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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1199–1202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Eberhard, Winfried, u. Franz Machilek [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchliche Re­formimpulse des 14./15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2006. 374 S. gr.8° = Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, 36. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-412-26105-4.

Rezensent:

Andreas Müller

Untersuchungen über die spätmittelalterliche Christentumsgeschichte Ostmitteleuropas in deutscher Sprache sind äußerst sel-ten und daher ebenso begrüßenswert. Da die meisten Überblickswerke bei ihrer Darstellung von vorneherein auf west- und mittel­europäische Perspektiven fixiert sind, schuldet der Leser den beiden Herausgebern Winfried Eberhard, emeritierter Professor für Ge­schichte Ostmitteleuropas in Leipzig und ehemaliger Direktor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V., und dem ehemaligen Leiter des Staatsarchivs Bamberg und Honorarprofessor für mittelalterliche Ge­schichte und historische Hilfswissenschaften an der dortigen Universität Franz Machilek Dank für einen umfangreichen Einblick in zu einem Großteil »westlichen Forschern« unbekannte Räume und Entwicklungen. Besonders interessant wird das Buch dadurch, dass es an einigen Stellen deutlich zu machen vermag, wie Ostmitteleuropa an gesamteuropäischen kirchlichen Reformbestrebungen im 14. und 15. Jh. beteiligt war.
In diesem Band sind die Ergebnisse einer von den beiden re­nommierten Ostmitteleuropa-Historikern 2001 in Magdeburg durchgeführten Arbeitstagung veröffentlicht. Reizvoll ist dabei die interdisziplinäre und internationale Zusammensetzung des Beiträger-Kollegiums. Forscher verschiedener Disziplinen aus Deutschland, Österreich, Polen und Tschechien haben sich an dem Band beteiligt und dadurch einen Beitrag zur Suche nach einer kulturellen Seele des zusammenwachsenden Europas geliefert. Dabei wurde auch die ostmitteleuropäische Forschung mit europäischen Fragestellungen konfrontiert.
Letzteres übernimmt vor allem die sehr ausführliche Einführung Machileks in das Thema, die immerhin gut ein Drittel des gesamten Bandumfangs ausmacht (1–121). Machilek geht zunächst grundsätzlich auf die Begriffe »Reform« und »Reformation« ein. Dabei zeichnet er auch ein den übrigen Beiträgen innewohnendes Grundanliegen nach, Reform vor allem als Besserung im spirituellen Bereich (7) zu verstehen. Der Ruf nach Reform sei ferner eng mit dem Bemühen um die Beilegung des abendländischen Schismas und mit dem Konzilsgedanken verbunden gewesen (10). Der Autor schildert dann – der Chronologie folgend – die kirchlichen Rahmenbedingungen des 14. Jh.s, die Reformzentren sowie einzelne bedeutende Reformer.
Dabei werden selbst Päpste wie Bonifaz VIII. als Reformer genannt (15). Schon in diesem Kapitel wendet Machilek sich auch den spezifischen Ausprägungen von Reformen in Ostmitteleuropa zu, nämlich in Böhmen und Mähren (auch hier wird die Verbindung der Reform mit einer bestimmten Spiritualität betont [18] und an den Reformwillen von Bischöfen angeknüpft [22]), aber auch in Ungarn, Schlesien und Polen. Als ein Reformzentrum ersten Ranges wird die Prager Universität vorgestellt (31–33). Ein weiterer Abschnitt seiner Ausführungen widmet sich der kirchlichen Krise u. a. durch die Missstände an der Kurie um 1400 sowie der Forderung nach einer Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern. Dabei wird u. a. das Konzil von Pisa thematisiert, das den Konziliarismus als eine Rückkehr zur primitiva ecclesia verstand (48). In Ostmitteleuropa fand der Konziliarismus u. a. in Schlesien starke Azeptanz (49). Auch die weiteren bedeutenden Konzilien des 15. Jh.s thematisiert Machilek ausführlich und geht darüber hinaus auf Kirchenreformer wie Nikolaus von Kues (61 f.) ein. Schließlich wendet er den Blick des Lesers auf die Reforminitiativen vor Ort. Hier wie auch im übrigen Buch spielt die regionalhistorische Forschung eine wichtige Rolle. Dabei geraten selbst die Pfarreien und vor allem die Klöster in den Blick. In Böhmen und Mähren waren diese im Zuge der hussitischen Revolution weitgehend zerstört worden – ihr Wiederaufbau nach der Niederlage der radikalen Taboriten bei Lipan im Jahr 1434 fällt für Machilek ebenfalls unter das Thema »Reform« (72), wodurch wiederum der weit gefasste Reformbegriff der Herausgeber dieses Bandes deutlich wird. Abschließend wirft Machilek einen kurzen Blick ins 16. Jh. (Lateranum V; 79 f.) und schließt mit Ausführungen zur sich neu stellenden Forschungsaufgabe und zum Tagungsprogramm in Magdeburg. Besonders wertvoll ist die – dem an mehreren Punkten recht konventionell gestalteten Forschungsbericht angehängte – Bibliographie (87–121), die gerade auch die mittelosteuropäische Perspektive zu erschließen hilft.
Die übrigen Beiträge des Bandes sind in vier Blöcke gegliedert. Ein großer Teil der Beiträger stammt aus Prag. Dementsprechend beschäftigen sich die meisten Beiträge auch mit Themen aus Böhmen und Mähren, darüber hinaus kommen Schlesien bzw. Polen vor. Un­garn wird hingegen in dem Band lediglich gestreift, andere Länder Ostmitteleuropas fehlen. Gehen wir die Referate genauer durch:
Z. Hledíková thematisiert die strukturellen Reformen der Prager Erzbischöfe im 14. Jh. (125–141). Diese fanden vor allem in den Synodalstatuten ihren Ausdruck, durch die das erzbischöfliche Zentrum auf eine geordnete geistliche Verwaltung zielte (137). U. Borkowska beschäftigt sich mit der Organisation und »Geistigkeit« (sic! Gemeint ist wohl die innere Ausprägung) der polnischen Mission in Litauen (143–156), einem Thema also, das für die gesamteuropäische Missionsgeschichte von Bedeutung ist. Dabei diskutiert sie auch die m. E. historisch so kaum haltbare Frage, ob einzelne (sic!) Litauer zur Taufe gezwungen worden seien, und beantwortet diese negativ (148). Die Missionsbestrebungen von Hedwig und Wladislaw Jagiello richteten sich nicht nur auf die heidnischen Litauer, sondern auch auf die orthodoxen Ruthenen – ein Benediktinerkloster in Krakau im slawischen Ritus ermöglichte ein derartiges Vorgehen (153). Gerade solche Unionsbemühungen werden in dem Artikel in interessanter Weise behandelt – über Reformbemühungen (155) ist ihm allerdings nur wenig zu entnehmen.
Einen der interessantesten Beiträge stellt T. Wünschs Darstellung des Reformprogramms des Krakauer Bischofs Petrus Wysz dar (157–178). An dem womöglich im Krakauer Umfeld des Petrus Wysz entstandenen Speculum aureum und der 22-Punkte-Liste De reformatione ecclesiae lassen sich Impulse der Reformbewegung Ostmitteleuropas für die gesamte abendländische Christentumsgeschichte demonstrieren. Vermutlich ist auf dem Pisaner Konzil von 1409 eine Abschrift der Liste gemacht worden, die Wünsch in der Vatikanischen Bibliothek entdeckt und im Anhang seines Beitrages ediert hat. Insgesamt geht es in der Liste um die Einforderung eines episkopalen Modells von Kirche (166) und somit keineswegs um einen radikalen Gegenentwurf zur real existierenden Kirche (173). Der Beitrag von A. A. Strnad über die Erneuerung von Bildung und Erziehung durch die Humanisten-Bischöfe in Schlesien, Mähren und Ungarn (179–215) bietet eine gelehrte Aneinanderreihung einzelner Biographien. Eine analytische Be­trachtung derselben fehlt weitgehend, zumal ein wirklicher Vergleich des Humanismus in den drei Regionen ausbleibt. Dennoch bietet der Aufsatz einen guten Überblick über weite Teile des ostmitteleuropäischen Raumes.
Der zweite Block zur Reform im Bereich der Spiritualität be­ginnt mit einem Beitrag von P. Rychterová zu den Konzepten religiöser Erziehung der Laien im spätmittelalterlichen Böhmen (219–237). Die Autorin bietet auch einige grundsätzliche Bemerkungen zu dem Verhältnis der böhmischen Laienbewegung zur Devotio moderna. Dabei setzt sie sich besonders mit der Rolle von Thomas von Štítné auseinander, der im Unterschied zu den Autoren der Devotio moderna Zeit seines Lebens Laie blieb und keiner religiösen Gemeinschaft angehörte (230). Die bewusste Überwindung der Gegensätze zwischen Seelsorger und Laien blieb bis ins 15. Jh. in Böhmen präsent. Eine zunehmende Annäherung der Be­wegung an die Strukturen der Kleruskirche hat es hier jedenfalls auch bei Peter Chelčický nicht gegeben. Rychterová löst mit ihren Ausführungen weitere Fragen aus, die sie aber nicht reflektiert: Gibt es Gründe für die unterschiedliche Entwicklung der Laienbewegungen in den Niederlanden und in Böhmen? Lässt sich die ausbleibende Anpassung auf einen geringeren Druck von Seiten der Kleruskirche zu­rückführen? J. Nechutová stellt böhmische Re­form- und Bußprediger von Waldhauser bis Hus vor (239–254). Auch die vorhussitischen Synodal- und Ordenspredigten hatten dabei reformerisches Potential. Sie erinnerten die Kleriker insbesondere mit dem Hirtenbild an ihre Pflichten. Hus schloss letztlich an diese Tendenzen an. Dem Beitrag von K. Walsh (255–273) lässt sich entnehmen, dass die liturgischen Reformbemühungen der Prager Domherren in nachhussitischer Zeit eine stark restaurative Tendenz verfolgten – es ging um möglichst »fehlerfreie« Texte u. a. von Missal(i)en (260). Auch Bibeltexte wurden nach Walsh dabei weit verbreitet – es fragt sich allerdings, inwiefern diese überhaupt dem Volk verständlich waren. Gedruckt wurde u. a. bei dem Nürnberger Spezialisten Georg Stuchs.
Im dritten Block über Ordensreformen beschäftigt sich A. Rü­ther mit den Reformbewegungen der Augustiner-Chorherren in Schlesien im 15. Jh. (277–293). Ihm geht es vor allem um die Umsetzung der Reformen im Alltag (277). Dabei wird deutlich, dass sich Romkritik und nationaler Konsens durchaus zu paaren vermochten, die Reformmaßnahmen also auch auf heimatbezogenem Denken fußten (292). Ob dabei die Rede von einem »diffusen Nationalgefühl« im abendländischen Europa des 15. Jh.s, das »bald verstärkt als protonationale Stimmung heranwuchs und schließlich nationales Bewußtwerden herausbildete« (291) nicht doch ein Anachronismus ist, ist m. E. zu fragen – der »natio«-Begriff des Mittelalters sollte mit dem Nationalismus des 18./19. Jh.s nicht verwechselt werden. P. Hlavá ček stellt das missionarische und konfessions­politische Wirken der Franziskaner-Observanten in Ostmitteleuropa in sehr informativer Weise dar (295–326). Diese setzten sich in Polen mit den Orthodoxen (297 f.), in Böhmen besonders hart – auch inquisitorisch (296)– mit den Hussiten auseinander. Während sie also einerseits der Kurie nahestanden, wurden sie insbesondere in dominikanischen Quellen andererseits als Nonkonformisten ge­kennzeichnet, sogar als Symapthisanten der Utraquisten. Bemerkenswert ist, dass sich tatsächlich zahlreiche Observanten der Reformation anschlossen, was womöglich auf ein gewisses nonkonformistisches Anliegen in der Gründung des Ordens zurückzuführen ist.
Der Band schließt im vierten Block mit zwei Artikeln zum Hussitentum: F. Šmahel vergleicht die vier Prager Artikel von 1420 mit den vier Losungen von Hus von 1413 (329–339). Die Artikel von 1420 stellten den kleinsten gemeinsamen Nenner der Bewegung dar und wurden erst nach 1421 als hussitisches Maximalprogramm kommuniziert. Zum Schluss bietet Jan Royt einen anschaulichen Überblick über das hussitische Bildprogramm (341–354), das zu Propagandazwecken entworfen worden ist. In diesem Sinne haben sich gerade radikale Hussiten der Bilder bedient. Ein besonderer Fokus wird auf die Darstellungen von Jan Hus gerichtet, die ihn als Märtyrer und Heiligen stilisieren. Leider kann der Autor, wie er selbst feststellt, einen Vergleich mit dem lutherischen Propaganda-Material nicht bieten.
Obwohl das Buch insgesamt durch seine Materialfülle und die verschiedenen Aspekte der Beiträge überzeugt, lassen sich einige kleinere Anfragen vor allem terminologischer Art stellen. Fragwürdig ist z. B. die Rede vom »großen Schisma« (50) – dieser Terminus müsste zumindest noch durch das Attribut »abendländisch« er­gänzt werden. Fraglich ist auch die Verwendung des Terminus »Reform«. Viele Ansätze in dem Band lassen sich besser unter die m. E. tendenziell zurückhaltendere Kategorie »Kirchenerneuerung« oder »Wie­derherstellung« subsumieren. Und auch die Rede von einer »böhmischen Reformation« (311.329 u. a.), die zumindest in der deutschen Wissenschaft so nicht üblich ist, müsste kritisch reflektiert werden – die Einleitung Machileks bietet dazu nicht genügend Hinweise. An manchen Stellen ist den Autoren deutlich eine konfessionelle Tendenz abzuspüren, so etwa wenn Machilek von städtischen Prädikaturen als »Einbruchsstellen« der Reformation spricht (71). Auch unerhebliche Druckfehler lassen sich beobachten, so z. B. zurückverfogen statt zurückverfolgen (205).
Insgesamt dient der Band aber auch durch zwei hilfreiche Re­gister als nützliches Nachschlagewerk zur ostmitteleuropäischen Christentumsgeschichte des 14. und 15. Jh.s. Er macht deutlich, dass sich die Beschäftigung mit dieser Region durchaus lohnt und noch vertieft werden könnte, um eine wirklich gesamteuropäische Christentumsgeschichte zu erstellen.