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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1183–1184

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Jost, Renate

Titel/Untertitel:

Frauenmacht und Männerliebe. Egalitäre Utopien aus der Frühzeit Israels.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 191 S. 8°. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-17-019511-0.

Rezensent:

Christl M. Maier

Das Buch bietet eine stark gekürzte Fassung der ebenfalls 2006 im Kohlhammer Verlag unter anderem Titel erschienenen Habilitationsschrift der Neuendettelsauer Professorin für Theologische Frauenforschung. In einer kurzen Einleitung (9–29) beschreibt J. ihr Interesse, das Geflecht von Herrschaft, Sexualität und Ge­schlechterbeziehungen im Richterbuch zu analysieren, sowie ih­ren Ansatz einer feministisch-befreiungstheologischen Interpretation. Vor dem Hintergrund neuerer archäologischer Studien zum vorstaatlichen Israel, die eine gleichwertige Beteiligung von Frauen an Produktion und Reproduktion erschließen, und in Analogie zu anthropologischen Modellen segmentärer Gesellschaften sucht J. nach Hinweisen auf Geschlechtersymmetrie in den biblischen Texten. J.s hermeneutisches Modell einer »integrativen Exegese« (vgl. das Schema, 30) zielt zum einen auf eine Rekonstruktion der Geschlechterbeziehungen sowohl für die erzählte Zeit als auch für die Zeit der Erzähler, zum anderen auf eine Aktualisierung der Ergebnisse für heutige Leserinnen und Leser, die jeweils am Ende jedes Kapitels sowie am Buchende vorgenommen wird. Dabei gebraucht J. den Begriff der ›Wildnis‹ als Metapher, die sowohl das Bild einer egalitären Gesellschaft als auch die gegensätzliche Vorstellung einer gewalttätigen Anarchie mit asymmetrischen, patriarchalen Geschlechterbeziehungen umgreift (12).
Analysiert werden Lied und Erzählung über Debora und Jaël (Ri 4–5), die Erzählungen von Jiftachs Tochter (Ri 11,29–40), Simsons Geburt (Ri 13), seiner Liebe zu Delila (Ri 16) und anderen Frauen (Ri 14) sowie die Geschichte um den gewaltsamen Tod der Nebenfrau des Leviten (Ri 19). Die Exegesen bieten jeweils eine textkritisch kommentierte Übersetzung des hebräischen Textes, die Erläuterung wichtiger Begriffe und Namen sowie die Auseinandersetzung mit bisherigen Interpretationen, wobei hauptsächlich feministische Studien berücksichtigt werden.
Insgesamt findet J. im Richterbuch zwei sich widerstreitende Perspektiven: Eine in die Vergangenheit projizierte Utopie einer Gesellschaft ohne Staat mit Geschlechtersymmetrie (Ri 11; 13–16) bzw. Asymmetrie zu Gunsten von Frauen (Ri 4–5) dokumentiert ›wildes Denken‹ als Befreiung aus Fremdherrschaft und Kolonisierung. Demgegenüber steht ein zu Ungunsten von Frauen extrem asymmetrisches Plädoyer für das Königtum und die Abkehr von der ›Wildnis‹, das Machtverhältnisse der späteren Königszeit spiegelt und Frauen als im Blick auf Macht ambivalent (Delila in Ri 16; Michas Mutter in Ri 17) oder völlig machtlos (Ri 19) darstellt. Dieses Plädoyer kann als Legitimation der Königszeit, aber auch als nachexilischer Versuch des Aufbaus hierarchischer Strukturen gedeutet werden. J. zufolge steht der Gott Israels stets auf der Seite der ›Wilden‹, der Frauen und Männer, die sich gegen politische, so­ziale und sexuelle Gewalt wehren.
Die Studie belegt eindrücklich, wie angesichts von Ambivalenzen und Leerstellen der Texte die Hermeneutik der Auslegenden deren Deutung bestimmt und dass die verbreitete Vorstellung, Israel sei von Beginn an eine patriarchalische Gesellschaft gewesen, ebenso erklärungsbedürftig ist wie die Utopie einer geschlechtersymmetrischen Frühzeit.