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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1227–1230

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt am Main 1929/30). Hrsg. u. m. einer Historischen Einleitung versehen v. E. Sturm.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. LX, 379 S. 8° = Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, XV. Geb. EUR 168,00. ISBN 978-3-11-019662-7.

Rezensent:

Hermann Fischer

Mit dem neuen Nachlassband zu den Gesammelten Werken partizipiert der Leser an den geschichtsphilosophischen Reflexionen T.s und gewinnt zugleich einen Einblick in seine Bemühungen um die Sozialpädagogik. Wie schon die bisherigen Bände hat Erdmann Sturm auch den jetzt vorliegenden wieder mustergültig ediert. In seiner aus den Quellen erarbeiteten instruktiven und materialreichen »Historischen Einleitung« (XXIII–LIX) informiert der Herausgeber u. a. über die verwirrenden Hintergründe der von T. eigentlich nicht beabsichtigten und auch nicht gewollten Berufung auf eine Professur für Philosophie an der Universität Frankfurt a. M. 1929 und über die damit verbundenen Arbeitsgebiete, zu denen auch die Sozialpädagogik gehörte. Die Vorlesungen über »Ge­schichtsphilosophie« verdienen, selbst wenn von den geplanten drei Teilen nur der erste und der Beginn des zweiten zur Ausführung gelangt sind, deshalb ein besonderes Interesse, weil T. hier zu einer geschichtsphilosophischen Gesamtkonzeption ansetzt und das Thema nicht, wie in seinen bisherigen Publikationen, unter einer spezifischen Fragestellung behandelt wie etwa in seinen Studien »Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte« (1926) oder »Eschatologie und Geschichte« (1927). Der knappe, ca. 1923/24 geschriebene Entwurf »Einleitung in die Geschichtsphilosophie« (vgl. EGW X, 426–431) dokumentiert die Entwicklung, die sich in T.s Denken von damals bis zu seiner 1929/30 gehaltenen Vorlesung inzwischen vollzogen hat.
T. entwirft Geschichtsphilosophie als »Philosophie der Begegnung«. Geschichte wird existentialphilosophisch als sinnhafte Be­gegnung gedeutet. Der erste der geplanten drei Teile ist überschrieben: »Die Geschichte als allgemeine ursprüngliche Begegnungsart«. Begegnen heißt Vorstoßen auf Grund eines Stehen-Bleibens. »Wir begegnen uns selbst als gespannt über uns hinaus« (9). Ein durch Vorstoßen ermöglichtes Begegnen zeugt von einer be­stimmten Mächtigkeit. Deshalb heißt es: »Die Mächtigkeit der Begegnung ist die Mächtigkeit des Vorstoßen-Könnens, ohne sich zu verlieren, ohne aufzuhören zu stehen, ohne die Gegründetheit aufzugeben« (9). Dem Menschen eignet die Fähigkeit, ständig über sich hinaus zu sein, und dieser Lebensprozess vollzieht sich als Begegnung und Selbstbegegnung. Dieser Grundgedanke wird in subtilen, an Heideggers in »Sein und Zeit« entwickelte Existential­ontologie erinnernden Analysen und in Aufnahme seines Begriffs der »Geworfenheit« (vgl. 56) entfaltet.
Vorstoßen als Element des Über-sich-Hinaus-Seins auf Grund des Bei-Sich-Seins geschieht immer in Raum und Zeit, und für die Erläuterung dieses Problemhorizontes greift T. auf Kants Theorie von Raum und Zeit als transzendentalen Anschauungsformen zurück: Es gibt unterschiedliche Modi des Raums und auch unterschiedliche Modi der Zeit, aber jeder »dieser Räume und Zeiten ist ein a priori des Begegnens« (23). Die Mächtigkeit der Begegnung bedeutet ein Sich-Raum-Schaffen und ebenso ein Sich-Dauer-Schaffen (vgl. 13).
Dabei fasst T. den Begriff des Begegnens extrem weit, bezieht ihn nicht nur auf die menschliche Existenz, sondern auf Seiendes überhaupt. Das Sich-Raum-Schaffen gilt schon für das Anorganische, dann weiter aufsteigend für das Vegetative und das Animalische und gipfelt im technischen Sich-Raum-Schaffen des Menschen. Während auf den unteren Stufen die Zeit an den Raum gebunden bleibt, gewinnt sie im Begegnungsgeschehen des Menschen eine neue Qualität, tritt ekstatisch aus dem Raum heraus. Vereinfacht und mit Anklängen an Max Scheler könnte man die qualitative Veränderung beschreiben als den Wandel von der Um­weltgebundenheit des Animalischen zur Weltoffenheit des Menschen. Für den Menschen hat Begegnung den Charakter des nicht mehr Gefangenseins, »des Frei-Bleibens in der Begegnung. ... Welt haben heißt also, das Begegnende als mögliches Begegnendes sich gegenüber haben. Welt haben heißt, durchgebrochen sein durch die animalische Gebundenheit« (27). Mit dieser Fähigkeit, in jeder Begegnung über das Begegnende hinausgehen zu können, wandeln sich Raum und Zeit zu Welt-Raum und Welt-Zeit, erschließt sich dem Menschen die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Erst in solcher Perspektive wird mit der Begegnung zugleich Selbstbegeg­nung möglich.
Dem welthaft Begegnenden eignet die Qualität der Sinnhaftigkeit (32). T. widmet dem sinnhaften Begegnen in allem welthaft Begegnenden weitausgreifende Analysen (32 ff.). Er versteht sein eigenes Unternehmen als Sinn-Philosophie. »Die Begegnungs-Analyse zeigt uns, daß alle unsere Begegnungen Sinn-Begegnungen sind, daß wir mit gerichtetem Sinn begegnen und in der Sinn-Anerkennung oder Ablehnung stehen, ohne den Sinn und seine unbedingte Forderung abschieben zu können« (37).
Die Existentialanalyse sinnhafter Begegnung wird, veranlasst durch das Thema der Vorlesung, auf die historische Zeit bezogen. Unter »historischer Zeit« versteht T. diejenige Zeit, »in der ich hinausstoße über die mir gegebene Spanne Zeit in das Überzeitliche ...« (173; vgl. auch 49). Was das bedeutet, wird an den drei Modi der historischen Zeit, an der Zukunft (57–59 bzw. 181–184), an der Vergangenheit (59–67 bzw. 184–193) und an der Gegenwart (67–71 bzw. 193–197) – in dieser Reihenfolge! – ausgeführt. Dabei versteht T. die Zukunft als ausgezeichneten Modus der historischen Zeit, weil das Über-Sich-Hinausgehen die Bedingung der Möglichkeit von Be­gegnen ist. »Zeit haben heißt primär, Zukunft haben, nämlich eine Spanne haben, die vorweggenommen wird, und ein sinnhaftes Ziel, auf das über den Tod hinaus vorgestoßen wird« (57). Erst von der Zukunft her erschließen sich die Modi der Vergangenheit und der Gegenwart. Den »Historismus« diagnostiziert T. als Fehlform geschichtsphilosophischen Denkens, weil es sich für die Ge­schichte an der Vergangenheit orientiert (59.183). »Für bürgerli-ches Ge­schichtsbewußtsein ist das historische Ruhen auf der Ver­­gangenheit das Wesentliche« (184). Dem wird das »proletarische Be­wußtsein« gegenübergestellt, das sich durch das Hineingerissenwerden in die Zukunft auszeichnet und insofern dem Begegnungscharakter der Geschichte entspricht. T. verschärft diesen idealtypisch zugespitzten Gegensatz eines an der Zukunft bzw. an der Vergangenheit ausgerichteten historischen Denkens durch die Gegenüberstellung von Seins- und Begegnungsanalyse. Während die Seinsanalyse die Vergangenheit als reales Geschehen, als »Ge­genständliches« einstuft, das »abgetan« ist (59), gewinnt die Vergangenheit unter dem Vorzeichen der Begegnungsanalyse ihr Profil von der Zukunft her. »Wir schaffen uns Vergangenheit, indem wir uns Zeit schaffen« (60). Oder anders: »Wir sind vergangen, weil wir zukünftig sind. Das gesamte Verstehen der Vergangenheit muß ausgehen vom Verstehen der Zukunft« (184).
Der jetzt nur in groben Zügen umrissene geschichtsphilosophische Entwurf T.s zeigt sich auf unterschiedliche Weise durch Gedanken Nietzsches, Bergsons, Gogartens, Heideggers und Schelers inspiriert, ohne dass T. sich mit diesen Positionen weiter auseinandersetzt. Manchmal nennt er noch nicht einmal Namen. Das gilt z. B. für Gogarten, obwohl Anregungen von ihm, der in seinem 1926 erschienenen Buch »Ich glaube an den dreieinigen Gott« Be­gegnung als zentrale geschichtstheologische Deutungskategorie entwickelt hatte, unverkennbar sind. T. entfaltet seinen Entwurf aus dem Grundgedanken der Begegnung und greift auf, was sich dieser Konzeption integrieren lässt, blendet aber den historischen Diskussionskontext aus. Das erschwert die Orientierung und das Verständnis. Hinzu kommt, dass T. mit seinem Vorlesungsmanu­skript hinter seiner eigenen Planung mit drei Teilen zurückgeblieben ist und überdies von insgesamt 28 Doppelstunden (1–118) ab der 17. (95 ff.) seinen Text nur noch skizziert, aber nicht mehr ausgearbeitet hat. Als Ausgleich für diese Schwierigkeit bietet die Edition allerdings eine sehr gute Mitschrift der Vorlesung (119–289), die das Verstehen des Original-Manuskripts erleichtert.
Wie sehr T.s Gedanken aber im Zusammenhang mit der Tradition und der damaligen geschichtsphilosophischen Diskussion stehen, belegen die beiden Beilagen mit Themen für Seminararbeiten und Literatur für ein 1928/29 noch in Dresden und Leipzig gehaltenes Seminar über »Die religiöse Sinndeutung der Geschichte« (349–351) und für 1929/30 in Frankfurt a. M. abgehaltene »Ge­schichtsphilosophische Übungen« (352–360). Hier taucht der Name von Gogarten dann gleich mehrfach auf.
Der Band enthält noch eine Vorlesung T.s über Sozialpädagogik, die er im gleichen Semester in Frankfurt a. M. gehalten hat (291–348). Auch hier verzichtet T. so gut wie ganz auf die Einordnung seines Ansatzes in das damalige sozialpädagogische Dis­kussionsum­feld und setzt ebenfalls systematisch beim Grund­geschehen der Begegnung ein, um es dann für die spezifischen Bedürfnisse sozialpädagogischer Arbeit auszudifferenzieren. Al­ler­dings bleibt auch diese Vorlesung weiter hinter T.s eigenen Planungen zurück, wie sich aus der auf S. 291 mitgeteilten Gliederung ergibt. Von den fünf vorgesehenen Teilen ist nur der erste aus­gearbeitet, gegen Ende wiederum nur skizzenhaft, ein zweiter kommt über die Nennung von Themen nicht hinaus (345–348). Da für diese Vorlesung eine ähnlich gute Nachschrift wie zu den Vorlesungen über »Ge­schichtsphilosophie« fehlt, gewinnt der Leser wohl ein Bild von T.s sozialpädagogischen Grundgedanken, aber die argumentative Feinstruktur wird nur in Ansätzen sichtbar.
Gleichwohl bekundet dieses Fragment ebenso wie die Vorlesungen über »Geschichtsphilosophie« die Originalität und die systematische Kraft des T.schen Zugriffs. Insofern bereichert der Band unser Wissen von seiner philosophischen (und sozialpädagogischen) Arbeit in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit in Deutschland vor der Emigration und lässt Verbindungslinien ebenso zu seinem frühen wie zu seinem späteren philosophisch-theologischen Werk erkennen.