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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1221–1223

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gibellini, Rosino

Titel/Untertitel:

La teologia del XX secolo. Edizione attualizzata con una appendice »Il passo del Duemila in teologia«. Sesta Edizione.

Verlag:

Brescia: Queriniana 2007. 751 S. gr.8° = Biblioteca di teologia contemporanea, 69. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-88-399-0369-3.

Rezensent:

Jörg Lauster

Südlich der Alpen entspannt sich der Blick. Das gilt auch für Theologen und Theologiegeschichten. In Deutschland ficht man zähe Kämpfe darüber aus, wann die Theologiegeschichte des 20. Jh.s ihren Anfang nimmt. In einschlägig bekannten Kreisen wird ha­giographisch zu ermessen versucht, welche Äußerung Karl Barths wann den neoorthodoxen Wort-Gottes-Protestantismus gleich Phönix aus der Asche aus den Ruinen der Moderne herausgeführt haben soll. Solche nervösen Aufgeregtheiten sind italienischen Katholiken fremd. Anders als in den meisten Theologiegeschichten in Deutschland beginnt in Italien das 20. Jh. im Jahre 1900 mit Adolf von Harnacks Vorlesung zum Wesen des Christentums.
Rosino Gibellini ist eine der großen Gestalten der italienischen Theologiegeschichtsschreibung. Nach seiner Promotion an der Gre­goriana hat er in den 60er Jahren im Verlagshaus Queriniana die beiden bedeutenden Reihen »Giornale di Teologia« und »Biblioteca di teologia contemporanea« begründet. G.s Theologiegeschichte des 20. Jh.s ist in Italien ein außerordentlich erfolgreiches Buch, sie liegt nun in einer überarbeiteten und um einen Anhang ergänzten sechsten Auflage vor. Bei der Lektüre versteht man schnell, warum dieses Buch so erfolgreich ist. Institutionell ist die produktive Wirksamkeit – auch das mag ein Unterschied zu deutschen Verhältnissen sein – nicht an die universitäre Theologie gebunden. G. ist wissenschaftlicher Direktor des theologischen Verlagshauses Queriniana und in dieser Funktion dafür verantwortlich, dass in den oben erwähnten Reihen bedeutende theologische Werke des 19. und vor al­lem 20. Jh.s dem italienischen Publikum in Übersetzungen zugänglich gemacht werden. Dies geschieht ohne konfessionelle Vorbehalte. Neben prominenten katholischen Werken fin den sich hier auch – um nur einige Beispiele zu nennen – Moltmanns Textsammlung zu den Anfängen der dialektischen Theologie, Bultmanns Aufsatzsammlung »Glauben und Verstehen«, seine Theologie des Neuen Testaments sowie die wichtigsten Bücher von Pannenberg, Moltmann und Jüngel. Nimmt man die Übersetzungen des waldensischen Verlagshauses Claudiana hinzu, so kann man nur mit Erstaunen feststellen, wie viele Klassiker des deutschsprachigen Protestantismus im katholischen Italien in Übersetzungen vorliegen.
Falsche Schlüsse sollte man hingegen nördlich der Alpen daraus nicht ziehen. Die einstmalige Weltgeltung deutschsprachiger Theo­logie ist offensichtlich zugleich auch ein goldener Käfig für ihre Epigonen. Sie verleitet die Käfiginsassen zu immerwährender Be­schäftigung mit sich selbst und somit zu einer Philokalie einstiger Größe, während sich scheinbar unbemerkt die Herausforderungen an die Theologie weltweit rasant verändert haben. G.s Theologiegeschichte des 20. Jh.s versammelt im ersten Teil alle namhaften Autoren der deutschsprachigen Theologiegeschichte, gegen Ende des Buches und beim Ausblick sind deutschsprachige Autoren der Gegenwart kaum noch zu finden. Dieser Blick von außen stimmt nachdenklich.
G. ordnet mit großem didaktischem Geschick das Material nach thematischen Gesichtspunkten, ohne durch diese Systematisierung die komplexe Vielfalt und die gegenseitigen Verweisungszusammenhänge theologiegeschichtlicher Entwicklungen zu unterwandern. Seine Überlegungen setzen ein mit einer Darstellung Harnacks und Troeltschs, in denen er die Herausforderung des Historismus für die Theologie auf ihrem Höhepunkt verhandelt sieht. Demgegenüber ist das Aufkommen der dialektischen Theologie insbesondere in der Fassung Karl Barths als innertheologische Protestbewegung zu verstehen. In einer glänzenden und textnahen Zusammenfassung wird Barths theologischer Werdegang bis hin zu seinem Spätwerk nachgezeichnet. In sicherem Gespür für die Differenzen zu Barth wird Bultmanns Theologie unter dem Motto ›Existentiale Theologie‹ dargestellt und mit einem prägnanten Blick auf den Streit um den historischen Jesus abgeschlossen. Die Arbeiten von Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling behandelt G. als hermeneutische Theologie, es folgt die Erörterung der Werke Tillichs als Theologie der Kultur. Theologie und Moderne ist die Perspektive, unter der Bonhoeffers Werk untersucht wird, während Gogartens Schriften als Theologie der Säkularisierung mitsamt der sich daran anschließenden Diskussion vorgestellt werden. Insbesondere für protestantische Leser, die eine konstruktive theologische Aus­einandersetzung mit der Moderne allein dem Protestantismus vorbehalten wissen wollen, dürfte das Kapitel über die katholische Theologie des 20. Jh.s eine heilsame Lehrstunde sein. Auf gut 120 Seiten liefert G. einen ebenso kenntnisreichen wie grandiosen Überblick, der bei Loisy und Blondel einsetzt und über die Nouvelle Théo­logie (Teilhard de Chardin, Lubac, Daniélou, Chenu und Congar) schließlich zur Darstellung Guardinis, Rahners und von Balthasars gelangt und die inneren Gesprächszusammenhänge katholischer Theologie in Auseinandersetzung mit der Moderne ans Licht bringt.
Die in die Gegenwart hineinreichenden theologischen Entwürfe verhandelt G. als Theologie der Geschichte (Cullmann, Pannenberg), Theologie der Hoffnung (Moltmann), Politische Theologie (Metz) und Theologie der Erfahrung (Schillebeeckx). Mehr als ein Viertel des Buches ist den neu aufgekommenen Strömungen in der Theologie gewidmet. In differenzierter Abgrenzung untersucht G. die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, die ›schwarze‹ Theologie Nordamerikas und die feministische Theologie. Ausführlich kommt die Theologie der Dritten Welt zu Wort, deren europäische Verflechtung G. ebenso aufzeigt wie ihre unterschiedlichen Ausprägungen in eine afrikanische und asiatische Theologie. Den Abschluss bildet das Kapitel über die ökumenische Theologie und die Theologie der Religionen. Die aktuelle, sechste Auf­lage hat G. um einen Anhang ergänzt, in dem er den Versuch un­ternimmt, eine Bilanz der theologischen Auseinandersetzung mit der Postmoderne zu ziehen. Darin finden sich interessante Bemerkungen zum Verhältnis von Theologie und Aufklärung. Auffallend ist, dass G. trotz seines Weitblicks den gesamten Bereich or­thodoxer Theologie ausblendet. In der italienischen Diskussion zu G.s Buch ist dies aufmerksam mit dem Hinweis notiert worden, man müsse im eigentlichen Sinne von einer Geschichte westlicher Theologie sprechen.
G. wählt in seiner Darstellung einen geradezu literaturgeschichtlichen Zugang, indem er seine Interpretation an den jeweils wichtigsten Texten der Autoren entlang vorantreibt. Die knappen und bisweilen äußerst luziden Zusammenfassungen, die einen guten Überblick verschaffen und jederzeit die Möglichkeit bieten, durch eigene Lektüre die Beschäftigung mit dem jeweiligen Autor konkret an dem behandelten Text zu vertiefen, liefern zudem eine vorzügliche Quellenorientierung. Hinter dieser didaktischen Ausrichtung an den Quellen tritt die Darstellung von Forschungsmeinungen zurück. Dem schafft freilich das Literaturverzeichnis Ab­hilfe, in dem jeweils wichtige Sekundärliteratur zu den Kapiteln übersichtlich aufgelistet ist. Dass sich G. dabei an italienischen Veröffentlichungen orientiert, wird man ihm nicht zur Last legen können, es schmälert allerdings die Benutzbarkeit für deutschsprachige Leser. Die erste Auflage des Buches wurde erfreulicherweise ins Deutsche übersetzt (»Handbuch der Theologie des 20. Jahrhunderts«, Regensburg 1995). Dieser Übersetzung fehlen die Aktualisierungen und der eigens für die sechste Auflage erstellte umfangreiche Ausblick auf die Gegenwart, aber immerhin: In dieser frühen Fassung steht auch den deutschsprachigen Lesern dieses Buch zur Verfügung, das hierzulande noch längst nicht die Bedeutung einnimmt, die es verdient hätte.