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Ausgabe:

Oktober/1996

Spalte:

920–922

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bühler, Axel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann, 1994. VI, 275 S. gr 8o. Lw. DM 98,­. ISBN 3-465-02632-2

Rezensent:

Wilfried Engemann

In dem hier zu besprechenden Band geht es um eine tiefere Durchdringung und Beurteilung zentraler hermeneutischer Grundsätze, Modelle und Zielvorstellungen der Aufklärung. Mit diesem anspruchsvollen Programm trägt das von Axel Bühler sorgfältig konzipierte Werk in erheblichem Maße dazu bei, eine seit langem klaffende Lücke (theologisch-)hermeneutischer Forschung weiter zu schließen.

Die hermeneutische Brisanz des Buches läßt sich bereits aus seinem selbstironisch mit "unzeitgemäß" apostrophiertem Titel erschließen, ein Prädikat, das eine gewisse Polemik gegen bestimmte hermeneutische Ansätze des 20. Jh.s (u. a. Gadamer, Heidegger) und den Dekonstruktivismus impliziert ­ worauf wir unten zurückkommen. Als "unzeitgemäß" versteht sich der die Pointen der Hermeneutik der Aufklärung repräsentierende Band aber zunächst insofern, als er sich dem Ideal vieler Aufklärungshermeneutiker widmet, den Autoren im Verstehen ihrer Texte aequiI, Gleiche zu werden (Christian Wolff), also der intentio auctoris auf die Spur zu kommen.

Da viele der entsprechenden hermeneutischen Grundsätze um des Verstehens der Heiligen Schrift willen entwickelt und zuerst auch an biblischen Texten "erprobt" wurden, versteht es sich von selbst, daß immer auch die Theologie im Gespräch ist, wobei neben im engeren Sinne theologisch-hermeneutischen Aspekten exegetische und systematische Fragestellungen im Vordergrund stehen. Das zeigt sich insbesondere an der auf vorzüglichen Recherchen fußenden, von P. Lombardi (Florenz) verfaßten Studie zu hermeneutischen Streitpunkten bei der Auslegung der Psalmen, wobei man einen zuverlässigen Einblick in die textkritische Diskussion in Italien und Frankreich um 1700 bis etwa um 1750 erhält. Für den deutschen Sprachraum sind neben anderen Beiträgen die Untersuchungen des Berliner Literaturwissenschaftlers Lutz Danneberg (Siegmund Jakob Baumgartens biblische Hermeneutik) und die Abhandlung des (schon als Semler-Forscher bekannten) Bochumer Systematischen Theologen Gottfried Hornig (Über Semlers theologische Hermeneutik) von besonderem Gewicht. Sie zeigen das theologisch-hermeneutische Bemühen, bestimmten Prinzipien moderner Hermeneutik (wie z. B. dem Grundsatz hermeneutischer Wahrscheinlichkeit) und spezifischen Ansprüchen biblischer Textauslegung gleichermaßen gerecht zu werden (Baumgarten), und tragen im übrigen zur Erhellung vielfältiger Versuche bei, aus hermeneutischen Einsichten theologische Konsequenzen zu ziehen und z. B. die Gleichsetzung der Heiligen Schrift mit dem Wort Gottes aufzugeben (Semler).

Es würde sich lohnen, hier detaillierter über die einzelnen Beiträge zu unterrichten. Aus Platzgründen kann ich hier nur vervollständigend folgende Namen und Titel aufführen: H. W. Arndt: Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des Klassischen Rationalismus; L. C. Madonna: Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs; H.-P. Schütt: "Iungenda cum arte rationali, ars critica" ­ Johann Jakob Bruckners hermeneutische Vorsätze; O. R. Scholz: Die allgemeine Hermeneutik bei Georg F. Meier; M. Longo: Philosophiegeschichtsschreibung nach der Aufklärung: Schleiermacher und der hermeneutische Zirkel von Philosophie und Geschichte der Philosophie.

Die Beiträge, die durchweg durch eine profunde Quellenkenntnis qualifiziert sind, zeigen, wie breit das Spektrum hermeneutischer Impulse und Ansätze ist, das gemeinhin als "Hermeneutik der Aufklärung" zusammenfaßt wird. Der wiederholte Rekurs auf die Intention des Autors stellt jedoch ­ neben einem konsequenten Zug zur Rationalität ­ sicher einen roten Faden im hermeneutischen Diskurs der Aufklärung dar.

Diesem Diskurs nun ­ so geht aus der Einleitung des Mannheimer Sprachphilosophen A. Bühler hervor ­ habe die moderne Hermeneutik und der Dekonstruktivismus den Rücken gekehrt, um sich schließlich darauf zu beschränken, "die Anwendung des Textes auf die Situation der Interpreten" (3) zu rechtfertigen. Dementsprechend müßte man konsequenterweise sagen, die intentio lectoris sei unberechtigterweise zum Erschließungsort biblischer und anderer Texte geworden. Diese Einschätzung trifft aber in solcher Pauschalisierung nicht zu; sie ist einerseits der falschen hermeneutischen Alternative, Autorintention versus Leserintention (bzw. umgekehrt) verhaftet, andererseits prolongiert sie das Klischee von der postmodernen, parahermeneutischen Lust zu subjektivistischer Fehllektüre. Wäre statt dessen nicht deutlich zu machen, inwieweit die ,Leseweise´ des Dekonstruktivismus den Texten nicht einfach bestimmte subjektive Theorien ihrer Interpretation bzw. Zerlegung aufzwingt, sondern inwiefern die jeweiligen Lektüren oder Zerlegungen von den Texten selbst erzwungen werden? Dementsprechend werden auch im Dekonstruktivismus nicht alle Lektüren einfach als gleich gerechtfertigt verstanden, sondern bestimmte auch als falsch signifiziert (vgl. z. B. J. H. Mitler: Thomas Hardy, Distance and Desire, Cambridge 1970).

Abgesehen aber von jener etwas fragwürdigen Perpetuierung alter Klischees über die moderne Hermeneutik und den Dekonstruktivismus, und abgesehen von der unnötigerweise alternativen Favorisierung der Autorintention zu der für heutige Hermeneutik gebotenen Perspektive, eröffnet das Buch dem Leser eine ebenso spannende wie informative Lektüre. Die Beiträge ­ einschließlich der Hermeneutiken, auf die sie sich beziehen ­ unterwandern die oben kritisierte Alternative zum Teil selbst bzw. überwinden sie und regen dazu an, über einen weiteren Band nachzudenken, der sich mit dem nicht auf den ersten Blick erkennbaren Erbe der Hermeneutik des 18. Jh.s in den Entwürfen heutiger Zeit befaßt. Partizipiert nicht beispielsweise heutige ästhetisch argumentierende Hermeneutik, indem sie die intentio operis (z. B. als textgenerierten Sinn) in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt, am aufklärerischen Impetus der Texttreue?

Einer der Autoren, der Berliner Philosoph O. R. Scholz, hat sich dankenswerterweise der Mühe unterzogen, dem Buch nicht nur eine umfangreiche Bibliographie sowohl zu den Quellen wie auch zur Sekundärliteratur beizufügen (die in dieser Dichte m.W. zum ersten Mal erarbeitet wurde), sondern auch eine "Zeittafel zur Geschichte der allgemeinen Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert" zu erstellen.

Der Band wird durch ein zweckmäßiges Sachregister und ein Personenverzeichnis abgerundet. All diese Elemente erheben das vorgelegte Buch nicht nur in den Rang eines Standardwerkes für hermeneutische Fragen der Aufklärung, sondern machen es zu einem exzellenten Arbeitsbuch, auf das Lehrende wie Studierende und interessierte Laien dankbar und mit Gewinn zurückgreifen werden.