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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1191–1193

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jewett, Robert

Titel/Untertitel:

Romans. A Commentary. Assisted by R. D. Kotansky. Ed. by E. J. Epp.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2007. LXX, 1144 S. gr.8° = Hermeneia – A Critical and Historical Commentary on the Bible. Geb. US$ 90,00. ISBN 978-0-8006-6084-0.

Rezensent:

Stefan Krauter

An Römerbriefkommentaren herrscht kein Mangel. Dennoch gibt es immer wieder »große« Römerbriefkommentare, deren lange erwartetes Erscheinen ein Ereignis ist. Zu diesen »großen« Kommentaren ist der von Robert Jewett vorgelegte gewiss zu zählen. Dies schon wegen seines beeindruckenden Umfanges, vor allem aber, weil es ihm ge­lingt, die Weite der gegenwärtigen Römerbrief- bzw. Paulusforschung aufzunehmen und zugleich eigene Akzente zu setzen.
In welcher Breite die aktuelle Forschung rezipiert wird, zeigt schon das beeindruckende Literaturverzeichnis (XXXV–LXX). Ne­ben englischsprachigen Titeln enthält es auch zahlreiche deutsche und französische. Das kann man heutzutage gar nicht genug hervorheben und würdigen. Im Kommentar wird deutlich, dass J. diese Vielfalt von exegetischen Beiträgen nicht nur als Literaturhinweise zitiert, sondern auch tatsächlich Anregungen aus verschiedenen Strömungen der Paulusforschung aufnimmt. Selbstverständlich spielt die New Perspective on Paul eine Rolle, daneben prägt die amerikanische Tradition der rhetorischen Analyse neu­tes­tamentlicher Briefe das Werk, große Bedeutung haben schließlich die sozialwissenschaftlich geprägte Analyse und in Verbindung mit ihr die antiimperiale Paulusdeutung der »Paul and Po­litics«-Gruppe. Obwohl sich J. von der »traditionell lutherischen« Auslegungstradition abgrenzt, nimmt er auch Beiträge aus dieser Richtung aufmerksam wahr. Aus all dem macht J. nun freilich kein beliebiges Potpourri, sondern setzt eigene Akzente, die dem Kommentar seine Geschlossenheit als Entwurf geben.
Ein erster solcher Schwerpunkt ist die ausführliche Textkritik. Im Unterschied zu fast allen neueren Kommentaren befasst sich der von J. grundlegend in der Einleitung (4–18) und jeweils zu den einzelnen Stellen in einem auf die Übersetzungsabschnitte folgenden kurzen Apparat mit textkritischen Fragen und bietet einen leicht von Novum Testamentum Graece27 abweichenden Text.
Ein zweiter Schwerpunkt ist die rhetorische Analyse des Textes. In der Einleitung geht J. ausführlich sowohl auf sein diesbezügliches Gesamtkonzept (»ambassadorial letter«, »evangelical persuasion«) als auch auf sehr feinsinnig beobachtete gestalterische Einzelheiten (Figuren, Reihenbildungen) ein. Im Kommentar selbst wird die rhetorische Ausrichtung an der Gesamtgliederung und an der zu jedem Abschnitt gegebenen sehr detaillierten Feingliederung deutlich. Sowohl hinsichtlich des Gesamtkonzepts als auch hinsichtlich der Durchführung bleiben gewichtige offene Fragen. Am wenigsten plausibel erscheint dabei die – für die inhaltliche Auslegung äußerst folgenreiche – Bestimmung von Röm 1,13–15 als narratio und 15,14–16,23 als peroratio. So richtig es sein mag, dass die schlichte Bestimmung als »Briefschluss« letzterem Ab­schnitt, insbesondere dem Gewicht der Ausführungen in 15,14–33 zu Apos­tolat und Missionsidee des Paulus, nicht ganz gerecht wird – die Grußliste in 16,1–15 als Ziel- und Höhepunkt des gesamten Briefes anzusehen (und dementsprechend überzuinterpretieren), kann nicht überzeugen. Dennoch ist der Kommentar hinsichtlich der rhetorischen Analyse des Römerbriefes eine reiche Fundgrube.
Angesichts dieser beeindruckenden philologischen Gelehrsamkeit sind die leider recht häufigen sprachlichen Ungenauigkeiten und Fehler in dem Kommentar erstaunlich. Vieles davon wird man eher dem Verlag als J. zurechnen: teilweise sinnentstellende Verschreibungen in vielen lateinischen Zitaten (z. B. 441.732.992) oder die beinahe durchgängige Verwendung der inkorrekten lateinisch-griechischen Mischform »προσωποποεία«. Anderes bleibt irritierend, etwa die nicht wenigen Stellen, an denen man die Übersetzung für mindestens problematisch halten wird (z. B. Röm 1,4; 7,15.21; 13,11). Röm 16,2 ist mit »provide her whatever she might need from you in the matter« sogar schlicht und einfach falsch übersetzt.
Ein dritter Schwerpunkt prägt den Kommentar wohl am meis­ten: Aufbauend auf umfangreiche Vorarbeiten rekonstruiert J. als Kommunikationssituation des Briefes, dass Paulus mit Hilfe der Patronin Phoibe die römischen Christen zur Unterstützung seiner geplanten Spanienmission bewegen wolle. Da Spanien als barbarische Provinz par excellence gegolten habe, müsse sich Paulus dabei mit der imperialistischen »honour and shame«-Ideologie des römischen Reiches auseinandersetzen, die sich auch unter den römischen Christen – wie an den Konflikten in Röm 9–11 und 14,1–15,6 zu erkennen – bemerkbar gemacht habe. Welches Gewicht für J. dieser rekonstruierten Kommunikationssituation zukommt, zeigt er selbst, wenn er »the interpretation of each verse and paragraph« (1) direkt von ihr abhängig macht.
Dieser Ansatz hat seine Stärken. Wie kaum ein anderer Kommentar bietet der von J. in der Einleitung und im laufenden Text kenntnisreiche und detaillierte historische Informationen zur sozialen Stellung und kulturellen Prägung der Gemeinde in Rom und dem Ziel der geplanten Missionsreise Spanien (46–79). Dennoch bleiben Fragen, die die historische Plausibilität von J.s Rekonstruktion, die Durchführung der auf ihr basierenden Auslegung und die zu Grunde liegende Hermeneutik betreffen.
Wie alle Vertreter der Spanienhypothese in der Diskussion um den Abfassungszweck des Römerbriefes hat auch J. damit zu kämpfen, dass das Briefcorpus (über den Briefeingang mag man streiten) keinerlei expliziten Bezug zu Spanien aufzeigt. Zu oft muss J. daher das Argument bemühen, Phoibe und ihr Sekretär Tertios (den man auf Grund von Röm 16,22 allerdings eher nicht in Rom vermuten würde) hätten die Informationen des Briefes mit mündlichen Erläuterungen ergänzt (89–91). Selbst in der falschen Übersetzung von J. gibt Röm 16,2 das nicht her.
Trotzdem könnte man J.s Rekonstruktion als Arbeitshypothese nehmen, die sich in der Auslegung der einzelnen Texte zu bewähren hat. Das ist aber nur bedingt zu erkennen. Die Betonung soziologischer und politischer Fragestellungen ist natürlich für einen Text wie Röm 13,1–7 und darüber hinaus für alle »ethischen« Passagen des Briefes produktiv. In Partien wie Röm 5–8 wirkt der Hinweis auf Spanien hingegen teilweise wie ein schlecht motivierter Nachklapp zu den Auslegungen. Die theologischen Fragestellungen, die Paulus in diesen Kapiteln aufwirft, werden kaum aufgegriffen. Manche Auslegungen sind unplausibel; besonders die autobiographische Deutung des Ich von Röm 7 ist unglücklich.
Doch von all diesen Einwänden einmal abgesehen: Warum sollte es überhaupt sinnvoll sein, einen Text verstehen zu wollen, indem man ihn bis in alle Einzelheiten an eine hypothetisch rekonstruierte historische Situation zurückbindet? Melanchthons »compendium doctrinae christianae«, wie es nicht nur J., sondern der ganze gegenwärtige Mainstream der Paulusexegese tut, als Schreckbild an die Wand zu malen, ist zu einfach. Zwischen »für die Ewigkeit« und »für den Augenblick« gibt es durchaus Zwischenstufen. Sie wahrzunehmen würde es erlauben, Paulus als von seiner Zeit geprägt und in die damaligen Konflikte verwickelt und zugleich als theologischen Denker von Format zu würdigen, der grundlegende Fragen aufwirft und mit dem Mut zu Paradox und Aporie konsequent verfolgt.
J.s Kommentar wird unter den vielen Römerbriefkommentaren einen bleibenden Platz einnehmen. Er ist eine große individuelle Leistung und zugleich ein Spiegel der gegenwärtigen Paulusforschung, mit ihrem Glanz – und ihrem Elend.