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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1193–1195

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lupieri, Edmondo F.

Titel/Untertitel:

A Commentary on the Apocalypse of John. Translated by M. Poggi Johnson u. A. Kamesar.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2006. XXX, 395 S. gr.8° = Italian Texts & Studies on Religion & Society. Kart. US$ 36,00. ISBN 978-0-8028-6073-6.

Rezensent:

Martin Karrer

Die italienische Forschung zur Apk ist sehr lebendig (s. Apokalypsis. FS U. Vanni, 2005; G. Biguzzi, Apocalisse 2005 u. a.). L.s Kommentar, der in Italien 1999 erschien, setzte sich dort besonders breit durch. Vielleicht trug zu seinem Erfolg bei, dass er nicht nur die wirkungsgeschichtlichen Verwerfungen ausklammert (vgl. XI vor 6; das erübrigt jede antipäpstliche Interpretation), sondern auch den Gegensatz der Apk gegen das antike Rom geringer gewichtet als sonst in der Forschung geläufig. Das Tier aus dem Meer in Apk 13 geißelt in seiner Sicht jede Art universaler Macht und lediglich als ein Beispiel dessen Rom (201 f.). Die Zahl 666 in 13,18 bezieht sich nicht auf Nero, sondern auf den Satan (was durch antigöttliche Bilder wie das 60 x 6 Ellen große Idol vorbereitet sei, das Nebukadnezzar laut Dan 3,1 errichtete; 214–218). Selbst bei Apk 17,9 f. bezweifelt L. eine direkt antirömische Stoßrichtung, weil die Hügel Roms griechisch in der Regel nicht »oros« (Berg, V. 9), sondern »lophos« heißen. Stattdessen vermutet er eine allgemeine mythische Aus­sage, der zufolge verfehlte Herrschaften die Geschichte durch die Zeiten bestimmen, gelenkt durch feindliche Engelmächte; die Gemeinde lebt dabei in der sechsten Epoche, kurz vor der siebten Zeit mit der satanischen Attacke auf den Logos (270–275). Die Übersetzung ins Englische macht diese These nun international be­kannt.
Vergegenwärtigen wir, bevor wir zu dieser These zurückkehren, die Gesamtanlage des Kommentars. Er ist in umfangreiche Ein­leitung (1–44; Wirkungsgeschichte, religionsgeschichtlich-apokalyptisches Milieu, Einleitungsfragen), Wiedergabe des Textes mit Übersetzung (46–95) und fortlaufende Auslegung (97–363) gegliedert. Durch Autoren-, Sach- und Stellenregister (364–395) wird er vorzüglich erschlossen, so dass sich sehr gut mit ihm arbeiten lässt.
Ausgelegt wird der Text von Nestle-Aland26 (die sechs Korrekturen von Nestle-Aland27 nennt L. IX; in 6,17 verschreibt S. 58 die Variante »autou« unglücklich zu »autoun«). Das lässt sich vertreten, wäre aber angesichts der Probleme der Textrekonstruktion genauer zu begründen (irritierend gibt IX der Hs. A den Namen Vaticanus). Die Datierung zwischen 70 und 100 und die Bestimmung des Autors als judenchristlicher Prophet (35–40), der mit johanne­ischen und paulinischen Traditionen vertraut sei, entsprechen dem Mainstream der Forschung (43 f.).
Ungewöhnlicher ist schon die Annahme, dieser Autor befinde sich in einem so intensiven Gespräch mit jüdisch-apokalyptischen Traditionen (13–17 u. ö.), dass nicht nur traditionsgeschichtliche Zusammenhänge oft mit Händen zu greifen (vgl. 14,4 mit der Sünde der Wächterengel im 1Hen [221], 14,20 mit 1Hen 100,3 [232] etc.), sondern sogar anzunehmen sei, dass 2Bar und die koptische ApkEl polemisch auf die Apk antworten (44). Ein strenger literarischer Nachweis dessen ist nicht möglich.
Was die Zeitgeschichte angeht, kritisiert L. unvermittelte Rück­schlüsse aus dem Text. Denn der Autor entwerfe sein Leserbild selbst in den Sendschreiben in deutlicher Abstraktion (11). Literaturwissenschaftliche Theorien des impliziten/idealen Lesers (etc.) stehen hier begründet Pate. Dennoch überrascht die Konsequenz. L. sieht sich namentlich nicht veranlasst, griechisch-römische Quellen mit einigem Gewicht in die Deutung der Apk einzubringen, und das, obwohl die Apk sich selbst in Kleinasien – damit in einem zutiefst gräzisierten, römisch neu gestalteten Raum – ansiedelt und die Erstveröffentlichung des Kommentars in einer klassisch-philologischen Reihe, den Scrittori greci e latini, erfolgte.
Sachlich rundet sich mit diesem Vorgehen die Konzeption ab. Die Apk gehört laut L. in den Kreis apokalyptischer Literatur mit spezifischen mythischen Impulsen. Auszulegen ist sie primär in der jüdischen Religions- und Theologiegeschichte und in Auseinandersetzung mit dieser, also im Zusammenspiel mit jüdischen Quellen (L. benützt namentlich Prophetie und apokalyptische Texte mit besonderer Liebe zu 1Hen). Die Auseinandersetzung mit Rom wird nicht irrelevant, aber von sekundärer Bedeutung.
Die apokalyptische Deutung wie die Entscheidung der Einleitungsfragen sind in großen Teilen der Forschung gut vorbereitet, und selbst die Aufwertung Roms besitzt auf den ersten Blick Reiz, da sie zur mythischen Größe (und Fremdheit) des Textes korrespondiert. Doch sind die Angaben der Apk zu konkret, um auf zeitgeschichtliche Zuspitzungen verzichten zu können. So stellt sich die Frage: Wer sind die Gegner der Apk, wenn Rom in der Aufmerksamkeit zurücktreten muss?
L. macht eine doppelte Front aus. Zum einen verweist er auf einen nachpaulinischen Kreis, der zu falschen religiösen und sozialen Kompromissen mit der griechischen Umwelt bereit gewesen sei (42). Für einen solchen antipaulinischen Impetus der Apk spricht einiges; allerdings sieht L. bereits hier gerne hellenisierende Judenchristen gemeint, nicht wie andere Forscher Völkerchris­ten (bes. 116 zu den Nikolaiten). Insofern entsteht eine Berührung zur zweiten Gegnergruppe, den »non-Christian Jews« (42). Auch diese Gruppe ist nämlich laut L. in Kleinasien kulturell gräzisiert (allerdings war die bekannte Synagoge von Sardes, L.s Hauptbeleg [42], zur Zeit der Apk noch nicht in Gebrauch). Diese Gruppe ist die »Synagoge Satans« aus Apk 2,9; 3,9 (118 f.).
Verzerren wir den Befund nicht. L. wehrt einen Antijudaismus der Apk ab; denn deren Autor ist selbst jüdischer Herkunft und das entstehende Christentum im Entwurf dieses Autors eine jüdische Größe (»the true Israel«, 206). D. h., wir stoßen auf »the bitter confrontation between contemporary Jewish groups« (118). Doch in Kombination mit der Entlastung Roms entsteht ein gefährliches Gefälle: Die eigentümliche Szene in 11,1 f., die den Angriff der Völker auf den Tempel in Jerusalem 70 n. Chr. spiegelt, wird bei L. durchsichtig auf eine Scheidung innerhalb Israels; der »Vorhof« = das historische Judäa-Jerusalem/nichtchristliche Israel wird vom Autor der Apk preisgegeben, das geschützte Zentrum des Tempels mit Gott und der bewahrte Tempel mit der »true church« identifiziert (172 f.). Das zweite Tier in Apk 13 enthält zwar Züge des Kaiserkultes, aber nicht primär (sonst müsste L. zur politischen Deutung zurückkehren); vielmehr repräsentiert es außerdem »the corrupt form of Judaism that has compromised with the pagan world« (210; 209 macht eine Anspielung auf die Szene vom Goldenen Kalb [Ex 32] aus). Das »charagma« (Zeichen an Hand oder Stirn) aus 13,16 wird unversehens eine polemisch-sarkastische »allusion to the Jewish practice of using tefillim or phylacteries«; das nichtchristliche Judentum gewinnt das Gesicht einer geradezu satanischen Integration in die Welt (212).
Das exegetische Problem liegt auf der Hand. Während L. zur Vorsicht gegenüber vorschnellen Rückschlüssen auf Rom mahnt, lässt er bei Rückschlüssen auf das nichtchristliche Israel diese Vorsicht beiseite. Am Ende gewinnt die Hure Babylon, die er – wie be­schrieben – von Rom löste, die Konnotation Jerusalems (249 unter Verweis auf Jes 1,21; Jer 2,20; Ez 16 und 23), was auf eine Stadt an den Wassern (Apk 17,1) keinesfalls passt. Kurz, seine scharfe Auseinandersetzung mit Israel, das Komplement der Aufwertung Roms, überzeugt weder exegetisch noch theologisch.
Das Hauptverdienst des Kommentars liegt damit neben vielen wertvollen Einzelbeobachtungen (z. B. dem Hinweis, dass der Bo­gen des ersten Reiters in 6,2 heilvoll auf den Regenbogen von Gen 9,13 anspielen könnte, da griechisch beide Male »toxon« steht; 142) in der fast paradoxen Vergegenwärtigung eines Problems: Wer die Auseinandersetzung mit Rom zeitgeschichtlich-theologisch mindern will, muss hohe Kosten in Kauf nehmen, in unserem Fall etwa einen übermächtigen Konflikt mit der Synagoge stilisieren. Nach Ansicht des Rezensenten sind diese Kosten zu hoch.