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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1169–1173

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kulturgeschichte der Bibel.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 487 S. gr.8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-525-57309-9.

Rezensent:

Michael Tilly

Der Herausgeber des zu rezensierenden Buches, Professor für Religionsphilosophie an der Universität Graz, beschreibt die jüdischen heiligen Schriften in ihrer Gesamtheit als »das Ergebnis eines Abgrenzungsprozesses« (12) und die christliche Bibel als »das Zeugnis einer kulturellen Öffnung« (ebd.). Beide Textcorpora betrachtet er vor allem unter kulturgeschichtlichen und kulturanthropologischen Aspekten. Gefragt wird dabei nach den Lebenswelten, Kulturstufen und Lebensformen der beteiligten Autoren, Tradenten und Adressaten. Während der Großteil des Inhalts von G.-H. selbst verfasst wurde, stammen einzelne Abschnitte aus der Feder nam hafter Exegeten, Judaisten, Orientalisten und Religionswissenschaftler.
Das erste Kapitel des ersten Hauptteils »Altes Testament« (23–36) enthält eine kurze religionsphänomenologische Grundlegung, wobei die enge Verflechtung von Kultur und Religion besondere Betonung erfährt. Im zweiten Kapitel (37–69) geht es um einen Abriss der Religionsgeschichte Israels. Unter durchgängiger Be­zug­nahme auf J. Finkelstein und N. A. Silberman gelangt G.-H. zu dem Ergebnis, der Großteil der Bibel könne als »politisches Programm« der Jahwepriester verstanden werden (44). Mittels des »Eroberungsmythos« hätten diese jüdischen Priester ihren poli­tischen Herrschaftsanspruch untermauern wollen (61). Vor allem die »deuteronomistische Bewegung« habe alles Fremde als Bedrohung der eigenen kulturellen Identität angesehen (ebd.). Erst unter Esra sei es gelungen, die bildlose exklusive Verehrung eines männlichen Bundesgottes in Jerusalem durchzusetzen (49). Immer wieder hätten Schreiber und Priester »die historischen Tatbestände gewaltig vergröbert und verzerrt, um ihre Herrschaftsansprüche im Volk … anzuzeigen« (59).
Aufbau und Inhalt des Alten Testaments thematisiert das dritte Kapitel (71–72). Behandelt werden zunächst die Unterteilung der einzelnen Schriften und ihre frühen Übersetzungen. Sodann werden zu jedem Buch eine knappe Inhaltsangabe sowie einige Einleitungsinformationen gegeben. Bei der Behandlung des Pentateuchs findet ausschließlich das sog. Münsteraner Modell Erwähnung (74), was bei uninformierten Lesern den unzutreffenden Eindruck erweckt, die Sache wäre bereits entschieden. Insgesamt sei der »ge­waltsam durchgesetzte Übergang von der alten Volksreligion … zur monopolhaften Religion der Priester« zu erkennen (92). Auch das vierte Kapitel (93–117) handelt von dieser gewaltsamen Verdrängung, Dämonisierung und Auslöschung der alten Volksreligion, die geprägt war vom Ritus der »heilige[n] Hochzeit«, der »religiösen Dimension« des Erlebens der Sexualität (114) und von »Schutz­göttinnen der Fruchtbarkeit und der sinnlichen Liebe« (106), durch den aggressiven, ethnozentrischen und patriarchalischen jü­dischen Monotheismus. In Anlehnung an J. Assmann siehtG.-H. in der deuteronomistischen Theologie sowohl einen Ablenkungsversuch von den wahren Ursachen von Tempelzerstörung und Exil als auch einen wesentlichen Grund der »Selbstausgrenzung des jüdischen Volkes« (104). Es sei sogar denkbar, »dass die kulturelle Katastrophe des Holocaust und der Shoah Spätfolgen der Mosaischen Wende mit ihren Monopolansprüchen gewesen sein könnten« (116). Im fünften Kapitel (119–148) werden die griechische Kultur und ihr Einfluss auf die jüdische Lebenswelt und die Bibel behandelt. Die während der hellenistisch-römischen Epoche entstandenen Texte zeigten zwei gegenläufige Tendenzen im Judentum, nämlich die positive Rezeption der griechischen Kultur und die Sorge um die eigene Identität (148).
J. Maier ist der Verfasser des besonders beachtenswerten sechs­ten Kapitels (149–180), das neben Ausführungen zur Schreibertradition eine ebenso eigenständige wie sorgfältige Beschreibung der Entstehung der Bibel enthält. M. fragt insbesondere nach den Be­dingungen, unter denen autoritative Texte zu »biblischen« Schriften werden konnten (150). Im nachexilischen Judentum habe der Begriff »Tora« zunächst sämtliche offenbarten göttlichen Regelungen und Weisungen bezeichnet, denen (zunächst nur im Tempelkult, später dann auch in allen anderen Bereichen) auf Grund ihrer autoritativen Verkündung durch eine – gleichsam prophe­ tische – Höchstinstanz am Jerusalemer Heiligtum absolute Verbindlichkeit zuerkannt wurde (152). Jede Niederschrift dieser (mehrheitlich dem priesterlichen Überlieferungsbereich entstammenden) Regelungen und Weisungen sei somit »Tora«, ohne zwangs­läufig mit den fünf Büchern Moses identisch zu sein (153). Außer diesen habe es zunächst mehrere vergleichbare Sammlungen gegeben, von denen jede einzelne für sich Aktualität und Geltung beanspruchte. Erst in hellenistisch-römischer Zeit sei mit dem Niedergang der »Prophetie des Mose« während der Hasmonäerherrschaft die im Pentateuch niedergeschriebene, allgemein anerkannte Gestalt der Tora nach und nach an die Stelle dieser alten »offenen« (171) Höchstinstanz getreten und habe eine (fortan mehr oder weniger einheitlich überlieferte) Basis aller weiteren Entfaltungen der jüdischen Lehren gebildet (179 f.). M. verantwortet auch das siebte Kapitel (181–211), in dem es um die Bezeugung der Bibel geht. Dabei problematisiert er in zutreffender Weise ebenso den Begriff des »Urtextes« (190) wie die Rede von der »Bibel in Qumran« (192). Entgegen verbreiteter Auffassung habe Josephus in Ap 1, 37–43 nicht mit Kriterien eines Kanons argumentiert, sondern »im Sinne von mehr oder weniger verlässlichen offiziellen Niederschriften« (208).
P. Haider beleuchtet im achten Kapitel (213–229) den ägyptischen Hintergrund der biblischen Kulturgeschichte, insbesondere die (in einem kontinuierlichen Wandel begriffenen) ägyptischen Gottesvorstellungen. Skizziert wird der »Weg von der Verehrung zahlreicher Gottheiten über den Monotheismus zu pantheis­tischen Glaubensvorstellungen elitärer Gesellschaftsschichten« (214). Im neunten Kapitel (231–250) beschreibt G.-H. Einflüsse der sume­rischen, babylonischen und kanaanäischen Kulturen auf die bib­lische Überlieferung. Auch in kanaanäischen Tempeln begegnete man »sexuellen Riten der Fruchtbarkeit« und »heiligen Frauen ( chedeschah)« (245). Anzumerken ist an dieser Stelle, dass die ers­tere Vorstellung allein auf einer Übertragung des Zeugnisses Herodots beruht und die Vorstellung von der »Kultprostitution« im Umfeld der hebräischen Bibel sich sicher aus einem Forschungsmythos speist (vgl. Chr. Stark, »Kultprostitution« im Alten Testament [OBO 221], Fribourg-Göttingen 2006).
K. Prenner widmet sich im zehnten Kapitel (251–264) dem persischen Hintergrund. Er stellt dar, inwieweit der Zoroastrismus und seine Wirkungsgeschichte zur jüdischen Kultur ausstrahlten. Hinsichtlich der Möglichkeit einer direkten Beeinflussung der jüdischen Theologie durch zoroastrische Vorstellungen urteilt P. sehr zurückhaltend; allenfalls seien wiederholte kulturelle Impulse bzw. Austauschprozesse und vor allem (schwer zu erfassende) Einflüsse in der volkstümlichen religiösen Subkultur anzunehmen (264 f.). Im letzten Kapitel des ersten Buchteils (265–288) bietet G.-H. eine Übersicht über die umfangreiche jüdisch-hellenistische Literatur und behandelt »apokalyptische« Denkmodelle.
Im ersten Kapitel des zweiten Hauptteils »Neues Testament« (295–307) finden Herodes d. Gr., die Region Galiläa, die religiösen und politischen »Parteien«, Johannes der Täufer und Jesus aus Nazaret Erwähnung. Das zweite Kapitel (309–335) thematisiert den Einfluss der griechischen Kultur auf das Neue Testament. Vor allem stoische, kynische und platonische Vorstellungen seien in die frühchristliche Lehrentwicklung eingegangen; hierbei sei die Be­deutung Philos aus Alexandria als »Angelpunkt für die Anfänge der christlichen Lehre« nicht hoch genug zu veranschlagen (334 f.). Die römische Kultur und Lebenswelt beschreibt das dritte Kapitel (337–350). Fokussiert werden dabei vor allem der Kaiserkult und die weitere Ausprägung der philosophischen Strömungen. Das vierte Kapitel (351–368) behandelt frühchristliche Lehren und Lebens­formen.
G.-H. skizziert zunächst die Anfänge Jesu aus Nazaret, der »irgendwann … sozial entwurzelt worden sein« dürfte (352). In den Exorzismen Jesu könnte »im Hintergrund eine versteckte politische Dimension erkennbar« sein (353). Behandelt werden die Deutungen des Todes Jesu und die Anfänge christologischer Bekenntnisbildung. Als impulsgebende Faktoren versteht G.-H. sowohl »ekstatische Visionen, in denen die Jesusjünger den gekreuzigten Christus als auferstandenen göttlichen Sohn erkannten«, als auch Lebensdeutung, moralische Lehren und Lebensform des Wanderlehrers Jesus aus Nazaret (356). Die frühen Christen »sprengten den jüdischen Ethnozentrismus und überwanden die Selbstausgrenzung der toratreuen Juden« (361). Ebenso sei »das Gewaltpotential des monotheistischen Glaubens … durch die Zielwerte der allgemeinen Nächstenliebe relativiert« worden (362). Anhand einer Skizzierung der von Paulus und seinen Schülern angeschriebenen Gemeinden und ihrer Probleme werden im fünften (369–386) und sechsten (381–386) Kapitel die Lebenswelten der Verfasser und Empfänger der Briefe charakterisiert, wobei G.-H. fast durchgehend seinen Gewährsleuten U. Schnelle, I. Broer und G. Theißen folgt. Die Bemerkung, dass Paulus »vehement gegen die jüdische Tora« stritt« (379), stellt allerdings eine Reduktion des komplexen Problems der Heilsbedeutung von Bund und Gesetz in den paulinischen Schriften dar. Die Lebenswelt der Synoptiker behandelt das achte Kapitel (387–401). Zur markinischen Gemeinde hätten viele Christen ge­hört, die »große Probleme hatten, einen Gekreuzigten als göttlichen Offenbarer zu sehen« (393); die matthäische Gemeinde repräsentiere »ein liberales Judenchristentum in der Diaspora« (394). Hinter dem »deutlichen Abstand zur Synagoge« (393) könnte m. E. allerdings auch eine binnenjüdische Auseinandersetzung stehen. Als Adressaten des lukanischen Doppelwerks nennt G.-H. »griechisch sprechende Christen, die sich von der jüdischen Tora befreit haben« (397).
Zwei kurze Kapitel widmen sich der Lebenswelt der Pastoralbriefe (403–406), des Hebräerbriefs und der katholischen Briefe (407–412). Gemeinsam vom Herausgeber und K. M. Woschitz wurde das ausführliche zehnte Kapitel (413–432) zur Lebenswelt des Johannes verfasst. Das Johannesevangelium sei als »performativer religiöser Text« zu lesen (420) und in seiner Gesamtheit »von einer religiösen Konfliktsituation durchzogen« (426), wobei der zentrale Begriff »Jude« als Synonym des Unglaubens einen theologisch-literarischen »Frömmigkeitstypus« (426 f.) bezeichne. Im elften­ Kapitel (433–441) geht es um die Lebenswelt der Johannesapokalypse, im zwölften Kapitel (443–455) um die gnostische Be­wegung und ihr Streben nach »heilbringende[r] und allein aus sich heraus Heil ge­währende[r] Erkenntnis« (445). Die sich hierin artikulierende Wirklichkeitsdeutung suspendiere die vom frühen Christentum aus der jüdischen Tradition übernommene »heilsgeschichtlich begründete Einheit von Schöpfung und Erlösung« (454). Die apokryphen Evangelien, Apostelgeschichten, Apokalypsen und Briefe werden im 13. Kapitel (457–467) thematisiert. Im abschließenden 14. Kapitel (469–475) entwickelt G.-H. Leitlinien seiner Bibelhermeneutik. Die christliche Bibel als literarisches Ergebnis eines kulturellen Übersetzungsprozesses müsse zu ihrem sachgemäßen Verständnis von »männerdominierten Daseinsdeutungen und Lebenswerten« (470) und von der »Semantik der Rache« (471) befreit werden. Die entsprechenden Bibeltexte sollten s. E. nicht mehr im Gottesdienst verwendet werden (473). Die in der hebräischen Bibel angelegte »Selbstausgrenzung der gesamten jüdischen Kultur« (472) sei ebenso zu überwinden wie die in den frühchristlichen Schriften erkennbare Judenfeindschaft (473). Als fundamentalen Maßstab für die Ablehnung bzw. Anerkennung biblischer Texte sieht G.-H. die »moralische Verifikation von religiösen Überzeugungen« (473). Beigegeben sind eine Zeittafel (479–481), ein kurzes Verzeichnis weiterführender Literatur (483) sowie ein Namenregister (485–487).
Diese umfassende kulturgeschichtliche Betrachtung der ge­samten Bibel enthält eine Fülle von wichtigen Anregungen, Informationen und genauen Beobachtungen, provoziert aber in den vom Herausgeber selbst verantworteten Abschnitten auch eine Reihe von kritischen Anfragen. Die Bemerkung, dass »die meisten Theologen beider Konfessionen« sich »zunehmend einer profanen Weise der Bibelinterpretation« öffnen würden (20), beschreibt den Dis­kussionsstand einer längst vergangenen Epoche. Wichtiger als die mangelnde Verständlichkeit des Hebräischen als Motiv der Septuagintaübersetzung (17.51.135) erscheint mir die Notwendigkeit einer Aktualisierung der Tora als eines Basisdokuments für die Bedürfnisse des alexandrinischen Judentums. Die Annahme einer »endgültigen« Redaktion des Pentateuchs während der Perserzeit (69) ist problematisch, was auch der materialreiche Beitrag von J. Maier klar herausstellt. Verwirrend ist die Nennung von Tobit, Judit und 1.2. Makkabäer unter den Ketubim (71). Widersprüchlich sind so­wohl die Datierungen von 2. Makkabäer (79.147) und Kohelet (82.147) als auch die historische Einordnung der »Auswanderung« der Essener nach Qumran (53.57.301). Gegen die Behauptung, die Makkabäerbücher seien »für die jüdische Kultur kaum relevant geworden« (79), spricht die Bedeutung dieser Schriften für die Entstehung der Märtyrervorstellung im Judentum.
Zu überprüfen wäre die generalisierende Annahme mündlicher Traditionsstufen in den synoptischen Evangelien (293). Herodes war nicht »Ituräer«, sondern Idumäer (294). Die Vorstellung, die Johannestaufe sei ein Ausdruck von Tempelkritik (303), wird durch die uns überkommenen Nachrichten nicht gedeckt. Die »Versuchung des Teufels« (304) Mk 1,12 f. parr. im Zusammenhang der Darstellung des Auftretens des historischen Jesus ist irritierend. Die Aussage, Griechen seien »im Gegenstz (sic!) zu den Semiten Indo-Europäer« (311), verwendet philologische Termini in unzulässiger Weise.
Insgesamt provoziert der von G.-H. propagierte hermeneutische Ansatz die Frage, ob eine Kulturgeschichte der Bibel im Sinne einer rein innerweltlichen Begründung religiöser Phänomene unter neuzeitlichen tugend- und intellektoptimistischen Vorgaben »des sozialen Lebens, der vernünftigen Gottesverehrung, der Bewahrung des Friedens und der interkulturellen Kommunikation« (117) die vielgestaltige Entwicklung und die Ausdrucksformen des prinzipiell rational unbegründbaren und unverfügbaren Glaubens in Judentum und Christentum sachgemäß zu erfassen und darzustellen vermag.