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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1197–1199

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vegge, Tor

Titel/Untertitel:

Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XVI, 575 S. m. Tab. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 134. Lw. EUR 148,00. ISBN 978-3-11-018345-0.

Rezensent:

Udo Schnelle

In der neuesten Forschung nimmt die Frage nach dem unmittelbaren Einfluss hellenistischen Denkens auf den Apostel Paulus zu. An welchen Orten und in welchen Überlieferungszusammenhängen kam Paulus mit hellenistischem Denken/Bildung in Berührung? Dieser Zentralfrage geht Tor Vegge in seiner von David Hellholm betreuten und 2004 in Oslo angenommenen Promotion nach. Die Arbeit ist in zwei große Hauptteile gegliedert. Im 1. Hauptteil werden Ausbildung und Bildung in hellenistischer Zeit, im 2. Hauptteil die Ausbildung und Bildung des Paulus untersucht.
V. behandelt zunächst das gesamte Spektrum des antiken Schulwesens, wobei der Werdegang und soziale Status von Lehrern und Schülern/Studenten im Mittelpunkt stehen. Das Ideal eines Lehrers und Philosophen besteht darin, durch Lebenspraxis die Schüler zu überzeugen, so wie es Sokrates vorlebte. Der Vorbildcha­rakter des Lehrers und das Ideal der Unabhängigkeit und Freiheit lassen sich vor allem bei Epiktet und Dion von Prusa deutlich zeigen. Zu den Rhetoren- und Philosophenschulen berühmter Lehrer kamen die Schüler von weither und unterwarfen sich langjährigen Übungen. Dennoch war der soziale Status der Mehrzahl der griechischen und römischen Lehrer eher gering, weil sie selbst für ihren Broterwerb arbeiten mussten. So trieben zahlreiche Lehrer Werbung und liefen teilweise ihrer Klientel nach. Unter den Ausbildungsstätten ragten die örtlichen Gymnasien und die überregionalen Rhetoren-/Philosophenschulen hervor. In ihnen stand die Beschäftigung mit Texten in den Formen von Interpretation und Imitation im Vordergrund, wobei die Lehre deutlich auf die Vermittlung von Ethos und Weltanschauung zentriert war. Da die Philosophie zur damaligen Zeit einen erheblichen Einfluss auf das öffentliche kulturelle Leben hatte, waren die Schulen von großer gesellschaftlicher Bedeutung. In diesem Kontext strebten auch Kinder aus jüdischen Familien nach Bildung. Über höhere jüdische Schulen ist zwar wenig bekannt, aber Jesus Sirach und Philo von Alexandrien weisen auf die Existenz hervorragender jüdischer Bildungsinstitute hin. »Allgemein kann angenommen werden, daß die Pflege der schriftlichen und mündlichen Traditionen, wie sie in Qumran, unter den Schriftgelehrten in Jerusalem und in pharisä­ischen Kreisen betrieben wurde, nicht nur eine allgemeine Ausbildung in Lesen und Schreiben voraussetzt, sondern eine weiterführende Bildung, die eine Interpretation von Texten beinhaltete und in der die Voraussetzungen für die Vermittlung der Interpretationen in Predigten und im Unterricht erarbeitet wurden« (104).
Ausführlich widmet sich V. den konkreten Inhalten und Techniken der Bildung in antiken Schulen. Dabei steht der Umgang mit Texten im Vordergrund, konkret das Lesen und Schreiben von Texten ebenso wie ihre Komposition. Von besonderer Bedeutung sind sprachliche Übungen (Progymnasmata), die eingesetzt wurden, um die literarische Kompetenz der Schüler zu erhöhen. Ausführlich werden dabei behandelt: Chrie, Gnome, Fabel, Diegesis, Topos, Ekphrasis, Prosopopoiie, Enkomion, Synkrisis, Thesis und Nomos. »Die Progymnasmata bauten auf der literarischen Ausbildung in der Grammatikschule auf und leisteten eine praxisbezogene Einführung in die literarischen und rhetorischen Gattungen, und dies auf einer Skala, die mit den ganz einfachen Formen anfängt und bis hin zu vollständigen demonstrativen, deliberativen und iudizialen Texten reicht, in denen alle Eigenschaften und Fähigkeiten eines Redners eingesetzt werden sollten« (184). Die Ausbildung zielte darauf, die Anlagen eines Menschen durch Bildung zu veredeln und zu verfeinern. Dabei war zunächst die Erlangung ausreichender Kompetenz in den kanonisierten Fächern (Rhetorik, Grammatik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) notwendig, bevor die Persönlichkeitsbildung in ihr eigentliches Stadium trat. Hier spielt nun die Bildung durch Philosophie und vor allem Rhetorik eine ganz besondere Rolle, denn das rechte Tun und die Weisheit sowie die damit verbundene moralische Vollkommenheit werden vor allem durch Philosophie und Rhetorik gewonnen. Insgesamt kann die moralische Bildung als das zentrale Ziel antiker Schulen angesehen werden.
In einem eigenen Kapitel wird die jüdische Bildung behandelt. Bildung war im Judentum nicht so stark von der gesellschaftlichen Position abhängig wie im griechisch-römischen Bereich. Im Elementarunterricht war die Tora Grundlage und Inhalt des Unterrichts, der im Rahmen der Synagogen stattfand, die als jüdische Alternative zu den Gymnasien bzw. Rhetoren-/Philosophenschulen zu gelten haben. Als das Zentrum der jüdischen Bildung galt zweifellos Jerusalem, umstritten bleibt die Frage nach der jüdischen Ausbildung außerhalb Jerusalems. Dabei geht V. zu Recht davon aus, dass die Synagogen auch in der Diaspora eine weiterführende Ausbildung ermöglichten. Der Pharisäismus wird von V. als eine Form höherer jüdischer Bildung beschrieben, deren gesellschaftliche Verortung ebenso behandelt wird wie die besonderen Lehrinhalte und Lehrmethoden. Als Fazit ergibt sich: »Meines Er­achtens kann von allgemeiner (griechisch-)hellenistischer Ausbildung geredet werden, von der sich die jüdische Elementarausbildung nicht grundsätzlich unterschied. Eine spezifischere jüdische Bildung, wie etwa jene der Pharisäer, hatte durchaus ein besonderes Gepräge, das sie gegenüber anderen Bildungswegen abgrenzte, doch ist sie letztlich als eine Alternative innerhalb der Bildungswege in hellenistischer Zeit einzustufen« (296). Insgesamt war es das Ziel der gesamten antiken Bildung, sich auf den Weg zur Vollkommenheit zu begeben, die im jüdischen Kulturkreis vor allem in der Erlangung der Weisheit gesehen wurde. Dabei kam der rheto­rischen und philosophischen Bildung eine Schlüsselfunktion zu.
Im zweiten Hauptteil seiner Arbeit wendet sich V. der Ausbildung und Bildung des Paulus zu. Er geht davon aus, dass Paulus gut ausgebildet war und neben seiner pharisäischen Bildung auch über eine allgemeine literarische Ausbildung sowie rhetorische und philosophische Bildungselemente verfügte. Methodisch können sie nicht anders erhoben werden als durch eine Rückkoppelung von den literarischen und rhetorischen Elementen der Paulusbriefe, d. h. von den Befunden der Briefe wird auf die vorauszusetzende Bildung zurückgeschlossen. V. betont, dass Paulus nicht nur in der Lage war, traditionelle Briefkonventionen eigenständig abzuwandeln, sondern auch innerhalb der Briefe gekonnt rhetorisch zu argumentieren.
Als Beleg dafür dient eine umfassende Analyse von 1Kor 7 und 2Kor 10–13. Es ist zu folgern, dass für die Gestaltung solch komplexer Texteinheiten eine literarische Ausbildung unabdingbar war: »Die Erstellung eines abgeschlossenen und hinsichtlich Disposition und Stil durchgearbeiteten Textes setzte eine gründliche Ausbildung in Grammatik- und Rhetorikschule voraus. Die Qualität der paulinischen Texte belegt folglich die solide allgemeine literarische Ausbildung, die Vertrautheit mit Form und Inhalt der rhetorischen und philosophischen Rede ihres Autors« (423). Hinsichtlich ihrer pragmatischen Funktion sind die Briefe des Paulus auf einen dialogischen Austausch mit ihren Rezipienten gerichtet und betonen besonders Ethos und Praxis. Wo erwarb Paulus diese Fertigkeiten? V. setzt sich zunächst mit der bekannten Debatte des Verhältnisses von Tarsus und Jerusalem als Bildungsorten des Paulus auseinander. Mit Recht lässt er sich dabei nicht auf eine Alternative ein, sondern betont, dass sich die Erziehung im jüdischen Elternhaus, das Kennenlernen hellenistischer Bildungselemente und die Ausbildung zum Pharisäer nicht ausschließen. Insbesondere Lukas lässt Paulus in der Apostelgeschichte als begabten Redner und kompetenten Lehrer auftreten. Vor seiner spezifisch jüdischen Bildung als Pharisäer dürfte Paulus bereits in Tarsus eine litera­rische Bildung erworben haben: »Es kann vorausgesetzt werden, daß Paulus eine literarische Ausbildung in ihrer allgemeinen griechisch-hellenistischen Form erhielt und daß er danach bei einem Redelehrer die Progymnasmata durchlief, wodurch er sich die Grundlage seiner literarischen Virtuosität verschaffte. Seine Schriften legen außerdem nahe, dass Paulus auch mit philosophischer Lehre und philosophischem Ethos vertraut war, und belegen in ihrer nach dem Muster philosophischer Texte zugeschnittenen Form seine litera­rische und rhetorische Kompetenz« (462). Schließlich durchlief Paulus einen dritten Bildungsgang, nämlich als Christusgläubiger. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass sich Elemente der beiden vorhergehenden Bildungsgänge mit neuen Elementen verbinden. Insbesondere die mit rhetorischen Elementen versehene Schriftargumentation lässt noch deutlich pharisäische Einflüsse erkennen. Die pharisäische Bildung ist aber nicht als ein Gegensatz oder eine Abkehr von der Vorbildung zu verstehen, sondern setzt eigene theologische Akzente, die ebenso wie die vorangegangenen Bildungselemente den christusgläubigen Paulus bestimmen.
In einem abschließenden Kapitel widmet sich V. der Frage einer Paulusschule. Hier tritt Paulus selbst als Lehrer auf und prägt die Identität seiner Schüler. Insbesondere die beiden Korintherbriefe zeigen nach Meinung von V., dass Paulus einen Kreis von Schülern um sich sammelte und mit ihnen zentrale theologische Themen erörterte, die auf eine Verarbeitung und Übermittlung von Er­kenntnissen und Ethos hinzielten.
Die Ergebnisse dieser Dissertation sind für die Paulusforschung von grundlegender Bedeutung. Wertvoll sind zunächst die zahlreichen Einzelbeobachtungen zum antiken Schulwesen, die hier nur ansatzweise wiedergegeben werden konnten. Hinzu kommt ein klares Gesamtergebnis: Paulus tritt uns als ein hellenistisch gebildeter Mensch jüdischer Herkunft und Prägung entgegen, d. h. beide Bereiche sind wahrzunehmen und vor allem nicht als Gegensätze zu betrachten. Dies bedeutet auch, dass eine vor allem in der sog. ›new perspective‹ gepflegte Verengung der Fragestellung auf das Verhältnis zum Judentum weder dem Leben des Paulus noch dem Zeugnis seiner Briefe gerecht wird. Paulus wurde zu einer Zentralgestalt des frühen Christentums, weil seine Theologie über An­schlussfähigkeit sowohl gegenüber dem Judentum als auch ge­gen­über dem griechisch-römischen Bereich verfügte, was untrennbar mit seinem Bildungsgang verbunden ist.