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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1224–1226

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Holtmann, Stefan

Titel/Untertitel:

Karl Barth als Theologe der Neuzeit. Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 444 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 118. Geb. EUR 79,90. ISBN 978-3-525-56346-5.

Rezensent:

Markus Höfner

Dass Karl Barth ein Theologe in der Neuzeit ist und seine Theologie in Rezeption und Kritik neuzeitlicher Denk- und Sprachformen entfaltet, ist evident. Kontrovers jedoch wird die Frage diskutiert, inwiefern Barth auch in dem Sinne als Theologe der Neuzeit gelten kann, dass er den Problemstellungen dezidiert neuzeitlicher Theologie zwischen Schleiermacher und Troeltsch verpflichtet bleibt und die Tradition neuprotestantischer Theologie daher nicht abbricht, sondern fortsetzt. Zu dieser Diskussion leistet Stefan Holtmann in seinem Buch einen indirekten, aber nicht weniger instruktiven Beitrag, indem er prägnante Positionen einer ›kritischen‹, die Kontinuität zum Neuprotestantismus betonenden Barth­deutung einer eingehenden Analyse unterzieht. In seiner von Michael Beintker betreuten und 2007 mit dem Dissertationspreis der Theologischen Fakultäten in Münster ausgezeichneten Promotionsarbeit tritt dabei neben die ausführliche, historisch-genetische Untersuchung der Ansätze von Trutz Rendtorff, Falk Wagner und Friedrich Wilhelm Graf die kürzere Darstellung neuerer Deutungsvorschläge von Dietrich Korsch und Georg Pfleiderer.
Den Ausgangspunkt seiner Analysen bildet für den Vf. die Beobachtung, dass der Streit um die Neuzeitlichkeit der Theologie Barths nicht allein von theologiegeschichtlichen Interessen ge­prägt ist, sondern immer auch als Diskussion um die legitime Ge­stalt der Theologie in der Neuzeit geführt wird. Geht es den dargestellten Positionen daher um eine Historisierung der Theologie Barths, so zielt der Vf. in seinen Analysen auf eine Historisierung der ›kritischen‹ Barthdeutung selbst, um die theologiegeschicht­liche Perspektivität und das die Barth-Rekonstruktion leitende Theologieverständnis der genannten Autoren herauszuarbeiten.
Die kritische Analyse der ›christentumstheoretischen Aufhebung‹ der Theologie Karl Barths bei Trutz Rendtorff bildet den ersten und ausführlichsten Teil des Buchs (21–157). In seiner umfassenden Rekonstruktion des Denkweges Rendtorffs betont der Vf. vor allem den prägenden Einfluss der Hegel-Deutung Jo­achim Ritters, an die Rendtorff mit seiner Konzeption des neuzeitlichen ›Christentums‹ anknüpft. Die Theologie Barths würdigt Rendtorff dabei zum einen als Fortsetzung neuzeitlicher Theologie, in der die Probleme der Subjektivität und des Historismus in neuer Weise bearbeitet werden, zielt jedoch zugleich auf eine Überbietung Barths in der eigenen ›Theorie des Christentums‹, mit der die Geschichte der Neuzeit allererst als Geschichte der Freiheit aus christlichen Wurzeln begriffen werden soll. Die Barthdeutung Falk Wagners (173–257) profiliert der Vf. im Vergleich zum Entwurf Rendtorffs. Barths Theologie stellt für Wagner wie für Rendtorff in ihrem eigentlichen, durch die biblisch-dogmatische Sprache nur verkleideten Kern eine Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Subjektivitätsproblematik dar, jedoch erblickt Wagner die legitime Gestalt neuzeitlicher Theologie anders als Rendtorff in einer an Hegel und Wolfgang Cramer anschließenden Theorie des Absoluten. Indem er von dieser ausgeht, ist Wagners Barthdeutung zu­gleich ›theo-logischer‹ und kritischer als diejenige Rendtorffs: Wagner kann Barths trinitarische Entfaltung des Gottesgedankens als Explikation des Absoluten würdigen, um jedoch zugleich deren grundsätzlichen Mangel in einer ›Gleichschaltung‹ des Menschen zu sehen, die, indem sie das ›starke andere‹ aus dem Begriff des Absoluten ausschließt, totalitäre Züge annimmt. Gegenüber den beiden genannten Positionen liegt das Proprium der Barthdeutung Friedrich Wilhelm Grafs aus Sicht des Vf.s in der konsequenten Historisierung des Denkens Barths im Rekurs auf sozial- und kulturgeschichtliche Forschungen (259–329). Graf interpretiert Barths Theologie als Gestalt der ›antihistoristischen‹ Revolution der 1920er Jahre und akzentuiert dabei ihren Charakter als Elitetheorie, der die theologischen Gehalte des Barthschen Entwurfs funktional zugeordnet werden. Im Unterschied zu Rendtorff und Wagner zielt Graf allerdings nicht auf eine Überbietung der Theologie Barths durch einen eigenen Theorieentwurf, sondern lenkt den Blick zu­rück auf die von Troeltsch formulierte Gestalt neuzeitlicher Theologie, deren aus seiner Sicht überlegene Modernität er kritisch gegen die Theologie Barths und deren Rezeption zur Geltung bringt.
Die zwei neueren Ansätze einer ›kritischen‹ Barthdeutung, de­nen sich der Vf. abschließend zuwendet, sind aus seiner Sicht durch den Versuch geprägt, die Kontinuität zwischen Barth und der liberalen Theologie im Denkweg Barths selbst aufzuzeigen, indem sie sich auf dessen inzwischen zugänglich gewordene ›vordialektische‹ Schriften stützen. Die Barth-Interpretation Dietrich Korschs (331–356) vollzieht sich dabei in kritischer Wendung gegen die zuvor genannten Positionen und ist von dem Anliegen getragen, die Theo­logie Barths produktiv im Blick auf eine ›dialektische Theo­logie nach Karl Barth‹ fortzuschreiben, die ihre kultursynthetische Kraft in der spätmodernen Situation der Gegenwart be­währt. Ebenfalls auf die Gegenwartsbedeutung des theologischen Entwurfs Barths zielt die Barthdeutung Georg Pfleiderers (357–408), der diese als exemplarische theologische Auseinandersetzung mit der Ambivalenz der Moderne expliziert. Pfleiderer sucht eine Fixierung auf die normativen theologischen Gehalte des Denkens Barths zu überwinden, indem er dessen Theologie als von vornherein rezipientenorientierte, pragmatische Theorie beschreibt und dabei vom bleibenden Einfluss neukantianischer Motive auf die theologische Entwicklung Barths ausgeht.
Die skizzierten Analysen prägnanter Positionen einer dezidiert neuzeitlichen Barthdeutung sind umsichtig und können in der Sache durchweg überzeugen. Der Vf. profiliert seine Argumentation zudem, indem er an systematisch entscheidenden Stellen auf Barths eigene Texte rekurriert, und ergänzt sie durch einen erhellenden Exkurs zur Barth-Kritik Friedrich Gogartens.
Der Gewinn dieser Arbeit besteht zum einen darin, dass mit ihr (meines Wissens erstmals) ein differenziertes Bild der verschiedenen Positionen ›kritischer‹ Barthdeutung gezeichnet wird, das deren spezifische Perspektivität und das jeweils leitende Theologieverständnis deutlich hervortreten lässt. Zum anderen verbindet der Vf. seine sachgemäße Darstellung der genannten Positionen mit einem klaren Blick für ihre jeweiligen Schwachpunkte. Dabei überzeugt vor allem, dass der Vf. den ›kritischen‹ Deutungen Barths nicht mit einer positionellen Gegenkritik begegnet, sondern sie bei ihrem eigenen Anspruch behaftet: So stellt er Rendtorff und Wagner gegenüber die Frage, inwiefern die von ihnen vorausgesetzte Neuzeitdeutung und das jeweilige Freiheitsverständnis überzeugen können, während er den historisierenden Zugriff Grafs (und Pfleiderers) mit dem Problem belastet sieht, dass wichtige historische Faktoren der Denkentwicklung Barths wie die Theologie Becks, die Begegnung mit Christoph Blumhardt und vor allem der Rekurs auf biblische Traditionen unterbestimmt bleiben. Als Konsequenz aus diesen und weiteren Beobachtungen fordert der Vf. im Anschluss an eine prägnante Zusammenfassung seiner Analyseergebnisse (409–414) eine ›fundamentaltheologische Reflexion als Prolegomenon der Barthdeutung‹ (414–424). In dieser sollte aus seiner Sicht Barths eigenes Theologieverständnis be­nannt und mit dem seiner Interpreten in Beziehung gesetzt werden, und die Grenzen der von Barth rezipierten philosophischen Theorien sollten im Verhältnis zu den biblischen und dogmatischen Quellen seiner Theologie genauer bestimmt werden. Letzteres ist vor allem im Blick auf die neukantianischen Züge des Barthschen Denkens in der Tat ein wichtiges Desiderat der Forschung.
An dem gut lektorierten und durch ein Personenregister abgerundeten Buch bleibt allein seine Länge zu kritisieren. Vor allem die stark paraphrasierenden Textanalysen in der Darstellung Rendtorffs hätten durch eine Straffung an Prägnanz gewonnen. Dennoch stellt diese Untersuchung in ihrer rekonstruktiven Klarheit und ihren systematischen Perspektiven einen bemerkenswerten Beitrag zur Deutung(sgeschichte) Karl Barths dar, durch die das sachliche Gespräch zwischen den divergierenden Deutungen der Theologie Barths vertieft werden könnte und sollte. Jeder an der Theologie Barths und der Theologiegeschichte der Neuzeit Interessierte wird dieses Buch mit Gewinn lesen.