Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1230–1232

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bourel, Dominique

Titel/Untertitel:

Moses Mendelssohn. Begründer des mo­dernen Judentums. Eine Biographie. Aus dem Französischen v. H. Brühmann.

Verlag:

Zürich: Ammann 2007. 816 S. gr.8°. Lw. EUR 39,90. ISBN 978-3-250-10507-7.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

»Es gibt Leben, die allein durch ihre Werke zählen. Das Leben Moses Mendelssohns (1729–1786) ist ein solches«, ist die Formulierung, mit der der Klappentext bereits zu Beginn auf das wichtigste Charakteristikum des Werkes hinweist, das sich auf den 577 Textseiten vornehmlich den Werken des Philosophen und ihrer Entstehung im geistesgeschichtlichen Umfeld widmet, die äußere biographische Entwicklung dabei eher vernachlässigt. So geht Dominique Bourel in seiner zuerst 2004 in französischer Sprache (Moses Mendelssohn. La naissance du judaïsme moderne) erschienenen und mit dem »prix parlamentaire franco-allemand« ausgezeichneten und seinem akademischen Lehrer Alexander Altmann gewidmeten Untersuchung z. B. nur selten auf Mendelssohns Familie ein, seine Frau, Fromet Gugenheim, kommt namentlich in dem Buch nicht vor, während sein Schwager Joseph Gugenheim im Zusammenhang der Wirkungsgeschichte von Mendelssohns »Jerusalem« einmal mit Namen erwähnt wird (398). Der Untertitel »Biographie« kann insofern zu Missverständnissen führen und unter Umständen Leser ansprechen, die mit der Lektüre der wohl bisweilen auch gefälligen und humorvollen, meist aber außerordentlich differenzierten, komplexen und detaillierten Darstellung mit einem An­hang von 200 S. (Anmerkungen, Literaturangaben und Personenregister) überfordert wären.
Die in der Einleitung bekundete Absicht, die 1995 an der Sor­bonne vorgelegte fünfbändige Habilitationsschrift in eine Form zu bringen, die die Balance hält zwischen einer populäreren, leichter zugänglichen Form und einer an den Ansprüchen eines akade­mischen Fachpublikums orientierten Darstellungsweise, kommt in­sofern in der Monographie nicht immer zum Tragen. Sie ge­währt jedoch eine tiefe Einsicht in die geistesgeschichtliche Entwicklung besonders im Berlin und Preußen der Aufklärungszeit in ihrem Bezug zur französischen Aufklärung und Moses Mendelssohns Einbindung darin. Somit setzt B. im Unterschied zu Alexander Altmann (Moses Mendelssohn. A biographical study, Alabama-London 1973) den Schwerpunkt weniger auf das innerjüdische Umfeld Mendelssohns, sondern auf seine Rolle in der Philosophiegeschichte Deutschland und Europas. Vorsichtig nähert sich B. in seinen beiden einleitenden Kapiteln, zunächst der Einleitung mit der an eine Formulierung von Isaak Marcus Jost erinnernden Überschrift »der letzte Moses«, dann in dem Kapitel »die Mendelssohnlegende«, seinem Gegenstand aus der Perspektive der Wirkungsgeschichte. Dabei wird schon in diesen beiden Kapiteln ein authentisches Bild des Philosophen vor dem Hintergrund eines positiven Preußenbildes in Auseinandersetzung mit modernen Verzerrungen und Verklärungen entwickelt. Mendelssohns Jugend in Anhalt ist dann das zweite Kapitel gewidmet. Ausgehend von der Ge­schichte Dessaus und seiner Konfessionsstruktur und einigen biographischen Da­ten legt B. schon hier das Hauptgewicht auf die geistige Entwick­lung Mendelssohns, in dieser Phase geprägt durch den Bildungsweg des jüdischen Jungen in der Jeschiwa bis zur Ausbildung durch den Rabbiner David Fränkel, dem er nach Berlin folgt. Fränkel fördert bereits in der frühen Zeit die philosophische Bildung seines Schülers, der sich schon in dieser Phase Leibniz und Wolff zuwendet. Das dritte Kapitel stellt »die Berliner Aufklärung« und Mendelssohns Weg in ihrem Umfeld dar. Begegnungen mit Lessing, Nicolai und anderen werden vor dem Hintergrund so­zial-konfessionsgeschichtlich differenzierter Darstellung entfaltet, wo­bei bereits hier eine Anspielung darauf, dass Lessing Mendelssohn im »Nathan« nicht recht getroffen habe, nicht fehlt. Der »Geburt eines deutschen Philosophen« ist das folgende Kapitel gewidmet. Es zeigt Mendelssohns philosophische Entwicklung in differenzierter Abhängigkeit von Leibniz und Wolff, zum ersten Mal auch seine Beziehung zu Spinoza, der später mehr Raum gegeben wird, sowie seine Stellung innerhalb der Krise der Metaphysik mit ersten Vergleichen zu Kant. Interessant in diesem Kapitel ist vor allem, wie der an der Sorbonne lehrende, aber auch in Heidelberg, Mainz, Harvard und Jerusalem ausgebildete und gewirkt ha­bende B. Mendelssohns Auseinandersetzung mit der französischen Aufklärung, vor allem mit ihrer areligiösen Haltung darstellt, wie sie insbesondere in seiner Rezensionsarbeit sichtbar wird, die auch vor einer Kritik Friedrichs II. nicht Halt macht. Mendelssohn sieht vor allem in der Abkehr von Christian Wolff einen Verfall der Philosophie. Im folgenden fünften Kapitel entfaltet B. Mendessohns Würdigung durch die Berliner Akademie vor dem Hintergrund einer ausführlichen Darstellung ihrer Geschichte. Interessant ist hier neben der Anerkennung des Philosophen durch die französischen Mitglieder natürlich vor allem die Darstellung des Preisgewinns Mendelssohns vor Kant mit der Arbeit über die »Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften« im Jahre 1763.
Bei allem auch in späteren Kapiteln deutlich werdenden Unterschied des Vertreters der natürlichen Religion zum Kritizismus Kants wird in Mendelssohns Preisarbeit – wie B. plausibel nachweist – auch bereits eine Nähe des Philosophen zu seinem Königsberger Kollegen in der Unterscheidung von der »blos theoretischen« und der »praktischen Überzeugung«, die das »Gemüth bewegt« (216), deutlich. In der Darstellung der Akademiegeschichte räumt B. auch mit der weit verbreiteten Auffassung auf, dem Preisträger Mendelssohn sei die Aufnahme in die Akademie durch ein Veto Friedrichs II. versagt worden. B. weist nach, dass dabei gegenüber dem Juden eher eine Art Selbstzensur der Gremien der Akademie wirksam war. Dem ersten großen publizistischen Erfolg Mendelssohns, dem 1767 erschienenen »Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen«, widmet B. ein ganzes Kapitel. Auch hier führt er durch die Analyse zahlreicher Quellen, vor allem an Mendelssohn gerichteter Briefe nebst dessen Antwort, zum Werk selbst hin, zeigt die Entwicklung der Gedanken Mendelssohns, seine im Werk selbst ausgearbeitete Ergänzung Platons durch Gedanken von Leibniz und Wolff. In dem Zusammenhang wird auch von dem Tod von Mendelssohns Tochter Sara im Jahre 1764 berichtet, von der Mendelssohn in einem Brief an Thomas Abbt schreibt, ›die Unschuldige habe die elf Monate nicht vergebens gelebt‹, ein Beispiel dafür, dass sich in der Monographie äußere biographische Daten der Werkanalyse unterordnen. Der Phädon erscheint als Mittelding zwischen selbständiger Ausarbeitung und Übersetzung, er zeigt im Vergleich zu Platon Sokrates mehr als Metaphysiker denn als Moralist. Besonders interessant ist hier wie auch bei der Analyse der anderen Werke Mendelssohns die Darstellung der zeitgenössischen Rezeption, etwa durch Kant, der zwar später in der Kritik der praktischen Vernunft ein Unsterblichkeitspostulat formuliert, Mendelssohns Beweisführung im Phädon aber misstraut, Mendelssohn gegenüber zwar einräumt, die einfache Natur der Seele könne nicht durch Zerteilung zerstört werden, wohl aber durch eine Minderung der Kräfte. Der Lavateraffäre sowie der Initiierung der Emanzipation der Juden durch die Schrift Christian Wilhelm Dohms widmet B. jeweils ein eigenes Kapitel. Auch hier werden das jeweilige Umfeld, die Auseinandersetzung, die Entstehung der Schrift Dohms und Mendelssohns Einfluss darauf minutiös ausgeleuchtet.
Als die wichtigste und eigenständigste Schrift Mendelssohns, als »die Charta des modernen Judentums« stellt B. »Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judentum« dar, die Schrift, in der der Philosoph die Trennung von Kirche und Staat fordert, religiöse Toleranz für unabdingbar für ein Gemeinwesen erklärt, der Religion jegliches Recht auf Gewalt in Form von Bann etwa abspricht. Die Darstellung der Auseinandersetzungen um dieses Werk ist so spannend wie die des letzten Kapitels vor dem Zusammenfassung und Ausblick bietenden »die Ehre der Vernunft«, »der Streit um Spinoza«. Hier wird Mendelssohns letztes Werk »Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes« analysiert, in dem er in Auseinandersetzung mit Friedrich Heinrich Jacobi, der mit dem Vorwurf, Lessing sei Spinozist und damit Atheist, bei grundsätzlicher Würdigung derer Gedanken eine kritische Sicht der natürlichen Theologie entfaltet und einen Salto mortale in den Glauben für notwendig hält. Demgegenüber behauptet Mendelssohn seine Religion der Vernunft, hält an der Beweisbarkeit Gottes fest. Kant ergreift seine Partei gegen Jacobi, obwohl er – nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft (1781) – auch Mendelssohn Position nicht teilen kann. Der Chronologie folgend sind diese beiden Kapitel über »Jerusalem« und die »Morgenstunden« unterbrochen von einem Kapitel über Mendelssohns Bibelübersetzung und die in­nerjüdische Auseinandersetzung darüber.
Insgesamt legt B. ein Werk vor, das Moses Mendelssohn als einen deutschen Philosophen und überzeugten Juden zu zeigen ver­mag, der sich im Berlin der Aufklärung einem bürgerlichen Brotberuf nachgehend unter aufgeklärten Bürgern bewegt, Bekehrungsversuchen zu widerstehen und die Nähe des Judentums zur Religion der Vernunft zu zeigen vermag. Es ist zu begrüßen, dass ein Schweizer Verlag die Übersetzung dieser großartigen Monographie ins Deutsche besorgt hat. Vielleicht findet sich ja ein deutscher Verlag, der die als Ergänzung wichtige Biographie von Alexan­der Altmann aus dem Englischen übersetzen lässt.