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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1173–1175

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wilken, Robert Louis [Ed.]

Titel/Untertitel:

Isaiah. Interpreted by Early Christian and Medieval Commentators. Translated and Ed. by R. L. Wilken with A. Russel Christman and M. J. Hollerich.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. XXVIII, 590 S. 4° = The Church’s Bible. Geb. US$ 45,00. ISBN 978-0-8028-2581-0.

Rezensent:

Peter Gemeinhardt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Norris, Richard A. Jr. [Ed.]: The Song of Songs. Interpreted by Early Christian and Medieval Commentators. Translated and Ed. by R. A. Norris Jr. Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. XXII, 325 S. 4° = The Church’s Bible. Geb. US$ 40,00. ISBN 978-0-8028-2579-7.


Die Theologie der Kirche ist biblische Theologie. Und umgekehrt ist die Bibel nur im Raum der Kirche recht zu verstehen. Denn hier ist immer schon – und besonders von den Exegeten der Väterzeit – ihre genuine Spiritualität in angemessener Weise aufgespürt, verstanden und vermittelt worden. So oder ähnlich könnte man das zentrale Anliegen der »Church’s Bible« zusammenfassen, deren ersten beiden, das Alte Testament betreffenden Bände hier zu besprechen sind (ein analog ausgestatteter Band zum 1. Korintherbrief, zusammengestellt von Judith L. Kovacs, ist 2005 erschienen). Spiritus Rector und General Editor des Unternehmens ist der re­nommierte US-amerikanische Patristiker Robert L. Wilken, der bereits in seinem Buch »The Spirit of Early Christian Thought. Seeking the Face of God« (New Haven 2003, deutsche Übersetzung: Der Geist des frühen Christentums, Darmstadt 2004) das Christentum in eindrucksvoller Weise als um die Bibel zentrierte Interpretationsgemeinschaft beschrieben hat (vgl. nur S. 52 in der deutschen Ausgabe: »Die Bibel machte die Christen zu einem Volk und gab ihnen eine Sprache.«).
Wilkens Name bürgt für wissenschaftliche Qualität und zu­gleich für eine durchaus kritische Haltung zur gegenwärtigen exegetischen Forschung: »Early Christian thinkers moved in the world of the Bible, understood its idiom, loved its teaching, and were filled with awe before its mysteries. They believed in the maxim, ›Scrip­ture interprets Scripture‹. They knew something that has largely been forgotten by biblical scholars, and their commentaries are an un­tapped resource for understanding the Bible as a book about Christ« (Series Preface, in: Isaiah, XI = Song of the Songs, VIII; die Ausführungen zur Zielsetzung und zur patristischen Hermeneutik des Alten Testaments entsprechen sich weitgehend, ich zitiere im Folgenden nach dem Jesaja-Band). Bibelauslegung hat hiernach viel mit glaubendem Nachvollzug und wenig mit Literar- oder Redaktionsgeschichte zu tun. Das ist insofern nicht erstaunlich, als sich die Reihe an »clergy, Sunday school and Bible class teachers, men and women living in religious communities, and serious readers of the Bible« (X) richtet. »The Church’s Bible« soll Menschen, die heute in der Kirche leben und lehren, in das Ge­spräch mit ihrer eigenen Tradition hineinnehmen, »into the inexhaustible spiritual and theological world of the early Church and hence of the Bible« (XI). Dieses Programm ist unverkennbar rö­misch-katholisch grundiert und muss als breitenwirksamer Ausdruck einer derzeit zu beobachtenden Tendenz gewürdigt werden, die Patristik als formative Epoche der Kirche aus einer (neo-)scholastischen Umklammerung zu befreien. Und so hat es durchaus Charme, dass Wilken ausgerechnet Thomas von Aquin als Kronzeugen in Anspruch nimmt: »He prepared a commentary on the gospels based on patristic texts (not unlike The Church’s Bible)« (so in dem Biogramm auf S. 544; gemeint ist die Catena aurea).
Katenenartig ist auch der Aufbau der vorliegenden Bände: Die Erschließung der biblischen Bücher erfolgt, indem patristische und mittelalterliche Kommentare bei Jesaja nach Kapiteln (und innerhalb von diesen zu einzelnen Versen), beim Hohelied nach kürzeren Sinneinheiten zusammengestellt werden. Dass es sich bei Jesaja wohl um mehrere Textkomplexe handelt, wird zu Jes 40 kurz angedeutet (265 f.), doch dass dem Deutero- cum grano salis ein Tritojesaja folgt, erfährt man an der entsprechenden Stelle (451 f.) nicht. Die Auswahl von Autoren ist breit angelegt: Die Liste der »Authors of Works Excerpted« nennt 58 (Jesaja) bzw. 20 (Hohelied) Personen und Werke, von Clemens Romanus (um 100) bis Thomas von Aquin († 1274) bzw. von Origenes († 254) bis Nikolaus von Lyra († 1340). Dabei handelt es sich zu einem Großteil um gelegentliche Bemerkungen in anderen theologischen, homiletischen oder liturgischen Zusam­menhängen, doch sind für Jesaja immerhin vier patristische Kommentare (Euseb von Caesarea, Hieronymus, Kyrill von Alexandrien, Theodoret von Cyrus) vollständig erhalten, die auch das Grundgerüst der vorgelegten Anthologie bilden und denen dann weitere Texte zugeordnet werden (XXV). Das führt freilich dazu, dass – so ein beliebiges Beispiel – zu Jes 14 Texte aus den Kommentaren von Kyrill und Theodoret sowie aus Augustins De Genesi ad litteram, eine Predigt des Nordafrikaners und eine von Johannes Chrysostomus, ein Brief Cyprians und ein Abschnitt aus Origenes’ De Principiis, schließlich Sätze aus Cassians Institutiones und Thomas von Aquins Expositio super Isaiam ad litteram versammelt werden (171–181). Es stehen also unterschiedliche Gattungen, die von verschiedenen Autoren in teils großen Zeitabständen verwendet wurden, weitgehend unverbunden nebeneinander (die jeweils einem Kapitel vorangestellten knappen Erläuterungen beschränken sich meist auf die Interpretation von im biblischen Text begegnenden Motiven). Man muss keineswegs in starren Schulgegensätzen denken, um Origenes, Kyrill und Theodoret differierende hermeneutische Zugänge zur Bibel zu attestieren – doch um diese Unterschiede fruchtbar zu ma­chen, bedürfte es einer präziseren Hinführung der intendierten Leserschaft zu den exegetischen Techniken (im Plural!) der Väter.
Das stünde freilich im Widerspruch zu den zitierten program­matischen Bemerkungen und zu dem in der Einleitung vermittelten Eindruck, die Väter hätten sich samt und sonders einer einheitlichen Methode, der Allegorie, bedient, um das Alte Testament als Buch über Christus zu lesen (XV). Das stimmt sicher, wenn man Allegorie eher breit als »spiritual exegesis« definiert und von einer »nur« historischen Auslegung abgrenzt (XVII). Doch in spezifischem Sinn war die Allegorese bekanntlich unter den Vätern selbst umstritten, vor allem weil der allegorischen Auslegung die Gefahr inhärent war, sich vom Bibeltext (allzu) weit zu entfernen. Das weiß natürlich auch Wilken, und konsequent betont er, in welchem Kontext die exegetischen Bemühungen von vornherein zu verstehen sind: »Though early Christian exegesis may on first reading appear idiosyncratic and arbitrary, it must be remembered that it arose with-in the life of the Church and was practiced within a tradition of shared beliefs and practices, guided by the Church’s faith as ex­pressed in the creed« (XVIII). Dass die Entstehung von Glaubensbekenntnissen in der Alten Kirche zu den derzeit heftig umstrittenen Themen der Patristik gehört, sei nur angemerkt (vgl. Markus Vinzent, Der Ursprung des Apostolikums im Urteil der kritischen Forschung, FKDG 89, Göttingen 2005). Gravierender ist, dass das »Leben der Kirche« und damit diese selbst als Subjekt der Exegese historisch und theologisch kaum dingfest zu machen ist – wenn man nicht mit dem Autor ein spezifisches konfessionelles Vorverständnis teilt. »The Church’s Bible« folgt somit in Pointe und Problematik dem oben genannten Buch von Wilken: Ein echter Dissens unter den Vätern um die Auslegung der Bibel – den uns der Briefwechsel zwischen Augustin und Hieronymus ja doch paradigmatisch vorführt! – ist systemimmanent letztlich nicht einholbar.
Das gilt sinngemäß auch für den von Norris verantworteten Band zum Hohelied, wobei hier durch den erratischen Charakter des Bibeltextes die Anwendung allegorischer Exegese seit jeher weitaus höhere Plausibilität genoss. Das klärte allerdings nicht die schon von Origenes aufgeworfene Frage, ob die Beziehung zwischen Braut und Bräutigam auf Kirche und Christus oder auf den einzelnen Gläubigen und das Wort Gottes zu deuten ist (Song of the Songs, XIX). Die hier zusammengeführten Texte vermitteln einen Eindruck vom Sinn der Väter für die poetische und ästhetische Dimension des Hoheliedes, was ekklesiologische und anthropologische Grund­lagenreflexionen nicht aus-, sondern gerade einschließt. Ob man Origenes, Gregor von Nyssa, Ambrosius und Ap­ponius ohne tiefergreifende Erläuterungen neben Bernhard von Clairvaux, Honorius Augustodunensis und Nikolaus von Lyra stellen kann und soll, ist auch hier zu fragen. Lässt man solche Bedenken aber einmal beiseite, hat man in beiden Bänden eine Fülle von Texten vor sich, die vielfach zu den wenig beachteten patristischen und mittelalterlichen Schriften gehören. Schon ihre Erschließung ist ein verdienstliches Werk, das ausweislich der Anmerkungen auf den besten verfügbaren Editionen basiert. Die Bedeutung einer spirituellen bzw. christologischen Hermeneutik für heute und ih­re ekklesiologische Einbindung werden noch zu diskutieren sein, doch machen die ausgewählten Texte deutlich, wie die Theo­lo­gen der Antike und des Mittelalters das Alte Testament auf Chris­tus hin bzw. von Christus her lasen. Ihnen dabei über die Schulter zu schauen, ist in der Tat theologisch höchst lehrreich und kann selbstverständlich auch spirituell anregend sein.