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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1147–1150

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kretzschmar, Gerald

Titel/Untertitel:

Kirchenbindung. Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 384 S. m. 1. Abb. u. Tab. gr.8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 53. Kart. EUR 66,90. ISBN 978-3-525-62398-5.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Diese Bonner praktisch-theologische Habilitationsschrift bietet eine neue Interpretation des Phänomens der distanzierten Kirchenbindung, das sowohl aus der pastoralen kirchlichen Praxis wie aus den, seit den frühen 1970er Jahren in regelmäßigen Abständen unternommenen, EKD-Kirchenmitgliedschaftsbefragungen hinlänglich bekannt ist. Entgegen den normativen Erwartungen, die mit der Wahrnehmung dieses Phänomens in der kirchlichen Praxis und bestimmten Konzepten der Praktischen Theologie immer noch verbunden sind, soll »Kirchenbindung« hier deskriptiv eingeholt und mit Rücksicht auf evolutionäre Bedingungen moderner Gesellschaften überhaupt erklärt werden.
Insbesondere die missionarischen Gemeindeaufbautheologen, aber nicht nur sie, sehen ja in dem von der überwiegenden Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder praktizierten und durch soziale Distanz charakterisierten Verhältnis zur Kirche als Institution, wie dann auch zur Kirche als (Orts-)Gemeinde, einen defizitären, beklagenswerten Tatbestand, den es durch entsprechende kirchliche und gemeindliche Aktivitäten zu beheben gelte. Soziale Distanz soll in soziale Nähe verwandelt werden, eben deshalb, weil man aus theologischen Gründen an der Auffassung meint festhalten zu müssen, die Verbundenheit der Individuen mit der Kirche und damit letztendlich die Stärke ihres Glaubens stünden und fielen damit, dass sie sich leibhaftig-personal am »Leben« der Gemeinde beteiligen. Dass eben diese Gleichung von sozialer Bindung und sozialer Nähe soziologisch nicht stimmt und ihre theologische Einforderung (die nach reformatorischem Kirchenverständnis gar nicht notwendig ist) die Individuen unter den modernen Gesellschaftsverhältnissen heillos überlastet, versucht K. mit der Aufnahme einer in den Erziehungswissenschaften entwickelten Theorie mediatisierter Kommunikation zu zeigen.
Diese Theorie geht von der sich keineswegs nur auf das Kirchenmitgliedschaftsverhältnis erstreckenden These aus, dass in hochentwickelten modernen Gesellschaften sich sehr komplexe Mechanismen der sozialen Integration entwickelt haben. Funktionale Differenzierung auf der Systemebene sowie Individualisierung und Pluralisierung im Horizont der Lebenswelt haben dazu ge­führt, dass die Gesellschaft insgesamt – damit dann auch die Kirche als religiöse Organisation in der Gesellschaft – längst nicht mehr durch interpersonale Kontakte und Gemeinschaftserfahrungen zu­sammengehalten werden. Soziale Beziehungen werden zwar nach wie vor durch Kommunikation realisiert. Gesellschaft ist Kommunikation, auch Religion ist Kommunikation und ihre so­zialen Institutionen und Organisationen, Kirche und Gemeinde, werden durch Kommunikation aufgebaut. Man fällt jedoch sozialromantischen Träumereien zum Opfer, so die Stoßrichtung der gesamten Studie, wenn man meint, diese Realisierung von Kommunikation hänge von der Aufnahme und Kontinuierung interpersonaler Begegnungs- und Gemeinschaftserfahrungen ab. Mo­derne Gesellschaften sind im Wesentlichen geradezu dadurch de­finiert, dass sie generalisierte Kommunikationsmedien, die soziale Inklusion und Exklusion regeln, entwickelt haben. Angesichts dessen muss es, sozialtheoretisch betrachtet, geradezu abwegig er­scheinen, zu erwarten, dass die religiöse Kommunikation der Kirchenmitglieder etwa mit der regelmäßigen Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst oder gar dem persönlichen Engagement im vereinsmäßig organisierten »Gemeindeleben« verklammert sein müsse.
Was die Kirchenmitgliedschaftsbefragungen belegen, dass nämlich nur eine Minderheit der Kirchenmitglieder ihre Verbundenheit mit der Kirche in konkreten Partizipationsformen praktiziert, wird auf der Basis der Theorie einer für moderne Gesellschaften charakteristischen, mediatisierten Kommunikation durchaus verständlich. Die Individuen, die in allen ihren Lebensbelangen hochgradig differenzierte, ihnen die unterschiedlichsten Rollenanforderungen abverlangende gesellschaftliche Verhältnisse zu be­wältigen haben, müssen sich selbst zu Konstrukteuren ihrer Lebenskonzepte wie dann auch der Regelungen in der Dosierung so­zialer Beziehungsintensität machen. Sie können es sich aus Gründen einer Ökonomie ihrer Kräfte im Grunde gar nicht leisten, in alle ihre Sozialbeziehungen in allen Phasen ihres Lebens soziale Nähe und die Pflege personaler Gemeinschaft zu investieren. Viel eher steht zu erwarten, dass die Kirchenmitglieder die Intensität ihrer Beziehung zur Kirche– wie ihre Zugehörigkeit zu anderen gesellschaftlichen Organisationen auch– nach ihren individuellen Bedürfnislagen – und damit dann auch im Lebenslauf auf unterschiedliche Weise – aktivieren und moderieren.
Um eben zu zeigen, dass die durch die missionarischen Gemeindetheologen mit der Forderung nach der Herstellung von sozialer Nähe normativ aufgeladene Kirchenverbundenheit an den Interessen der überwiegenden Zahl der Kirchen­mitglieder vorbeigeht, hat K. eine qualitativ-empirische Untersuchung zum Hauptbestandteil seiner Arbeit gemacht. Er hat narrative biographische Interviews geführt, in denen Kirchenmitglieder aus ihrer Lebensgeschichte erzählen konnten, ohne direkt nach Kirche und Religion gefragt worden zu sein – dem war lediglich ein abschließender Nachfrageteil gewidmet. Die Auswertung der Interview-Texte kann denn auch zeigen, dass die biographischen Erzählungen ein jeweils durch spezifische, individuelle biographische Problembezüge konstituiertes Verhältnis zu Kirche und Gemeinde erkennen lassen. Und, was eben auch deutlich wird: Die Verbundenheit mit der Kirche muss sich überhaupt nicht in einer mehr oder weniger ausgeprägten sozialen Nähe konkretisieren. Sie stellt vielmehr eine implizite Voraussetzung für die Herstellung eines persönlichen Kontakts zur Kirche in biographischen Krisensituationen dar und bleibt so im Hintergrund auch bewusst. Als implizite Voraussetzung für die Herstellung eines durch die individuelle Biographie motivierten persönlichen Kontaktes zu Kirche und Gemeinde will die Kirchenbindung deshalb auch aufrechterhalten bleiben. Die soziale Nähe zur Ge­meinde wird nur dann gesucht, wenn sich dies aus besonderen biographischen Konstellationen ergibt.
K.s Untersuchung liefert eine sehr verdienstvolle sozialtheore­tische und empirische Klärung eines unter unseren volkskirchlichen Verhältnissen verbreiteten Typs praktizierter Kirchenmitgliedschaft. Angesichts der Tatsache, dass sich die missionarischen Gemeindeaufbautheologen immer wieder lautstark zu Wort melden, obwohl sie weder theologisch noch empirisch gute Gründe auf ihrer Seite haben, verdient diese Studie energische Aufmerksamkeit. Die hier entwickelte Praktische Theologie mediatisierter Kom­munikation kann alle, die die Arbeit in der Kirche zum Beruf haben, dazu anleiten, zwischen sozialer Verbundenheit mit der Kirche, die auch durch mediatisierte Kommunikation aufrechterhalten werden kann, und der sozialen Nähe im »Leben« der Ge­meinde, in die das kostbare, aber knappe Gut von Intimität und Gemeinschaft investiert wird, zu unterscheiden. In der Folge dürfte die kirchliche Arbeit vor den oft überzogenen und damit in die Frustration führenden Gemeindeaufbauerwartungen bewahrt bleiben, aber auch eine kontraproduktive normativ-theologische Überforderung der Kirchenmitglieder vermieden werden.
Wie von einer exzellenten Studie nicht anders zu erwarten, gibt sie freilich auch Anlass zu einigen Nachfragen. Kritisch ist m. E. an­zumerken, dass die hier entwickelte Theorie der Kirchenbindung auf einer rein formalen Ebene verbleibt.
So verdienstvoll es ist, die formelle Kirchenmitgliedschaft von dogmatisch-normativ motivierten Interessen und Verleumdungen freizuhalten, so inhaltlich dürftig mutet dann die an der rein deskriptiven Fassung der for­mellen Kirchenbindung ansetzende Praktische Theologie me­dia­tisierter Kom­muni­ka­tion an. Es werden im Verlauf der Untersuchung keine Gesichtspunkte gewonnen, welche die Motive für die Aufrechterhaltung der formellen, distanzierten, somit – bei aller Verbundenheit – die soziale Nähe meidenden Kir chenmitgliedschaft erhellen würden. Warum bleiben die Menschen in der Kirche, auch wenn sie keine persönlich erfahrbare Nähe zu ihr suchen? Darauf bekommt man letztendlich doch keine recht befriedigende Antwort. K. holt stattdessen im abschließenden Teil der Arbeit zu einer Kritik all derjenigen neueren Konzepte einer Praktischen Theologie »gelebter Religion« aus, die ebenfalls die Perspektive der Individuen einzunehmen und die nor­mativ-dogmatischen Ansprüche der institutionalisierten Kirchlichkeit abzuwehren versuchen, zugleich aber die Individuen in ihren religiösen und kirchlichen Interessen bzw. Erfahrungen auch verstehen wollen. Dieser praktisch-theologischen Suche nach der Religion der Individuen wird eine dogmatisch-theologische Überfrachtung ihrer Wahrnehmungsperspektive zum Vorwurf ge­macht. Dass jede Hermeneutik, auch die der Religion, ein Vorverständnis der »Sache«, nach der gefragt wird, voraussetzt, bleibt bei dieser Kritik unbedacht.
Im Gegenzug dürfte denn auch eher der Studie von K. zum Vorwurf zu machen sein, dass sie sich im ersten Teil sowohl eine gründlichere kirchentheoretische Fundierung erspart wie dann auch sich jeglicher Bemerkung zum Religionsbegriff enthält. Der Ausfall nicht nur einer kirchen-, sondern dann auch noch einer religionstheoretischen Grundlegung führt in der Durchführung der Arbeit vermutlich zu dem bedauerlichen Sachverhalt, dass das religiöse Verhältnis der Individuen mit ihrem Verhältnis zur Kirche unbesehen identifiziert wird. Bloß formell und überwiegend distanziert, wie sich das Verhältnis zur Kirche bei der überwiegend Zahl der Kirchenmitglieder darstellt, scheinen sich – so die naheliegende Schlussfolgerung – die Individuen demnach in religiösen Angelegenheiten überhaupt zu verhalten.
Dieses Ergebnis dürfte der Realität aber kaum standhalten. Allein schon auf Grund der von K. selbst vorgelegten und interpretierten Interviewtexte legt es sich nahe, zwischen religiösen Erfahrungen und Lebensfragen, die die Interviewten ansprechen, einerseits und ihren Bezugnahmen auf Kirche andererseits zu unterscheiden. Die Religion der Menschen geht für diese – wie die von K. vorgelegten Interviews selbst zeigen – in ihrem Verhältnis zur Kirche nicht auf. Das hätte am Interviewmaterial bemerkt werden können und darauf hätte diese Praktische Theologie mediatisierter Kommunikation demnach ausführlich zu sprechen kommen müssen. Vielleicht wäre K. dann auch ein weiteres Defizit in der Fragestellung und im Design seiner empirischen Un­tersuchung aufgefallen. Es hätte m. E. auch der Frage nachgegangen müssen, ob nicht ein sehr energischer Zusammenhang zwischen der hier vorgestellten mediatisierten Kommunikation und der gesellschaftlichen bzw. religiösen Funktion der Massenmedien besteht.
Ein abschließendes Bedenken betrifft das empirische Verfahren der Untersuchung und dabei des Näheren den Status, den K. der Empirie für die praktisch-theologische Arbeit überhaupt zugemessen wissen möchte. K. schlägt vor, dass biographische Interviews für eine an den Individuen orientierte Praktische Theologie großes Gewicht gewinnen müssten. Dem ist ge­wiss unumwunden Recht zu geben, eben deshalb, weil nur so Einblick in die von den Individuen selbst entwickelten religiösen Einstellungen gewonnen werden kann. Sollen diese religiösen Einstellungen jedoch nicht nur referiert, sondern in ihren Motiven und inhaltlichen Implikationen verstanden werden, dann darf aber weder die Generierung noch die Interpretation der durch narrative biographische Interviews gewonnenen Texte religionshermeneutisch so naiv verfahren, wie das hier der Fall ist. Religion entsteht durch religiöse Ansprache. Da die biographischen Interviews das Thema Religion nicht ansprechen – was in dem von K. gewählten Verfahren der Vorsatz war –, war durchaus zu erwarten, dass die Interviewten nicht ausführlicher und in sachhaltigerer Weise auf Religion, eigene religiöse Erfahrungen und die Fragen, die sie in religiöser Hinsicht haben, zu sprechen kommen. Wer etwas über die Religion der Individuen in Erfahrung bringen will, muss sie auch nach Religion fragen und dann die Interviewtexte am Leitfaden religionshermeneutischer Fragestellungen interpretieren. Das wiederum hätte freilich eine vorläufige Klärung bzw. Diskussion des Begriffs einer am Ort der Individuen und somit als Faktor in deren Selbstdeutung generierten Religion bzw. Spiritualität verlangt.