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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1215–1218

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kannenberg, Michael

Titel/Untertitel:

Verschleierte Uhrtafeln. Endzeiterwartungen im württembergischen Pietismus zwischen 1818 und 1848.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 416 S. m. Abb. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 52. Geb. EUR 64,90. ISBN 978-3-525-55838-6.

Rezensent:

Wolfgang Schöllkopf

Der württembergische evangelische Pfarrer Michael Kannenberg (Jahrgang 1964) legt hier seine Dissertation vor, die 2005 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel angenommen und von Ulrich Gäbler betreut wurde. Er beschäftigt sich mit dem spannenden Zeitraum, auf den sich die apokalytischen Berechnungen von Johann Albrecht Bengel beziehen, der in seiner Auslegung der Johannesoffenbarung 1740 den Anbruch des Milleniums auf 1836 berechnet hatte. (Während ich diese Rezension verfasse, wird in unserer Stadt eine Vortragsreihe plakatiert mit den Themen »Wiederkunft Christi« und »Die Zahl des Tieres 666«, was zeigt, dass dieses Thema weiterhin Interesse findet!) Die chiliastische Auslegung Bengels blieb keine wissenschaftliche Spezialität, sondern zeigte innerhalb des Pietismus in Württemberg und weit darüber hinaus eine erstaunliche Breitenwirkung. Die gründliche Untersuchung dieser Wirkungsgeschichte ist das Thema von K.s Arbeit. Der Buchumschlag macht das sichtbar, indem er das Zifferblatt einer Uhr aus der Weltmaschine des Bengelschülers Philipp Matthäus Hahn abbildet, auf dem diese Bengelsche Zeitsystematik abgebildet ist. Hahns Uhrwerke waren so programmiert, dass sie 1836 stehen blieben und damit das Ziel der Zeit markierten. Der Buchtitel jedoch verundeutlicht diese Programmatik mit Absicht, wenn er das Bild rätselhaft »Verschleierte Uhrtafeln« nennt. Im Untertitel wird der Zeitraum der Untersuchung auf eine unmittelbare Vorgeschichte ab 1818, nach den großen Auswanderungswellen und vor der Gründung der selbständigen Kirchengemeinde Korntal, und eine Nachgeschichte bis zum Revolutionsjahr 1848 begrenzt.
Gewinnend ist der Einstieg mit mehreren Zitaten zur Deutung der Endzeit und mit dem Gedicht »Die Weissagung des Chiliasten« des schwäbischen Pfarrers und Übersetzers der »Sagen des klassischen Altertums« Gustav Schwab, mit dem er eben im Jahr 1836 an Bengels Zeitrechnung erinnert.
Danach legt K. präzise seine Zugänge zum Untersuchungsge­gen­stand und seine Methodik dar. Er klärt den verwendeten Pietismusbegriff als »Erweckungspietismus« (18) des 19. Jh.s, nicht ohne auf die lange Tradition chiliastischer Theologie in Württemberg hinzuweisen, die auch schon den barocken Pietismus prägte und mit Namen wie Friedrich Christoph Oetinger, Philipp Matthäus Hahn oder dessen letztem Vikar, dem ersten Pfarrer in Korntal Johann Jacob Friederich verbunden bleibt. Die Untersuchung im sinnvoll ein­gegrenzten Zeitraum konzentriert sich sodann auf das Herzogtum Württemberg und lässt die Auswanderungsbewegungen weitgehend unberücksichtigt. Der Forschungsstand weist eine große Diskrepanz zwischen einer beinahe millenaristischen Vergessenheit der europäischen Theologie gegenüber einer beinahe millenaris­tischen Versessenheit der angloamerikanischen Theologie auf. Da­bei for­muliert K. seinen Ehrgeiz, die Auswirkungen dieser Endzeit auffassung nicht nur an den (theoretischen) Werken der zeitge­nössischen Theologen, sondern auch am (praktischen) Leben der Kir­chen­gemeinden, Gemeinschaften und der einzelnen Christenmenschen aufzuzeigen. Dieser moderne Ansatz führt zur entscheidenden Frage nach den Quellen: Geben sie Informationen über den Alltag zwischen 1818 und 1848 her? Da kommt K.s Anliegen eine reichhaltige Überlieferung entgegen, vor allem in den Zirkularkorrespondenzen pietistischer Kreise, und die umfangreichen Reiseberichte der Herrnhuter Brüder steuern eine von grundsätzlicher Sympathie getragene Außensicht bei. Und schließlich schlagen das weit verbreitete pietistische Presseorgan des »Christenboten« sowie die reichhaltige Pu­blikation der Basler Christentumsgesellschaft eine Brücke zwischen Theologen und Laien, auf die es K. besonders an­kommt und der er mit einem modernen mentalitätsgeschichtlichen Ansatz näherkommen möchte. Nach dieser vielversprechenden Darstellung der Quellenlage ist der Leser nun auf die inhaltliche Bear beitung ge­spannt. Zunächst schildert K. an fünf Beispielen die »Kommunikation der Endzeit« in Württemberg seit 1818, wobei der Schwerpunkt auf dem »popularen Pietismus« (40) liegt. Es folgt die Konsequenz dieser endzeitlichen Stimmung für die theologische Arbeit der pietistischen Pfarrer in der Spannung zwischen Unruhe und Ordnung. Das dritte Hauptkapitel untersucht das Jahr 1836 und den Umgang mit den enttäuschten Erwartungen, nachdem die erwartete neue Zeit doch die alte ge­blieben ist. Im abschließenden Schritt wird gezeigt, wie diese Re­signation zu einer Veränderung im Stellenwert endzeitlicher An­schauungen sowie zu einer volkskirchlichen Einbindung des Pietismus führte.
Materialreich und an vielen Einzelbeispielen schildert K. den entstandenen »Kommunikationsraum« (122.139 u. ö.) zum großen Thema der Endzeit, in dem sich verschiedene soziale Schichten, ja sogar verschiedene theologische Auffassungen innerhalb des Pietismus in denselben Bildern und Chiffren verständigten. Dabei kommt es zu typischen Veränderungen endzeitlicher Erwartungen, etwa wenn sie pädagogisiert und für moralische Appelle der Jetztzeit gebraucht oder wenn sie, von der großen Heilsökonomie des barocken Bengel abweichend, zeittypisch individualisiert werden in die Biographie eines einzelnen Christenmenschen. Letzteres wird aufgezeigt am sog. »Wochenbuch« von Beate Paulus, der be­kannt gewordenen Tochter von Philipp Matthäus Hahn, die zu­gleich für die besondere Frauengeschichte des Pietismus steht. In diesem tagebuchartigen Seelenspiegel bringt sie bewegend ihre Belastungen mit den Zeichen der Endzeit zusammen. (Inzwischen ist die wissenschaftliche Ausgabe erschienen: Ulrike Gleixner [Hrsg.], Beate Hahn Paulus – Die Talheimer Wochenbücher 1817–1829 [TGP, Abt. VIII, Bd. 5], Göttingen 2007.) Der Erweckungsprediger Ludwig Hofacker steht für die junge Theologengeneration, die das Feuer der Endzeit und die Kirche der Jetztzeit zusammenhalten möchte. Auch Hofacker individualisiert die chiliastische Auffassung und nutzt sie für seinen Bußruf. In August Osiander erscheint jedoch auch ein unbekannter Theologe, der weiterhin an den Zeit- und Rechenspekulationen Bengelscher Art arbeitet. Ein immer wiederkehrender Mechanismus im Umgang mit apokalyptischen Visionen wird an vielen Beispielen deutlich: Ist das Ende einmal angesagt – und in diesem Fall spielt es keine Rolle, ob in der post- oder prämillenaristischen Variante! –, dann werden alle Ereignisse im Vorfeld daraufhin gedeutet. Im hier bearbeiteten Zeitraum waren dies etwa die napoleonischen Kriege und überhaupt der Auftritt des Franzosen als Antichrist, die Hungerjahre 1816/17, die Auswanderungsbewegungen nach Russland, in den Kaukasus und schließlich Richtung Palästina, aber auch das rationalistische Ge­sangbuch von 1791, die neue Liturgie von 1809, die den Teufel aus dem Taufbekenntnis entfernte, schließlich gar die Fahrt der ersten Eisenbahn und natürlich die Veröffentlichung des Werkes »Das Leben Jesu« des Enfant terrible David Friedrich Strauß, ausgerechnet 1835/36. Das konnte doch alles kein Zufall sein! So konzentriert und verengt die endzeitliche Sichtweise den Blick.
Ein Hauptthema des Werkes ist die Entstehung und Entwick­lung der freien Kirchengemeinde Korntal, die als Gegenbewegung zur Auswanderungswelle vom württembergischen König genehmigt wurde. (Die Schilderung von Korntal als »Sammelplatz« der wahren Christen hätte einen Hinweis auf das gleichnamige Lied Zinzendorfs verdient: EKG 453.) In ihr waren endzeitliche Erwartungen und Stimmungen im Besonderen zu Hause. Die Veränderungen zeigt K. an der spannenden Suche nach einem ständigen Pfarrer für diese freie Gemeinde auf. War mit Ignaz Lindl zunächst ein ehemaliger katholischer Priester aus Gundremmingen im Ge­spräch, der über die Basler Christentumsgesellschaft mit den Auswanderern nach Odessa ging und zur evangelischen Kirche über trat, so entschied man sich 1833 schließlich für den 28-jährigen Sixt Karl Kapff. Mit ihm sollte Korntal sogar wieder näher an die Landeskirche herangeführt werden wie, als Reaktion auf die enttäuschten Endzeiterwartungen, die pietistischen Kreise überhaupt. Es ist insgesamt die Summe der aufgewiesenen Nachgeschichte, dass nach 1836 die Endzeiterwartungen »verschoben«, »verinnerlicht« und »verkirchlicht« (217) wurden. Dies nennt K. in einer steilen Formulierung die »Tendenz zur Verbürgerlichung des Gottesreichs« (316) und bezeichnet so den Hauptweg des konservativen Pietismus, der sich bürgerlich eingerichtet hatte. (Der Hinweis auf die Taktzeiten »Warten und Eilen« hätte einen Hinweis auf die entsprechende Deutung der Initialen des württembergischen Königshauses am Kurhaus in Bad Boll verdient: W und P für Warten und Pressieren!) Nur auf dem Nebenweg und interessanter weise außerhalb des landeskirchlichen Systems blühten noch einzelne endzeitliche Entwürfe, so in der »postmillenaristischen Konzeption« eines Johann Christoph Blumhardt, eben im Kurhaus zu Bad Boll, im johanneischen Christentum eines Gustav Werner in seinen diakonischen Anstalten und Werkstätten oder im Exodus eines Christoph Hoffmann nach Palästina. Mit dieser Titulatur des Haupt- und Nebenweges hat K. schließlich auch das weit verbreitete Andachtsbild aus dieser Zeit »Vom breiten und vom schmalen Weg« mit seiner großen und bis in die Gegenwart reichenden Wirkungsgeschichte aufgenommen. In einem Spezialkapitel erörtert er detailliert, warum sich die Eisenbahn in diesem Bild und in der Endzeitanschauung auf dem »breiten« Weg, der zur Verdammnis führt, befindet. Vor ihr wurde in erweckten Kreisen gewarnt als dem »in die Breite« gestreckten »Turmbau« (308) zu Babel! Dahinter steckt eine skeptische Haltung gegenüber der frühen Industrialisierung, aber auch die Ahnung konkreter Gefährdungen, etwa für die Arbeiterschaft oder für die Heiligung des Sonntags.
Die Untersuchung enthält eine große Materialfülle, die K. je­doch deutend und systematisierend meisterhaft domestiziert. Wohl­tuend ist seine klare Darstellung der Methodik und der Forschungsergebnisse. Trotz seiner berechtigten Kritik am biographischen An­satz kirchenhistorischer Darstellungen (30) benützt auch er weitgehend diesen lebensgeschichtlich bezogenen Zugang, isoliert ihn jedoch nicht künstlich von seiner Umwelt, sondern versteht ihn als Verdichtung. Sein Schreibstil ist spannend und wagt manchmal eine feuilletonistische Art, etwa in der »resignativen Melange« (331) oder in so kurzen Setzungen wie: »Aber nicht nur das.« (84) Das Werk ist bestens erschlossen durch Orts-, Namen- und Sachregister. Außerdem sind ihm kurze, aber präzise Biogramme der erwähnten Hauptpersonen sowie mehrere Tabellen beigegeben, die die Ergebnisse einer landeskirchlichen Umfrage zum Pietismus von 1821 sowie die Hauptlektüren in den pietistischen Erbauungsstunden auflisten. Diese Lektüren machten die Menschen sprachfähig in Fragen des Glaubens, auch im Blick auf die letzte Zeit, denn im biblischen Sinne ist christliche Existenz auch ohne die Berechnung eines bestimmten Datums immer endzeitlich. Das führt uns wieder zum »Kommunikationsraum der Endzeit« und somit zu einer der Hauptthesen dieser bemerkenswerten Forschungsarbeit. In jenem Kommunikationsraum gab es schon kurz nach dem großen Lehrer Bengel, typisch schwäbisch, einen programmatischen und einen pragmatischen Umgang mit seinen Endzeitberechnungen. Das lässt sich noch einmal an Bengels eigenwilligem Schüler Philipp Matthäus Hahn aufzeigen, dessen Uhrzifferblatt den Buchumschlag dieses Werkes schmückt: Hahns Uhren blieben 1836 alle stehen – aber man konnte sie danach wieder aufziehen und in Gang setzen!