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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1177–1179

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Thompson, John L.

Titel/Untertitel:

Reading the Bible with the Dead. What you can learn from the History of Exegesis that you can’t learn from Exegesis alone.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. 324 S. gr.8°. Kart. US$ 20,00. ISBN 978-0-8028-0753-3.

Rezensent:

Martin Meiser

Die Geschichte der Schriftauslegung zieht seit einiger Zeit verstärktes Interesse auf sich. Eine steigende Anzahl thematischer Un­ter­suchungen, regelmäßige wirkungsgeschichtliche Exkurse in einzelnen Kommentarreihen sowie mehrere eigens diesem Forschungs­feld gewidmete Kommentarprojekte legen davon Zeugnis ab.
Vor allem für die Ebene der Hermeneutik sind gewisse Einsichten mittlerweile etabliert: Der Blick in die Auslegungsgeschichte der Bibel erinnert an die Aufgabe der Applikation, erinnert an die geschichtliche Bedingtheit auch der eigenen Exegese und öffnet die Augen für die Schriftauslegung in anderen christlichen Kirchen. Doch wird sich erst an der Arbeit an den Einzeltexten zeigen, ob von diesem neu erwachten Interesse auch konkret ein weiterführender Gewinn für die neuzeitliche Exegese und für die kirchliche Verkündigung zu erwarten ist.
Unter diesem Fragehorizont nimmt man das hier vorzustellende Buch mit gespannter Erwartung in die Hand. John L. Thompson, Kirchenhistoriker mit Schwerpunkt Reformationsgeschichte am Fuller Theological Seminary in Pasadena (Kalifornien) hat schon ein thematisch ähnlich gelagertes Buch vorgelegt (Writing the Wrongs: Women in the Old Testament among Biblical Commentators from Philo to the Reformation). Im vorliegenden Band bringt er anhand problematischer Texte wie Gen 16; Ri 11 oder 1Kor 14,34–36 voraufklärerische Exegese mit Fragestellungen neuzeitlicher kontextueller Exegese (feministische Theologie, Befreiungstheologie) ins Ge­spräch. Beide so ungleiche Gesprächspartner verbindet, dass biblische Texte nicht in wissenschaftlicher Distanz be­trachtet, sondern hinsichtlich ihres normativen Anspruchs wahrgenommen werden. Die Kriterien neuzeitlicher kontextueller Exegese zur Beurteilung früherer Auslegungen (vor allem Empathie für Opfer von Unterdrückung und Gewalt) macht Th. sich im We­ sentlichen zu eigen. Natürlich sind, das weiß er wohl, diese Kri­terien den früheren Auslegern fremd, aber, und das ist das Über­raschende an diesem Buch, es ergibt sich gerade kein einseitig negatives Bild dessen, was bis ca. 1600 zu den oben angegebenen problematischen Texten geschrieben wurde:
1. Anstöße neuzeitlicher Auslegung an dem moralischen Versagen biblischer Helden oder auch an der geschlechtsspezifisch ge­deu­teten Ungleichartigkeit der Schicksale (warum muss Jephthas Tochter sterben, während Abrahams und Sauls Söhne verschont bleiben?) finden sich schon in voraufklärerischer Exegese; auch manche heute befremdlichen Auslegungen sind dem intuitiven Un­behagen der Ausleger am vorliegenden biblischen Text geschuldet.
2. Auch vorneuzeitliche Auslegung achtete auf die biblisch nicht intendierten Nebeneffekte mancher Texte, die gleichwohl zu ihrer negativen Wirkungsgeschichte gehören. Dies wahrzunehmen, ist ein Zugewinn gegenüber herkömmlicher historisch-kritischer Exe­gese, die sich lange Zeit autorenzentriert auf die Intention der Texte konzentriert hat.
3. Bekannte Polemiker stehen sich in der Auslegung von Texten, die keine kontroversen Themen beinhalten, weitaus näher als zu­meist vermutet (die Feststellung ist, wie Th. weiß, im Hinblick z. B. auf die Exegese von Prov 8,22–31 oder 1Kor 15,28 in den trinitäts­theo­logischen Streitigkeiten nur bedingt richtig).
Die einzelnen Kapitel des Buches sind jeweils in einem Dreischritt aufgebaut: Zunächst werden moderne Anstöße skizziert, dann wird vorneuzeitliche Exegese dargestellt, schließlich werden explizit Folgerungen für die heutige kirchliche Verkündigung gezogen. Behandelt werden nach dieser Gliederung Gen 16; Ri 11; Ps 137,8 u. Ä.; Gen 12,10–20; Gen 30; Gen 37,19; Hos 1,2 f.; 1Kor 11,5; 14,34–36; 1Tim 2,13–15; Gen 34,1 f.; 2Sam 11,5; 13.
Ein Durchgang durch die einzelnen Kapitel könnte nur sehr verkürzt die intensive Arbeit Th.s an den Quellen sichtbar machen; Lesefrüchte müssen genügen.
Einerseits bestätigt sich aufs Neue die Erkenntnis, dass vorneuzeitliche Exegeten kein Gespür haben für das strukturelle Problem der Unterdrückung von Frauen und Fragen der äußeren Ordnung vorschnell in Ontologie überführen (183). Dass Texte wie Hos 1,2 f.; Ez 16; 23 als Pornographie wirken können, wird nicht wahrgenommen (96). In der Auslegung von 1Kor 11,7 werden biblische Themen (Gottebenbildlichkeit als Herrschaft) mit damaligen Klischees (Schwäche der Frau) hinterlegt; unwirksam bleiben andere Texte wie Gal 3,28 etc., die keine Geschlechterdifferenz zulassen (129). Die Tätigkeit von Frauen wie Deborah gilt nur als göttlich legitimierte Ausnahme (gelegentlich mit der Konsequenz, für den Notfall auch die Frauenordination zuzulassen); die nur selten geäußerte Er­kenntnis, dass Texte wie 1Kor 14,34–36 nicht den Kern des Evangeliums ausmachen, hat keine praktischen Konsequenzen (181). Die Problematik von Fluchtexten wie Ps 137,8 wird empfunden, wenn sie allegorisch als Verfluchung der eigenen Sünde oder als warnende Prophetie gelesen werden, führt aber nicht zur Selbstkritik (49–70). Politisch fehlgesteuerte Exegese zieht die Polygamie der Patriarchen im 16. Jh. zur Rechtfertigung der Doppelehe Philipps von Hessen heran (91).
Andererseits sahen auch vorneuzeitliche Exegeten, dass moralisches Fehlverhalten biblischer Gestalten der Rechtfertigung be­durfte. Die Methode der Allegorisierung sucht Texten, die auf literaler Ebene anstößig sind, einen Sinn abzugewinnen (hier wäre ein Verweis auf die Intention hellenistischer Homerexegese wie frühjüdischer Bibelinterpretation hilfreich). Gelegentlich begegnet aber auch explizite Kritik an biblischen Helden: Abraham hat, so Wolfgang Musculus, bei der Vertreibung Hagars (Gen 21,14) die Vorschriften Dtn 15,13 f. verletzt (25). Jephthas Gelübde (38) und Lots Verhalten nach Gen 19 gelten Augustin dezidiert als Sünde (81). Zu 2Sam 13 steht für die vorkritischen Ausleger fest: Sündig war Am­nons Verhalten, aber auch Davids Milde. Im Einzelnen werden dann kontroverse Auslegungen sichtbar: Der entschuldigende Hinweis auf Amnons Schwäche (Nikolaus von Lyra) wird durch Dionysius den Karthäuser eben mit dem Hinweis auf die brutale Vergewaltigung bestritten. David hätte seinen Sohn, so Jean Calvin, nicht nur heimlich, sondern öffentlich bestrafen müssen, um zu demonstrieren, dass vor dem Gesetz die Menschen gleich sind. Anschuldigungen gegen Tamar, sie habe sich nicht gewehrt, werden mit Hinweis auf ihre bedrohliche Situation zurückgewiesen (199–208).
Eine gewisse Empathie gilt auch anderen Frauengestalten. Ha­gar kann nicht nur negativ als Sinnbild der rein literalen Exegese und des ungläubigen Judentums (Origenes) und der Gebundenheit jedweder Häresie (Ambrosius) zu stehen kommen, sondern auch positiv die notwendigen Anfangsgründe im Philosophiestudium symbolisieren (Philo von Alexandrien) oder den Besitz der Tugenden, die sie der Gottesschau würdig werden lassen (Didymus von Alexandrien). Wenn Hagar bei Luther den Menschen symbolisiert, der meint, Gott zum Feind zu haben, ist dies auf dem Hintergrund der vita des Reformators zu würdigen (13–32). Das Weinen der Tochter Jephthas beantwortet gelegentlich die Frage, warum sie, anders als Isaak, nicht verschont wird (Ambrosius), doch kann sie positiv als Märtyrerin (Origenes), aber auch als Typus Christi (Isidor von Sevilla) oder der Kirche (Dionysius der Karthäuser) gewürdigt werden (36–42).
Als Ertrag für die kirchliche Verkündigung kann gelten: Auch problematische Texte sind zu predigen, weil die in ihnen dargestellte Gewalt auch Teil neuzeitlicher Lebenswirklichkeit ist. Das Fehlverhalten biblischer Helden ist nicht zu verschweigen. Die Beispiele gelungener oder misslungener Exegese müssen auch heute zu der selbstkritischen Rückfrage führen, welche Reichweite Schriftauslegung gerade in den umstrittenen Fragen und Themen hat.
Den Indizes sind ein Verzeichnis vorneuzeitlicher Bibelausleger und eine Bibliographie englischer Übersetzungen der Kommentarliteratur vor 1600 beigestellt; beide sind nützliche Nachschlagewerke mit eigenständigem Wert.
Fazit: Das Buch ist ein gelungener Beitrag zum interdisziplinären Gespräch und zum Dialog zwischen theologischer Wissenschaft und kirchlicher Verkündigung.