Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1218–1220

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wieckenberg, Ernst-Peter

Titel/Untertitel:

Johan Melchior Goeze.

Verlag:

Hamburg: El­lert & Richter 2007. 264 S. m. Abb. 8°. Lw. EUR 19,95. ISBN 978-3-8319-0294-1.

Rezensent:

Christian Witt

Die protestantische Orthodoxie ist letzthin öffentlichkeitswirksam als »weißer Fleck« bezeichnet worden (Johann Hinrich Claussen, Zwischen säkularer Moderne und christlicher Vormoderne, in: FAZ Nr. 295, N 3). Diese Forschungslücke zu schließen, ist eine Aufgabe, der sich besonders die wissenschaftliche Theologie zu stellen hat. Dass sie dabei jedoch von Vertretern anderer Fächer keineswegs allein gelassen wird, belegt eindrucksvoll die von Ernst-Peter Wieckenberg, dem ehemaligen Cheflektor des Verlags C. H. Beck, vorgelegte Biographie Johan Melchior Goezes, der als einer der prominentesten Vertreter der lutherischen Orthodoxie des 18. Jh.s gilt.
Goeze (1717–1786) ist den meisten als Gegner Lessings im sog. Fragmentenstreit, der 1777 entbrannte, bekannt. Dieser Kontroverse widmet W. dann auch ein eigenes Kapitel (186–205). Er stellt dabei mit Blick auf den rhetorischen Stil mitsamt der diesem eigenen Polemik heraus, dass beide Kontrahenten letztlich »wenige Möglichkeiten« hätten, »anders zu reden, als sie es tun. Goeze muß be­lehrend, beweisend, ermahnend reden, weil er die Wahrheit dank göttlicher Offenbarung zu haben meint; Lessing muß fragend, experimentierend, Hypothesen vorbringend und sie gleich wieder ironisch einschränkend sprechen, weil er die theologische Wahrheit sucht und nicht schon hat. Der eine kann nur in der Rolle des Richters auftreten, der seiner Auslegung sicher ist; der andere in der des Anwalts, der diese Sicherheit zu erschüttern sucht« (194 f.).
Mit dieser Aussage steht eine entscheidende Grundlinie dieser Monographie vor Augen: W. ist als gewissenhafter Biograph nicht nur um eine bloße Beschreibung bestimmter Ereignisse, Diskussionskontexte oder Lebensstationen Goezes bemüht, die sich in ihrer je eignen Weise als maßgeblich für das Denken und Handeln des orthodoxen Lutheraners erwiesen haben. Vielmehr strebt er merklich danach, selbst nachzuvollziehen und seine Leser nachvollziehen zu lassen, warum eine so streitbare Persönlichkeit wie Goeze nach heutigem Verständnis oftmals so übertrieben heftig gehandelt hat. Dabei verliert W. nicht die Tatsache aus den Augen, dass auch Goezes meist der Neologie oder der Aufklärung im weitesten Sinne zuzuordnende Gegner nicht gerade zimperlich mit dem Hamburger Pfarrer umgegangen sind, ganz im Gegenteil: So attestiert er den Kontrahenten Goezes und der von ihm ohne Nachlassen verfochtenen Orthodoxie vollkommen zu Recht: »Nicht ohne Wirkung war der Vorwurf seiner Gegner geblieben, er [Goeze, Ch. W.] gebe sich blindem Hass gegen Andersdenkende hin. Aber wenn sie in ihren Gegenschriften die Ideale der Aufklärung be­schworen und sie dann hinter dem Schutzschild ihrer Parolen gleich wieder verrieten, stellte das auch ihnen kein gutes Zeugnis aus« (154). Selbst nach Ende des Fragmentenstreits qualifiziert W. die in ihrem Eifer gegen Goeze nicht nachlassenden Äußerungen Lessings als »bittere Worte« (204); ja, es gereiche Lessing nicht gerade zur Ehre, auch die schwersten und zugleich am wenigsten berechtigten gegen den orthodoxen Lutheraner vorgebrachten Vorwürfe aufgegriffen zu haben (215).
Nun konzentriert sich W. freilich nicht allein auf den Fragmentenstreit. Soweit es die sorgfältig ausgewerteten Quellen zulassen, zeichnet er ein umfassendes (Charakter-)Bild Goezes und seines Lebens, das so manch eine biographische Korrektur enthält (z. B. 14.45.99.101) und auch den Mut zur begründeten Spekulation nicht vermissen lässt, wenn es z. B. um innerfamiliäre Beziehungen geht (157–159). W. liefert zudem ein die Biographie seines Protagonisten sinnvoll ergänzendes Porträt von Ort und Zeit des Wirkens Goezes. So bietet er beispielsweise neben komprimierten, bestimmte Darstellungskontexte begleitenden Beschreibungen Magdeburgs (31) sowie natürlich Hamburgs und der dort herrschenden Verhältnisse (44.48.53–57.78 f.127–133) Erläuterungen zur biblischen Ma­thematik (18), zur Entstehung der Freizeit, zur Entfaltung der Presse und zur Entwicklung der Öffentlichkeit (104–109).
Mit diesem von W. vorgelegten Gesamtentwurf von der Person und Epoche Goezes, dem sein Biograph »Eigenschaften und Gaben« zumisst, »die ihm beinahe sein ganzes Leben lang erhalten blieben«, wie »hohen Ehrgeiz« und »unbändigen Fleiß« (28), ist die Intention verbunden, das hergebrachte Bild Goezes als eines un­bändigen, geradezu verstockten und zanksüchtigen Verfechters einer von der Aufklärung herausgeforderten und ihrer Überholtheit überführten Geisteshaltung zu korrigieren. Er macht deutlich, dass die Einordnung des lutherischen Theologen keineswegs so eindeutig und einfach ist, wie man oftmals meint. Goeze ist nach W. als »Vertreter einer vernünftigen Orthodoxie«, als »Anhänger Wolffs und Schüler Baumgartens« (67) eben kein grundsätzlicher Feind jedweder aufgeklärter Tendenz. Als Hauptpastor der Kirche St. Katharinen pflegte er zwar keine innigen Beziehungen zur Hamburger Aufklärung und ihren Vertretern – das wäre zweifels­ohne zu viel gesagt; aber er attackierte sie auch nicht direkt (68–71). Seine unverrückbare Ablehnung galt eben keineswegs der Aufklärung im weitesten Sinne, sondern bestimmten ihrer Begleiterscheinungen: So konnte ein von der Verbalinspiration überzeugter Orthodoxer die aufkommende historisch-kritische Methode und ihre Anwendung auf die Bibel nicht wortlos hinnehmen (84 f.), und auch der aufgeklärten Dogmenkritik sowie der Tugendlehre der Neologie verweigerte Goeze seine Billigung (z. B. 85–89).
Folglich plädiert W. zwar nicht für ein vollkommen revidiertes Bild Goezes und seines Verhältnisses zur Aufklärung, doch aber für ein differenzierteres, das immer auch um die Ermöglichung von Verständnis für das Verhalten des orthodoxen Lutheraners bemüht ist, ohne in Apologie zu verfallen. Sicher, ein so umfangreiches Vorhaben kann nicht alle angerissenen Problemfelder immer vollständig erschließen; exemplarisch sei an dieser Stelle hingewiesen auf die in weiten Teilen mindestens verkürzt zu nennende Beschreibung der Orthodoxie, ihres Verhältnisses zu den Bekenntnisschriften und ihrer Lehre von der Verbalinspiration (37–39). Auch die Verbindung der Theologie Goezes mit aufgeklärtem Gedankengut hätte in ihrer Schilderung größerer Ausführlichkeit und Tiefenschärfe bedurft (39–43).
Dennoch bleibt festzuhalten: W.s Umgang mit einem prominenten Vertreter lutherischer Orthodoxie zeigt auf, wie sich eine adäquate Beschäftigung mit einer uns heute vermeintlich so fremden kirchen- und theologiegeschichtlichen Persönlichkeit gestalten kann. Die vorliegende Biographie Goezes macht dabei deutlich, dass das Postulat aufgeklärter Toleranz noch kein wirklich tolerantes Verhalten im Umgang mit literarischen Gegnern schaffen muss, dass sich aber das Bemühen um Beantwortung der Frage lohnt, warum sich eine historische Gestalt so verhalten hat, wie sie es eben tat, und sei es auch nach eigenen Maßstäben scheinbar noch so schwer nachzuvollziehen.