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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1206–1209

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Riedenauer, Markus

Titel/Untertitel:

Pluralität und Rationalität. Die Herausforderung der Vernunft durch religiöse und kulturelle Vielfalt nach Nikolaus Cusanus.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 562 S. gr.8° = Theologie und Frieden, 32. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-17-019797-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

»Cusanus geht ... nicht von einer Vernunftreligion aus, um ihr die geschichtlichen Religionen als defiziente Formen oder gar als ein wegen der geistigen Schwäche notwendiges Übel gegenüberzustellen, sondern denkt im Prinzip von den geschichtlichen Religionen aus und versucht, sie als Ausdrucksformen eines natürlichen Strebens unter einem allgemeinen göttlichen Anspruch zu deuten« (418). Mit diesem Satz aus der Mitte des laufenden Textes fasst Markus Riedenauer das Ergebnis seiner philosophischen Habilitationsschrift (Frankfurt a. M.) gut zusammen.
Das Zusammenspiel von Vielfalt und Einheit ist ein, ja, das Thema, das Nikolaus besonders bewegt. Die Vielfalt religiöser Weltdeutungen mit ihren Wahrheitsansprüchen kennzeichnet die ge­schichtliche Situation. Dabei eine Einheit zu schaffen, liegt im Interesse der Vernunft. Für Nikolaus lautet dafür das Stichwort »Konkordanz«. Sie herzustellen im Dialog, im Dialog der Vernunft, ist sein Anliegen. Konkret gilt das vor allem – aber nicht nur – für das Verhältnis von Christentum und Islam. Nikolaus hat sich mehrfach, vor allem in De pace fidei (1453) und in der Cribratio Alkorani (1460 /61) mit diesem Thema befasst. R. will mit Nikolaus »ein Gespräch über die Sache selbst« führen, »soweit sie damals und heute in den Blick zu bekommen ist« (11 f.).
R. gliedert seine Arbeit in sechs Hauptteile: 1. Religiöse Pluralität als praktische und theoretische Herausforderung (17–69), 2. Zu Textbasis und Diskussionskontext (71–126), 3. Herausforderungen durch den geschichtlichen Kontext (127–219), 4. Anthropologische und epistemologische Grundlagen (221–329), 5. Zur Vernünftigkeit religiöser Erkenntnis (331–434), 6. Bewältigung religiöser Pluralität aus reflektierter Perspektivität (435–488). Er schließt mit 7. Endliche Vernunft und Religion im Diskurs (489–502). Abkürzungsverzeichnis (sehr eigenwillig mit unüblichen Abkürzungen), Literatur- und Personenverzeichnis sind beigegeben.
Über religiöse Konfliktpotentiale müsse philosophisch reflektiert werden. Dass das schwierig sei, da es »um die Heils-, andererseits zunehmend um die Wahrheitsfrage« gehe, ist R. klar, denn »eine exklusive Theologie der Religionen« beansprucht, »daß nur die eigene Tradition des Heils und der Wahrheit teilhaftig« sei, während die inklusive Theologie nur am »prinzipiellen Vorrang des eigenen Heilsweges« festhält, anderen Partizipationen aber Teilwahrheiten zugesteht (31). Der »religionsphilosophische Dialog sucht Gemeinsames oder Analoges«, um die verschiedenen Inhalte zu diskutieren (44). Die Schwierigkeit bestehe darin, dass die Religionen »nicht ab­strakt nebeneinander vergleichbare Lehrsysteme« sind, »sondern geschichtliche und inkulturierte Phänomene« (69).
Die Auslegung von De pace fidei sieht R. als schwierig an, da es sich dabei nicht um einen autoritativen Text, sondern um eine Vision handele, »die in weiten Teilen apologetisch und missionarisch anmutet«. »Religiöse Einheit erscheint als Folge einer ... un­übersehbaren göttlichen Selbstoffenbarung« und sei nicht Menschenwerk, nur Gott könne eine bessere Einsicht vermitteln (73ff.). Nikolaus geht vom Christentum aus und spricht von der »una fides orthodoxa« (De pace fidei, n. 8), in die die ganze Vielfalt der Religionen geführt werden soll. Das hätte (trotz 98; vgl. 115) R. deutlicher herausarbeiten müssen. Dagegen kritisiert er bei Nikolaus eine »theologische veritas-Lehre augustinischer Prägung« (93). Sähe man De pace fidei als ein religionsphilosophisches Projekt, dann erscheine der Dialog »als schlecht verhohlene Propaganda für den christlichen Glauben«, aber er sei ein religionsphilosophischer und kein fundamentaltheologischer Entwurf, so dass die Argumente philosophischer Natur sein müssten (103). Zweifellos sieht Nikolaus »die angestrebte Einheit als christlich geprägt«, doch meint R.– wohl kaum zu Recht –, das Christentum habe an der Wahrheit Christi »nur in stets defizienter Weise, weil konjektural teil« (115. 122).
Im dritten Teil geht R. auf mittelalterliche Religionsdiskurse ein. R. Lull hat zweifellos auf Nikolaus eingewirkt. Während Lull das Gefahrenpotential für die Einheit der Religionen in der »Diversität der leges und der fides begründet«, will Nikolaus die una fides als vorausgesetzt und impliziert in allen Religionen nachweisen. Für beide ist aber die Heilsfrage vorentschieden, sie hängt an der Wahrheitsfrage. Nikolaus will letztlich die anderen Religionen in das Christentum integrieren und es philosophisch besser verstehen (150–156); er ist aber davon überzeugt, Gott sorge für alle Religionen gleichermaßen (200). Anthropologisch gesehen meint R., Nikolaus hätte angesichts der Verschiedenheit in der Gotteserkenntnis – zu Recht – auf die Sündhaftigkeit des Menschen eingehen sollen.
Angesichts der anthropologischen und der epistemologischen Grundlagen meint R.: »Die Verbindung von rational begründeter Ethik und Religion im Hinblick auf das Streben durch die Interpretation gerechten Handelns als Liebe und Frucht eines Glaubens und durch die Funktionalität konkreter religiöser Traditionen für eine Stärkung des Ethos wird zuletzt christlich integriert« (256). Für den Gedanken der Kooperation von Gott und Mensch hebt R. die »Ebenbildlichkeit des menschlichen Geistes als transzendierendes Prinzip, in dessen kreativer Aktivität Gottes Aktivität zugänglich wird«, hervor (283). Weiterhin ist die Geistphilosophie des Nikolaus sicher ein Anfangspunkt neuzeitlicher Metaphysik, auch wenn er »ausdrücklich vom grundsätzlichen Eingeschränkt- und Beeinflußtsein des Geistes« in De visione Dei spricht; er weiß darum, dass der Verstand nicht fähig ist, das Unendliche zu denken (296.304. 316). Im Endlichen ist aber der schöpferische Mensch »lebendiges Ebenbild des Schöpfers« (320), als solcher deus creatus.
Nikolaus betont, dass zur Vernünftigkeit religiöser Erkenntnis gehört, dass die Vernunft herausgefordert wird. So ist die »belehrte Unwissenheit« zu verstehen. Wenn wir von Gott reden, passen wir ihn den Verstandesregeln an »unter Voraussetzung logischer Prinzipien«, obwohl wir ja eigentlich über Gott gar nicht reden können, ist er doch an sich unaussprechbar (354). Von daher ist zu verstehen, dass Nikolaus eine philosophische Mystik betreibt in der Stufung rationaliter – intellectualiter – divinaliter (361). Das Absolute (Gott) wird nur in der Perspektivität sichtbar (376). Der Glaubende weiß dabei, dass ihm die Erfüllung seines Glaubens nur geschenkt werden kann, er kann sich nicht rational versichern. Aus diesem Grund spielt bei Nikolaus das sola fide eine große Rolle (402). Für seinen »ökumenischen Optimismus« sieht R. den Anlass in der Annahme des natürlichen Wunsches, Gott sehen zu können. Er geht nicht von einer postulierten Vernunftreligion aus, sondern von den geschichtlichen Religionen als Ausdrucksformen dieses Strebens (414.418).
Zu Recht unterscheidet R. verschiedene Argumentationsebenen bei Nikolaus, um die Herausforderung durch die religiöse Plu­ralität zu bewältigen: die philosophische, die religionsphiloso­phische, die trinitätsphilosophische, die eigentlich theologische und die persönliche (und wohl noch die kanonistische). Wenn nun Nikolaus mit den Anfängen religiöser Toleranz in Verbindung gebracht wird, meint R., sei die zugestandene Ritentoleranz doch »recht schmal« (»religio una in varietate rituum«, De pace fidei, n. 6).
Ob es richtig ist zu sagen, dass Nikolaus »aufgrund seines Er­griffenseins von der Unendlichkeit Gottes eine Selbstrelativierung des christlichen Denkens« vornimmt (459), wagt der Rezensent zu hinterfragen. Geht es ihm nicht viel mehr darum, die anderen Religionen bei Anerkenntnis unterschiedlicher Riten in das Christentum hineinzunehmen (wobei Nikolaus den Hussiten beispielsweise nur sehr eingeschränkt eine solche Anerkenntnis zugesteht; darauf geht R. nicht ein)? Nimmt Nikolaus wirklich »aufgrund seines Ergriffenseins von der Unendlichkeit Gottes eine Selbstrelativierung des christlichen Denkens vor«? Wird sie wirklich auch von Nikolaus geleistet? Bei aller pia interpretatio auch des Korans durch ihn ist er doch von der christlichen Wahrheit selbst überzeugt. Jedenfalls ist für Nikolaus Christus »der König aller Re­ligionen« (463, Sermo CLXXI, n. 16).
Dass in der geschichtlichen Konfrontation mit anderen Religionen eine Aufgabe liegt, die zu einem integrativeren Selbstverständnis herausfordert, will der Rezensent nicht bestreiten. Aber zu bestreiten ist aus der Sicht des Christentums – unter Berücksichtigung von Joh 14,6 u. a. –, dass dies umgekehrt auch gelten soll. Da­rum findet sich eben »kaum eine Andeutung« dafür bei Nikolaus, auch wenn er »in den diversen Religionen als kulturellen Ge­bilden einen Kern von Religiosität« annimmt (494.500).
R. legt eine gewissenhaft erarbeitete, umfangreiche Studie vor, die das Thema aus philosophischer Sicht – auch im Gespräch mit heutiger Philosophie (z. B. Diskurstheorie) behandelt. Ein Theologe wird manches anders sehen.