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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1145–1147

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Grundinformation Kasualien. Kommunikation des Evangeliums an Übergängen des Lebens.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 416 S. 8° = UTB, 2919. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-8252-2919-1.

Rezensent:

Birgit Weyel

Lebensgeschichtliche Kasualien sind in der modernen Gesellschaft von kaum zu unterschätzender Bedeutung. An der Schnittstelle von Biographie und Lebenswelt, Individuum und Sozialität, Wertevermittlung und Traditionsabbruch angesiedelt, sind sie wichtige Indikatoren für gesellschaftliche Transformationsprozesse auf dem Feld der religiösen Praxis und der weltanschaulichen Orientierung. An Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung manifestiert sich die kirchliche Be­gleitung des Individuums, indem sowohl semantische Ausdrucksformen als auch rituelle Gesten zur Bewältigung der Passage nachgefragt werden. Ihre Persistenz einerseits und ihre Wandlungsanfälligkeit andererseits machen die Kasualien zu einem florierenden praktisch-theologischen Forschungsgebiet. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass nach der Kasualtheorie von Christian Albrecht nun von Christian Grethlein er­neut eine umfassende Darstellung vorgelegt wird.
Die einführende Skizze zur Verortung der Kasualien in den praktisch-theologischen Lehrbüchern seit Friedrich Schleiermacher zielt daher auch auf die Exposition der Kasualien als ein eigenständiges Thema, das eben nicht mehr in der einen oder anderen Teildisziplin, der Homiletik, der Liturgik oder der Poimenik, zu verorten wäre. Kasualien sind, so G., ein »Integrationsthema« (31), dem deshalb praktisch-theologisch besondere Aufmerksamkeit ge­­bühre, weil sich die Kasualien als die Handlungen herauskris­­tallisiert haben, »in denen sich für die meisten Menschen in Deutschland Christsein konkretisiert« (13). Dass sich hierbei die Theoriebildung verschoben hat von einem kirchlich fokussierten zu einem kulturhermeneutisch-lebensweltlichen Ansatz, bewertet auch G. als eine dem Forschungsgegenstand angemessene Entwicklung. In deutlicher Abgrenzung allerdings gegenüber Chris­tian Albrecht, den G. an dieser Stelle selbst namhaft macht (30), will G. eine Tendenz zum »Zurücktreten der theologischen Di­mension« (32) und der von daher drohenden »Gefahr eines inhaltlichen Substanzverlustes« (ebd.) vermeiden. Ohne bei der erfahrungswissenschaftlichen Dimension der Kasualien Abstriche zu machen, soll die normative Maßgabe der im Anschluss an Ernst Lange sog. Kommunikation des Evangeliums sowohl kritisch als auch konstruktiv zur Geltung gebracht werden. Der Untertitel des Buches signalisiert daher programmatisch beides: die erfahrungswissenschaftliche Dimension, die auf Arnold van Genneps Klassiker »Les rites de passage« von 1909 anspielt, sowie die theologische Perspektive: Kommunikation des Evangeliums an Übergängen im Leben. Auf der Grundlage dieser in den Prolegomena dargelegten Voraussetzungen gliedert sich das Buch in vier Teile, die von einer Zusammenfassung und einem Ausblick abgerundet werden.
G. setzt ein, indem er bestimmte grundlegende Signaturen der Kasualien herauspräpariert, welche die Kasualien nicht wiederum in ihre einzelnen Anlässe zerfallen lassen, sondern ihrem Charakter als Integrationsthema zu entsprechen suchen (Erster Teil: Grundlagen einer Theorie der Kasualien mit 1. Kapitel: Grundsätzliche Perspektiven und 2. Kapitel: Grundsätzliche Herausforderungen). Erst im Anschluss an diese Grundlegung treten die einzelnen Kasualien im zweiten, dritten und vierten Teil des Buches in den Blick. Im zweiten Teil setzt G. mit der Taufe ein (3. Kapitel: Taufe – Grund und Bezugspunkt des Christseins), der er vor allem in ekklesiologischer Perspektive eine besondere Bedeutung beimisst und der er die Konfirmation (4. Kapitel: Konfirmandenarbeit – Begleitung Heranwachsender) lediglich ergänzend zur Seite stellt. Im dritten Teil sind Trauung und Bestattung als »Kasualien an elementaren Übergängen im privaten Leben« dargestellt. Im vierten Teil weitet G. seinen Begriff der Kasualien programmatisch auf Einschulungsgottesdienste und Krankensalbungen aus und äußert sich damit pointiert zur Diskussion um neue Kasualien, die künftig neben die klassischen Amtshandlungen treten könnten. In letzten Teil »Zusammenfassung und Ausblick: Kasualien als Stationen auf dem Taufweg« wird noch einmal die program­matische Vorordnung der Taufe deutlich, die nicht nur in einem chronologisch-biographischen, sondern vielmehr in einem theologisch-prinzipiellen Sinn die erste Kasualie ist und somit gewis­sermaßen alle anderen Kasualien an sich zieht: »Das christliche Ini­tiationsritual als grundlegende Kasualie[n]«. Dem theologischen Programm entsprechend werden als die Hauptaufgaben die Bildungsaufgabe angesichts von Traditionsabbrüchen und die in­haltliche Profilierung des Evangeliums prononciert.
Es spricht für dieses Buch, dass es zur Diskussion nicht nur einlädt, sondern auch provoziert. Einige wenige kritische Fragen mö­gen an dieser Stelle genügen. So hat die exponierte Stellung, die G., wie seit seiner Habilitationsschrift ja bereits mehrfach geschehen, der Taufe zuweist, gewiss gute theologische Gründe. Freilich fragt sich, ob und inwieweit nicht in dieser ekklesiologischen Perspek­tive auch die Gefahr der – abgekürzt formuliert – Zurückweisung der erfahrungswissenschaftlichen Dimension liegt. Ob nicht etwa die Konfirmation, die bei G. primär als Konfirmandenarbeit und weniger in ihrem liturgischen Vollzug in den Blick tritt, in den Schatten gestellt wird, wäre zu fragen. Studien zur Wahrnehmung der Konfirmation aus der Perspektive der Ritualpraktikanten zeigen deutlich, dass die Konfirmation angesichts der Ausdehnung der Jugendphase an Bedeutung ge­winnt und nicht unter die Taufe zu rubrizieren ist. Weiter wäre zu fragen, ob die religionstheoretische Grundlegung, in der im Anschluss an Sundermeier und Feldtkeller eine primäre und damit gewissermaßen allgemeine religiöse Funktion von der sekundären und damit dezidiert christlichen Deutung unterschieden wird, tatsächlich dem Komplexitätsgrad der Funktionen des Religiösen gerecht wird. Ein breit anzulegender religionstheoretischer Dis­kurs wird zu Gunsten dieses missionstheologischen Konzepts von Sundermeier und Feldtkeller ausgeblendet. Ob damit tatsächlich die lebensweltliche Verankerung und damit auch das Ineinander von impliziten religiösen Einstellungen und expliziter Semantik an­gemessen wiedergegeben wird, bleibt zu fragen, auch wenn das In­teresse an der theologischen Profilierung erkennbar wird und zu begrüßen ist.
Schließlich ist zu diskutieren, welche Kasus tatsächlich zukünftig zur kirchlichen Begleitung herausfordern. Wären nicht etwa sog. anlassbezogene Gottesdienste mit zivilreligiöser Qualität hier namhaft zu machen? Möglicherweise hätte die Einbeziehung von Gottesdiensten anlässlich von Katastrophen oder etwa die Einweihung der Dresdner Frauenkirche das Taufkonzept gesprengt, weil sie auf die gesellschaftsöffentliche Bedeutung der Religion zielen, mit einer enormen medialen Aufmerksamkeit rechnen dürfen und den individuellen, familialen und ekklesiologischen Kontext überschreiten.
Wie gesagt, das Buch ermuntert zum Gespräch. Ihm sind viele Studierende und praktisch-theologisch interessierte Leserinnen und Leser zu wünschen, die sich in diese Diskussion hineinziehen lassen. Die Stärke dieses Entwurfs liegt eben darin, der Wandlungsintensität der Kasualkultur in unserer religiös-affinen und zu­gleich in weiten Teilen entkirchlichten Gesellschaft Rechnung tragen zu wollen und kirchliches Handeln entsprechend zu orientieren. Ein Personen- und Sachregister sowie die ausführlichen Literaturhinweise zu Beginn eines jeden Kapitels machen dieses Buch zu einem Arbeitsbuch, das nicht nur der Grundinformation dient, sondern vielmehr zum Weiterdenken und Weiterarbeiten einlädt.