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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1143–1145

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Friedrichs, Lutz

Titel/Untertitel:

Kasualpraxis in der Spätmoderne. Studien zu einer Praktischen Theologie der Übergänge.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 230 S. gr.8° = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 37. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02609-8.

Rezensent:

Thomas Klie

Wie kann die Kasualpraxis der evangelischen Kirche unter den kulturellen Bedingungen der späten Moderne zu einem Ort werden, »an dem das eigene Sterbenmüssen im Laufe des Lebens rituell eingeübt wird« (5)? Hat mittlerweile die Kirche die rituelle Funktion der »Seklusionshütte« übernommen, eines exklusiven Rückzugsraums zur heilsamen Unterbrechung von Alltagsroutinen? – Der Münsteraner Privatdozent Lutz Friedrichs stimmt mit seiner ritualtheoretischen Koloratur in das mittlerweile beachtliche Concerto grosso der Kasualtheorien ein. Entstanden aus Einzelarbeiten trägt seine Habilitationsschrift den Charakter von Erkundungsgängen auf dem Weg zu einer »Praktischen Theologie der Übergänge«. Neu ist hier weder der Rückgriff auf Victor Turners Vorstellungszusammenhang des Transitorischen noch die mittlerweile praktisch-theologisch reichlich übercodierte Rede vom »Ritual« – lesenswert und erkenntnisfördernd macht diese Studien vor allem die Weite des reflektierten Phänomenbereichs. Neben den Kasualklassikern (die Konfirmation wird nicht erörtert) geht es hier auch um das Gebet in der Seelsorge (!) sowie um neuere biographische bzw. gesellschaftliche Kasus: Einschulung, sog. »eingetragene Partnerschaften« und zivilreligiöse Kasualien wie Gottesdienste anlässlich von Katastrophen (z. B. der Amoklauf von Erfurt). Ungewöhnlich, aber anregend ist auch der Rekurs auf die Thematisierungen kirchlicher Amtshandlungen in der Gegenwartsliteratur.
Dass ein praktisch-theologischer Theoriezugriff auf pastorales Interimshandeln zeitdiagnostisch auf Augenhöhe bleiben muss, ist selbstverständlich; ebenso klar ist allerdings, dass sich eine kulturhermeneutische Propädeutik nicht in essayistischer Addition konkurrierender Theoriestücke erschöpfen kann. Bei den einleitenden Abschnitten zur Christentumspraxis in der Spätmoderne (11–36) leidet darum das Lesevergnügen, denn zu viel ist hier nur kurz angerissen und angedeutet. Ausführlicher fallen demgegenüber die Ausführungen zur Ritualtheorie aus, die der Vf. einzeichnet in eine Trias aus Ritual, Magie und Biographie (37–78). Hiernach ist ein Kasualgottesdienst ein Tradition vermittelndes, paradox inszeniertes, therapeutisch und lebensgeschichtlich wirk­sames sowie identitätsstabilisierendes »Kultritual«, ein rituelles Exil, vergleichbar dem ethnologischen Initiationskatalysator der »Seklusionshütte«. Bringt diese ausgreifende Definition eine Kasualie in die Nähe der Magie (57–68)? Der Vf. bejaht dies: Magie bringt als »sinnverfügendes Machthandeln« die »Unverfügbarkeit des Lebens expressiv zum Ausdruck« (64 f.).
In den »Studien zu literarischer Religion« (79–121) hat die Untersuchung eine ihrer Pointen. Hier wird literarisch kommunizierten Kasualien nachgegangen. Anhand von Cees Notebooms Roman »Rituale« (1980) sowie der Autobiographien von Wolfgang Koeppen, Ingmar Bergman und Maarten ‘t Hart wird die subjektive »Suchbewegung unter den Bedingungen transzendentaler Obdachlosigkeit« (121) rekonstruiert.
Das große abschließende Kapitel »Studien zur kirchlichen Kasualpraxis« (123–227) gliedert sich in »A. Klassische Kasualien« und »B. Neue biographische und gesellschaftliche Anlässe«. Ausgehend von Niebergalls Formaldefinition (›was so dazwischen fällt, was von erwarteten, aber nicht im Einzelnen vorherzusehenden Aufgaben eintritt‹; 123) reflektiert der Vf. die Amtshandlungen: Taufe als kreatives Freilegen des »Taufsinns«, Trauung als rhetorisches (!) Kunstwerk, Bestattung als rhetorisches (!) Exempel »spätmoderner Autobiographik« und Seelsorge(gespräch) am Medium des Gebets. Im Blick auf die neuen zivilreligiösen Anlässe (B.) plädiert der Vf. klar für eine situationsadäquate »Ausfächerung« des Kasualkanons: Einschulungsgottesdienste als liturgischer Akt der Loslösung und Integration, Segnung eingetragener Partnerschaften und »dem Un­begreiflichen Sprache geben« in Gottesdiensten anlässlich von Katastrophen. Hier sehen sich die Kirchen mit ganz unerwarteten rituellen Anfragen des weltanschaulich neutralen Staates konfrontiert: »Wenn Kirchen ihre Rituale profilieren, aber auch zivilreligiös offen halten, gewinnen sie Authentizität und Glaubwürdigkeit.« (226)
Viele Reflexionen und Perspektiven, die in diesem Buch versammelt sind, werden mit Sicherheit den Kasualdiskurs befruchten. Dies gilt weniger für die vom Vf. reklamierte Globalsicht »ritueller Übergang«. Wird diese lineare Biographieverläufe voraussetzende Container-Kategorie der fluiden Optionenlogik heutiger Flaneure wirklich noch gerecht? Signifiziert der gute alte, völkerkundlich kontaminierte Ritual-Begriff immer noch spätmoderne Lagen? Der Vf. bejaht beides, durchaus im Mainstream der Praktischen Theologie. »Kasualpraxis« ist trotzdem ein wichtiges Buch, denn es hebt die Kasualisierung der protestantischen Gottesdienstkultur ins Bewusstsein. Es sei darum allen Pastoren empfohlen, die ihre Sensibilität für die Liturgiebedürftigkeit des Lebens bilden wollen.