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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

927 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jaumann, Herbert

Titel/Untertitel:

Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. 434 S. gr. 8o. = Brill’s Studies in Intellectual History, 62. Lw. $ 114,50. ISBN 90-04-10276-0

Rezensent:

Kurt Nowak

Gegenstand der weit ausgreifenden Untersuchung des Greifswalder Literaturwissenschaftlers Herbert Jaumann ist die Entstehung der neuzeitlichen Literaturkritik. 1715 schrieb N. H. Gundling in seinen "Gedanken von der Nothwendigkeit einer Critisirung der neu herauskommenden Bücher und Schrifften": "Es klaget jedermann heut zu Tage über die all zu grosse Menge der Studierenden, und über die ungeheure Anzahl unnöthiger und schlechten Bücher; und nichts desto weniger ist des Studierens und Bücherschreibens kein Ende, und keine Maße" (op. cit. 410). Wie war mit den vielen Büchern umzugehen? Die Erfindung des Buchdrucks, die Expansion des literarischen Marktes und die Ablösung kanonischer Regeln der Textproduktion und -rezeption brachten neue Formen des Umgangs mit Schrifterzeugnissen hervor.

Der Vf. hält in seiner Studie zwei Modelle der "Critica" neben- und gegeneinander und versucht, die Ursachen ihrer Differenz bzw. des Wechsels zwischen ihnen zu rekonstruieren: das "alteuropäische" und das neuzeitliche Modell. Critica im alten Sinne erfüllte sich in der "Grammatik". Quintilian, der sachlich und chronologisch den einen Pol der Untersuchung markiert, verstand unter Grammatik die "recte loquendi scientiam et poetarum ennarationem", d. h. den durch Sachwissen und philologische Kenntnis gegründeten Umgang mit Texten. Nach Meinung des Vf.s war das alte Modell durch drei Elemente charakterisiert: accessus ad auctores (ohne Vermittlungsleistung zum Publikum), imitatio/aemulatio (wetteifernde Nachahmung) und "Normenkontrolle" (102-104). Bei Jakob Thomasius, dem anderen Pol der Untersuchung, heißt es 1688, Autoren mit "widriger Meynung", seien zu "critisiren", zu "refutiren" oder "zu extrahiren nicht würdig" (284). Die Differenz im Verständnis der Kritik ist mit Händen zu greifen, doch gerade deshalb erklärungsbedürftig.

Trotz hohen Materialaufwandes erhebt der Vf. nicht den Anspruch auf eine historisch-genetische Darstellung. Sein Verfahren ist modellhaft. Sowohl das alteuropäische Modell als auch das neuzeitliche Paradigma der Kritik bilden gleichsam abstrakte Quersummen aus zahlreichen heterogenen Einzelbeobachtungen. Im Übergang von dem alten zum neuen Modell lösten sich kanonische Regeln auf. Die Historizität der Texte trat hervor. Die allmähliche Dekomposition des alten Modells vollzog sich den Beobachtungen des Vf.s zufolge in einem langgestreckten Prozeß bereits während des 16./17. Jh.s. Bei der Formierung jenes kritischen Potentials, das die alte Matrix auflöste und ein anderes Kategoriensystem vorbereitete, schreibt er drei Bewegungen besondere Bedeutung zu: dem Humanismus (L. Valla, A. Poliziano u. a.), der Frühgeschichte, der neuzeitlichen Bibelkritik und der Philosophie. Die Philosophie habe einen veränderten Kritikbegriff konstituiert, der dann auch in den weiteren Wissenschaften und in den Künsten seine Wirkungen entfaltete.

Nach Meinung des Rez. sind die Beschreibungen des alten Modells und dessen allmähliche Zersetzung aus zwei Gründen etwas zu flächig geraten. Zum einen nötigte der analytische Zielpunkt "Modell" den Vf. zu vielen Reduktionen. Zum anderen scheint die derzeitige Forschungslage zum Kritikverständnis der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit noch keine Synthese herzugeben, die durch Begriff und Anschauung gleichermaßen überzeugt. Ein Beispiel für Aporien der Forschung, die nicht zu Lasten des Vf.s gehen, ist die Geschichte der Bibelkritik im 16. und 17. Jh. In den Untersuchungen des Vf.s spielt sie eine wichtige Rolle. Die Auflösung und Umbestimmung von kanonischen Regeln arbeitete der neuzeitlichen libertas iudicandi zu. Leider verfügen wir noch nicht über eine umfassende Geschichte der historisch-philologischen Bibelkritik in der Frühen Neuzeit. Die Habilitationsschrift von Klaus Scholder von 1966 (engl. 1990 unter dem Titel "The Birth of Modern Critical Theology"), die große Monographie Henning Graf Reventlows aus dem Jahr 1980 sowie weitere Studien, die noch genannt werden könnten, erfüllen alle nicht den Anspruch einer Gesamtdarstellung. Was Wunder, daß die kurzgefaßte Skizze des germanistischen Literaturwissenschaftlers zur Bibelkritik (138 ff.) hinter den Erwartungen insbesondere des theologischen Lesers deutlich zurückbleibt und wohl auch zurückbleiben muß.

Seine Stärke entfaltet Jaumann, wenn er "Das neue Modell der literarischen Kritik und seine Praxis in Deutschland" (227 ff.) beschreibt. Hier ist der Fachmann für Neuere Deutsche Literatur (Schwerpunkt Frühe Neuzeit) zu Hause. Die Vorführung von Genres der gelehrten Publizistik, die Darstellung der periodischen Organisation der Kritik und die Analyse des neuen Kategoriensystems enthält viel Interessantes. Der Punkt des Umschlags vom alten zum neuen Modell war die "öffentliche, kritische Begleitung der aktuellen Literaturproduktion" (14).

Da die literarische Kritik im Wissenschaftsensemble der Frühen Neuzeit keine festen Ort hatte und auch in späterer Zeit kaum durch einen klaren Disziplinenbegriff repräsentiert war, blieb dem Vf. das onus aufgebürdet, die veränderten Wissensformen der Kritik, ihre Arbeitsfelder, ihre Genres (z. B. kommentierte Bücherlisten) und Begriffe näher aufzuspüren und zu klassifizieren. Welche kritischen Kategorien erzeugte die Forderung nach Aktualität, welche die periodische Organisation der Kritik? Die Wendung von der "critica perennis" zur aktuell fortlaufenden Kritik macht der Vf. in der «critique mondaine» fest. Sie beurteilte Texte im Licht der Maxime: «satisfaire le goût des délicats» (209). Im Bereich der Literaturwissenschaft schufen die Ästhetik und die Literaturgeschichte einen kategorialen Zusatzrahmen ("Die literarische Kritik seit dem 18. Jh. zwischen Ästhetik und Literarhistorie" [304 ff.]). Fragen könnte man, wie die Einführung von Indices zur Erleichterung der Lektüre zu beurteilen ist. Die Indices begünstigten selektive Formen des Umgangs mit Texten.

J.s Studie verdient die Beachtung der Theologie. Der Wechsel vom "alteuropäischen Modell" (ein m. E. allerdings nicht sehr glücklicher Begriff) zum neuzeitlichen Kritikmodell betrifft alle Künste und Wissenschaften, wenn auch in disziplinären Variationen. Was über Theorie und Praxis der neuzeitlichen Kritik an profanen Texten gesagt wird, scheint nicht ohne weiteres in die Diskurszusammenhänge der Theologie übertragbar zu sein. Auf jeden Fall enthält J.s Untersuchung eine Aufforderung an die Adresse der Theologie, sich der Geschichte der Bibelkritik vom 16. bis zum 18. Jh. stärker zuzuwenden als bisher. Auch eine Kritikgeschichte der theologischen Textproduktion, die über theologiegeschichtliche Untersuchungen im engeren Sinne hinausführt, wäre ein fruchtbarer Forschungsgegenstand.