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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1235–1237

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Runehov, Anne L. C.

Titel/Untertitel:

Sacred or Neural? The Potential of Neuroscience to Explain Religious Experience.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 240 S. m. Abb. gr.8° = Religion, Theologie und Naturwissenschaft. Religion, Theology, and Natural Sci­ence, 9. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-56980-1.

Rezensent:

Dirk Evers

Die Dissertation der schwedischen Theologin Anne Runehov, die als neunter Band in der Reihe Religion, Theologie und Naturwis­senschaft erschienen ist und den ESSSAT-Preis 2006 der European Society for the Study of Science and Theology gewonnen hat, be­schäftigt sich mit der Frage, ob und in welcher Weise neurowissenschaftliche Untersuchungen religiöse Erlebnisse erklären können und in welches Verhältnis sie zu theologischen und religionsphilosophischen Überlegungen gesetzt werden können. R. untersucht dazu die Verfahren und Ergebnisse der beiden bekanntesten nordamerikanischen Forschergruppen, die mit einiger öffentlicher Wahrnehmung und mit zum Teil diametral entgegengesetzten Thesen den Zusammenhang von Hirnfunktionen und religiösen Erlebnissen untersucht haben.
Doch zunächst entwickelt sie in Kapitel 2 ihrer Studie eine »philosophical toolbox«, in der sie die Unterscheidung von religiösen und nicht-religiösen Erfahrungen und den Status naturwissenschaftlicher Erklärungen in ihrem Verhältnis zu theologischen Theorien zu präzisieren sucht. Mit diesen Differenzierungen soll im Verlaufe der Arbeit bestimmt werden, welche religiösen Erfahrungen Neurowissenschaftler mit ihrer Methodik zu untersuchen im Stande sind. Problematisch erscheint R.s modelltheoretische Auffassung theologischer Theorien, die sie als »structural isomorphic, imperfect models of the perfect« (64) beschreibt, ohne die Be­hauptung struktureller Isomorphie methodisch sichern zu können.
In Kapitel 3 und 4 ihrer Arbeit stellt R. dann die Studien von Michael Persinger vor. Durch Befragungen von Personen, die Meditationstechniken ausüben, im Vergleich mit solchen, die das nicht tun, stellt Persinger einen Zusammenhang zwischen epileptischen Anfällen und religiösen Erfahrungen her. Außerdem meint er nachgewiesen zu haben, dass solche Erfahrungen durch magnetische Stimulation des rechten Schläfenlappens künstlich induziert werden können. Persinger interpretiert seine Ergebnisse so, dass in religiösen Erlebnissen Menschen in Krisensituationen Kindheitserfahrungen mit ihren Eltern nacherleben und als Begegnungen mit einem Gottwesen deuten. Wegen der vermeintlichen Tendenz solcher Probanten zu aggressivem Verhalten polemisiert er heftig gegen religiöse Überzeugungen überhaupt.
R. listet völlig zu Recht einige schwerwiegende methodische Einwände gegen Persingers Studien auf und weist nach, dass der von ihm behauptete Zusammenhang von epileptischen Anfällen und religiösen Erlebnissen zu den Voraussetzungen seiner Studien gehört, nicht aber als Resultat aus ihnen folgt. Ihre immer wiederkehrende Bemerkung, dass aus Persingers Ergebnissen nicht auf den schlechthin illusionären Charakter religiöser Erlebnisse oder gar auf die Nicht-Existenz Gottes geschlossen werden dürfe, ist allerdings ebenso richtig wie eigentlich selbstverständlich.
Ähnlich ausführlich analysiert R. dann in Kapitel 5 und 6 Studien von Newberg und d’Aquili, in denen diese mit Hilfe bildgebender Verfahren die Hirntätigkeit von buddhistischen Mönchen und franziskanischen Nonnen in meditativen Zuständen untersuchen. Newberg und d’Aquili wollen zeigen, dass das mystische Erlebnis einer Vereinigung mit einem »Absolute Unitary Being« den Kern religiöser Erfahrung über alle ihre kulturellen Ausprägungen hinweg darstellt und dass ein enger und spezifischer Zu­sammenhang zwischen dieser Form von Erfahrung und dem funktionalen Aufbau des Gehirns besteht. Religiöse Erlebnisse sollen dadurch zu Stande kommen, dass durch eine Deprivation des hinteren Scheitellappens von allen Eingangssignalen ein besonderes Einheitserlebnis erzeugt wird. Bei mystischen Erlebnissen handele es sich dann nicht um Wahnvorstellungen, sondern um »neurologisch reale« Erfahrungen. R. referiert all dies mit deutlicher Sympathie, weist aber in ihrer Auswertung auch auf die überzogenen Interpretationen der Studien hin.
In ihrer abschließenden Auswertung unterscheidet sie zwischen verschiedenen Formen von Reduktionismus. Persingers ontologisch-materialistische Erklärung religiöser Erfahrungen kritisiert sie als unangemessen und totalitär, während Newberg und d’Aquili ein exploratorisches Modell entwickelt hätten, das für eine Ergänzung durch andere Methoden und Einsichten offen sei. Eine solche Ergänzung stellt R. gleich selbst vor: Die These einer hirnphysiologisch identifizierbaren religiösen Einheitserfahrung als gemeinsamer Kern aller Religionen lasse sich mit pluralistischen Religionstheorien wie der von John Hick kohärent verbinden.
R.s Buch liest sich ruhig und flüssig, doch sorgt der mitunter etwas betuliche Argumentationsstil auch für einige Wiederholungen. Positiv hervorzuheben ist die Tatsache, dass jedes Kapitel mit einer ausführlichen Zusammenfassung schließt, was eine schnelle Orientierung im Text ermöglicht und die fehlenden Register verschmerzen lässt. Insgesamt ist R. eine hervorragende Vertrautheit mit den Verfahren der besprochenen Studien zu attestieren. Ihr scheint allerdings der fundamentale Unterschied zwischen beiden Ansätzen entgangen zu sein, der darin besteht, dass Persinger nach dem psychischen Gehalt von Erlebnissen fragt, die mit bestimmten neuronalen Vorgängen verbunden sind, während Newberg und d’Aquili umgekehrt die neuronalen Korrelate von bestimmten psychischen Erlebnissen untersuchen. Eine Beachtung dieser Differenz hätte einiges Licht auf die von R. monierten methodischen Schwierigkeiten geworfen.