakt, formuliert H. Folgerungen für ein leis­tungsfähiges, d. h. hinreichend komplexes und differenziertes Er­kenntnismodell. Entscheidend ist hierbei die Tatsache, dass jeder Erkenntnisakt sowohl rezeptive als auch produktive Momente enthält, wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung. Das produktiv-kreative Moment entsteht durch die Hypothesenbildung (Abduktion), der in sprachlicher Hinsicht die Figur der Metapher entspricht.
Hier zeigen sich nicht nur Verbindungen zum vorhergehenden Punkt (Sprachtheorie), sondern es erschließen sich am Beispiel des reformatorischen »simul iustus et peccator« die enorme Leistungsfähigkeit und der Gewinn dieses komplexen Erkenntnismodells, bei dem sich der rezeptive Aspekt stärker auf die Faktizität (peccator in re), der produktive Aspekt stärker auf die Möglichkeit (iustus in spe) bezieht. Diese Passagen verdienen nicht nur in explikativer oder apologetischer, d. h. retrospektiver Hinsicht wahrgenommen zu werden, sondern insbesondere auch in stilbildender Hinsicht für künftige theologische Diskurse. Der durch die beiden letzt­genannten Punkte (Abschnitte 4 und 5) gewährte Einblick in die »Denk-Werkstatt« eines Theologen, in dem sie nicht nur Ar­beits­ergebnisse formulieren, sondern gleichzeitig auch Themen, mit de­nen H. noch befasst ist, wird durch eine selbstkritische For­mulierung von »Unerledigten Aufgaben« abgeschlossen (Ab­schnitt 6).
H. exemplifiziert diese o. g. Perspektive in einem ersten Schritt in Studien zu Themen aus den Bereichen Ökonomie, Bildung, Ekklesiologie und Ökumene. Im Vollzug zeigt sich hier – wie auch bei den folgenden Beiträgen – durchgängig die spannungsvolle Einheit von theologischer Vergewisserung und Deutung von le­bensweltlichen Zusammenhängen. Dies macht den Reiz und auch den theologischen Wert dieser Studien aus und manifestiert sich in der Vernetzung mit Diskursen zu theologischen Grundlagenfragen, in denen der Rekurs auf Einsichten Martin Luthers ein alle Beiträge durchziehendes Element bildet. Sind die ersten elf Beiträge durch ein hohes Maß an binnen-theologischer Interdisziplinarität gekennzeichnet, erweitert sich der Umfang der im theologischen Gespräch berücksichtigten Perspektiven bei den eher lebensweltlich-ethisch geprägten Themen (Beiträge Nr. 19–25) aus vornehmlich den Bereichen Medizinethik und individueller sowie kollektiver Gewalt und Friedensethik um human-, sozial- sowie naturwissenschaftliche Disziplinen. In einem mittleren Abschnitt (Nr. 12–18) widmet H. sich explizit Fragen der Ethikbegründung sowie den weltanschaulichen – und d. h. auch dogmatischen – Voraussetzungen von Ethik, und zwar sowohl im Blick auf ihren Zusammenhang (Nr. 17) als auch auf ihre Differenz (Nr. 18). Bei beiden spielt der Begriff der »Gerechtigkeit« eine zentrale Rolle und markiert ein Thema, welches auch wieder ganz am Ende, im Zusammenhang der Friedensethik (Nr. 24–25), begegnet. So war es der von Luther »zunächst ethisch verstandene« Begriff der Gerechtigkeit, dessen »theologisches Neuverständnis« seine reformatorische Einsicht be­wirkte (282). Die Differenz und den Zusammenhang von sozial­ethischem und theologischem Gerechtigkeitsbegriff verdeutlicht H. dabei in scharfsinniger Gegenüberstellung von Lang- und Kurzformel der auf Ulipan zurückgehenden Definition (cf. 284–286). Die Grenze zwischen beiden Gerechtigkeitsbegriffen verläuft – und das ist für H. »ein Spezifikum des christlichen Glaubens« – nun gerade »innerhalb des Bedürfniskriteriums« – und »nicht innerhalb des Leistungskriteriums« (290). Während das theologische Verständnis von Gerechtigkeit sich in Richtung auf Erbarmen, Nächstenliebe und Agape entwickelt und gerade nicht mit der Geltendmachung von Rechtsansprüchen verknüpfbar ist, zielt der sozialethische Begriff auf Eröffnung und Gestaltung von Räumen für das Zusam­menleben, indem die zerstörerischen Folgen gestörter Beziehungen begrenzt, vermindert oder sogar vermieden werden (293). Dies hat Konsequenzen in friedensethischer Hinsicht. Dabei besteht für H. »der spezifisch christliche Beitrag zum Gerechten Frieden ... in der Erinnerung an die göttliche Feindesliebe, die in Jesus Chris­tus menschliche Gestalt angenommen hat, aus der wir leben, die uns also zuteilgeworden ist und immer wieder zuteilwird« (381).
Den Differenzpunkt bildet hier nicht die vermeintliche Intensität eines Bemühens, sondern bilden Grund und Motiv des auf gerechten Frieden zielenden christlichen Handelns. Anregend erweist sich in vielen Fällen die – zum Teil dem besonderen Entstehungszusammenhang geschuldete – Zuspitzung und Ausrichtung der Beiträge, die sich durch spezifische, unübliche Kontrastierungen auszeichnen, wenn z. B. das Allgemeine Priestertum nicht mit dem ordinierten Amt, sondern zur Kirchenleitung – und darüber das Denken der beiden »Kirchenväter« Luther und Schleiermacher in eine kritisch-produktive Beziehung gesetzt wird (106 ff.), oder wenn die »Grundlinien ev. Sozialethik« aus evangelischer Perspektive für einen römisch-katholischen Kontext (hier ein Handbuch) formuliert werden (238 ff.). Nicht wenige Beiträge können zudem als eine verdichtete Form eines forschungsgeschichtlichen Überblicks dienen, in denen die virulenten Positionen in diachroner und synchroner Perspektive systematisch analysiert und zusam­mengestellt werden (282 ff.294 ff.357 ff.374 ff.).
Der heuristische Gewinn des von H. dezidiert beschriebenen und hier beschrittenen Zugangs zeigt sich im Konkreten in einer Vielzahl weiterführender und zum Teil überraschender Einsichten. So zeigt H. unter der Überschrift »Ermutigende Enttäuschungen« Gründe auf, welche ihn veranlassen, diese vordergründig und allgemein als Enttäuschungen wahrgenommenen Einsichten tatsächlich und allen Ernstes als »ermutigend« zu bezeichnen, weshalb für H. »der derzeitige Stand der ökumenischen Beziehungen besser und vor allem verheißungsvoller (ist), als das vielerorts wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird« (138 ff, hier 155). Drei Gesichtspunkte sind hier für ihn leitend. Zunächst stellt das Durchschauen und Anerkennen von Täuschungen nichts weniger als die unabdingbare Voraussetzung für positive Schritte in die ökumenische Zukunft dar. Dann bieten Enttäuschungen »die Chance ..., im ökumenischen Gespräch das tatsächlich Trennende in den Blick zu bekommen und darauf die Aufmerksamkeit zu richten, um ... nach Möglichkeiten seiner Überwindung zu fragen« (152). Am wichtigsten ist die Einsicht in die Tatsache, dass Enttäuschungen (auch) als Ausdruck »der Treue gegenüber zuteilgewordenen Einsichten« und eines »Nicht-anders-Können« wahrzunehmen sind (153), denn laut CA V sind nicht wir Menschen es, die die Kirche, ihre wahre Einheit und Kirchengemeinschaft schaffen und erhalten, sondern »Gottes Geist« (155).
Im Blick auf die Frage, ob und inwiefern in ethischen Fragen der Rückgriff auf »die Natur« zulässig oder unsachgemäß ist, kommt H. im Durchgang durch eine scharfsinnige Analyse unterschiedlichster Phänomene und gesellschaftlich strittiger Themen zu der Einsicht, dass und inwiefern der Mensch von »der Natur« lernen kann und was er von ihr nicht zu lernen hat, verbunden mit der Einsicht, dass die Erkenntnis ebendessen voraussetzt, dass der Mensch nicht nur mehr, sondern auch anderes erfahren haben muss, als ebenjenes, was die Natur ihn von sich aus zu lehren vermag (168 ff.). Deutlich wird in allen, besonders den sich an ethischen Sachfragen orientierenden Beiträgen die unhintergehbare Verwiesenheit – und Angewiesenhei t– normativ ethischer Urteile auf Voraussetzungen weltanschaulicher Art. Die Frage des Zusam­menhangs beider wird – in Gestalt einer Widerlegung des von I. Kant für seine Ethik erhobenen An­spruchs – ausdrücklich durchgeführt und in seinen weitreichenden Konsequenzen für die Praxis, wie z. B. den schulischen Ethikunterricht als Ersatz- bzw. Alternativfach, ausgezogen sowie auf die Frage der Menschenwürde, zugespitzt auf bio- und medizinethische Fragen zum Lebensbeginn und -ende, erörtert.
Die bei und an H. als akademischem Lehrer bekannte und hochgeschätzte Fähigkeit, komplexe Sachverhalte in ebenso klarer wie präziser Form allgemeinverständlich und nachvollziehbar zur Darstellung zu bringen, hat sich auch in den in diesem Sammelband vereinigten Studien niedergeschlagen – zum Vorteil und Gewinn für die möglichst vielen Leserinnen und Leser, die man diesem Band wünscht.