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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1141–1143

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 531 S. gr.8°. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02515-2.

Rezensent:

Isolde Karle

Wilfried Engemann hat mit diesem Handbuch der Seelsorge ein eindrucksvolles Nachfolgewerk zu dem 1983 erschienenen Vorläufer des damals noch in der DDR entstandenen Handbuchs initiiert und herausgegeben. 27 Expertinnen und Experten der Poimenik haben zu dem Sammelband beigetragen, entsprechend umfänglich ist das Werk mit über 500 Seiten. Man mag sich fragen, wozu es eines solchen Handbuches noch bedarf, wo doch gegenwärtig einschlägige Einführungen in Seelsorgetheorie und ­-praxis zur Ver­fügung stehen. Ziel des Handbuches ist es jedoch, über einführende Grundinformationen hinaus eine »repräsenta­tive Darstellung der verschiedenen Kontexte, Reflexionsperspek­tiven, Profile und Ressourcen der Seelsorge« (13) zu geben.
Im ersten Teil werden die Voraussetzungen der Seelsorge in theo­logischer, psychologischer und soziologischer Perspektive ausführlich und differenziert erörtert. Im zweiten Teil geht es um Elemente und Strukturen des seelsorgerlichen Ge­sprächs – um kommunikative Grundlagen, die Person des Seelsorgers als Gegenstand der Seelsorge, um den Ratsuchenden als Subjekt der Seelsorge, um die Beziehung zwischen Ratsuchendem und Seelsorger und die Sprache als Medium des seelsorgerlichen Ge­sprächs. Der dritte und umfänglichste Teil widmet sich konzeptionellen Fragen und Reflexionsperspektiven der Seelsorge mit einer Konzentration auf pastoralpsychologische Aspekte und Methoden. Der vierte Hauptteil be­zieht sich auf Anlässe und Situationen der Seelsorge. Nach einer historischen Rekonstruktion der Geschichte der Poimenik geht es um die Erörterung von Standardsituationen der Seelsorge (Krise, Le­bensführungsfragen, Krankheit) und um eine poimenische Re­flexion der Kasualien (Taufe, Ehe, Tod, Trauer). Das letzte Kapitel be­fasst sich mit den Ressourcen der Seelsorge: mit dem Evangelium als Lebenskunde, der Gemeinde als Ort der Seelsorge, der Beichte als christliche Kultur der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der seelsorgerlichen Dimension des Religionsunterrichts.
Die konzeptionelle Gliederung des Handbuchs versucht problemorientiert und systematisch vorzugehen und die in den Lehrbüchern manchmal etwas ermüdende historische Darstellung der Entwicklung der Poimenik zu umgehen. Trotzdem leuchtet die Gliederung nicht an allen Punkten ein: So wird die Bedeutung der christlichen Tradition für die Seelsorge unter Leitperspektiven statt unter Ressourcen verhandelt, obwohl der Beitrag genau auf Letz­teres abzielt. Umgekehrt ist nicht deutlich, inwiefern die Schul­seelsorge eine Ressource darstellt – und nicht genauso gut un­ter Anlässe und Situationen hätte rubriziert werden können. Die anregende und über hinlänglich bekannte pastoralpsychologische Ar­gumente hinausführende Auseinandersetzung von Poimenik und Lebenskunstphilosophie wird wiederum an drei verschiedenen Or­ten verhandelt. Vor allem aber bringt es die Autonomie und zu­gleich Heterogenität der Beiträge mit sich, dass immer wieder neu dieselben pastoralpsychologischen Konzeptionen und Ge­sprächs­führungs­regeln und -techniken thematisiert und dargestellt werden (insbesondere in Hauptteil 3). Doch sind dies Probleme, die bei einem Handbuch mit so vielen unterschiedlichen Autorinnen und Autoren nahezu unvermeidlich sind. Interessant an diesem Handbuch ist in jedem Fall, dass man die poimenische Diskussion der Gegenwart in ihrer Fülle und Diversität anschaulich vor Augen geführt bekommt und neben bekannten poimenischen Ansätzen hier und da auch Weiterentwicklungen erkennbar werden.
Auf Grund der Fülle ist es nicht möglich, auf alle Beiträge Bezug zu nehmen, ich greife einige wenige heraus:
Christoph Schneider-Harpprecht und Jürgen Ziemer zeigen in ihren Beiträgen (im 2. Kapitel) instruktiv, wie die unterschiedlichen psychologischen Konzeptionen das Selbstbild der professionellen Seelsorger und Seelsorgerinnen prägen und damit zugleich beeinflussen, was diese sehen können und was nicht. In der poimenischen Diskussion werden die berufsethischen Implikationen nicht selten vernachlässigt – auch dieser Frage widmen sich beide Autoren in differenzierter Weise. Jürgen Ziemer benennt darüber hinaus konkrete Leitimpulse für die Gestaltung der seelsorgerlichen Beziehung.
Besonders aufschlussreich ist überdies der Beitrag von Chris­toph Morgenthaler, der im Anschluss an systemtheoretische Über­legungen zeigt, wie die seelsorgerliche Kommunikation theoretisch zu fassen ist: nämlich als eine Gattung religiöser Kommunikation, die auf die Eigenprobleme personaler Systeme bezogen ist und zur Bewältigung von Kontingenz eine religiös codierte Zweitfassung des Problems bereitstellt. Erst- und Zweitcodierung von Ereignissen müssen demnach in der seelsorgerlichen Kommunikation un­terschieden werden. Seelsorge wird damit in ihrer Eigendynamik mit eigenen System-Umwelt-Grenzen beobachtbar. Der syste­mische Ansatzpunkt ist dabei deutlich skeptischer im Hinblick auf eine gezielte Steuerung seelsorgerlicher Kommunikation als die gängigen pastoralpsychologischen Ansätze.
Ist sowohl der Seelsorger als auch die Rat suchende Person als intransparentes autonomes (psychisches) System und die Kommunikation zwischen beiden wie­derum als eigenständiges soziales System zu verstehen, dann impliziert dies Nichtsteuerbarkeit und eine grundlegende Offenheit im Gespräch, das oft ganz überraschende Attraktoren entwickelt (300). Aus dieser Perspektive kommuniziert und konstruiert die seelsorgerliche Kommunikation mithin ihren eigenen Gegenstand und fördert nicht einfach Empfindungen der individuellen Seele zu Tage. Gerade dadurch, dass im Gespräch »nicht in erster Linie Probleme bearbeitet werden müssen, sondern der Code Transzendenz-Immanenz ins Spiel kommt, der neue, ungewohnte, dadurch auch verstörende Perspektiven möglich macht, erhält es eine eigenartige Unbestimmtheit und Ergebnis­offenheit.« (300) Hilfreich und konkret sind dabei auch die Grundformen der Seelsorge, die sich für Morgenthaler daraus ergeben (303 ff.).
Gegenwärtig wird die poimenische Diskussion belebt durch die Auseinandersetzung mit der Lebenskunstphilosophie, der die Beiträge von Wilfried Engemann und von Rolf Schieder gewidmet sind. Während Schieder das Leiden an der Moderne als Grundzug der populären Lebenskunstliteratur ausmacht (378) und die Ratgeberliteratur und das antichristliche Pathos der Lebenskunstphilosophie von Wilhelm Schmidt aufs Korn nimmt, versucht Engemann zu zeigen, inwiefern die poimenische Theorie und Praxis gerade unter postmodernen Bedingungen von der Lebenskunstphilosophie profitieren können. Lebenskunst ist nach Engemann »die Kunst, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen.« (311) Im Kern geht es in der Seelsorge dabei darum, die Lebensdienlichkeit des Evangeliums zur Geltung zu bringen (467 ff.) und konkret zur Klärung der Wünsche und der Artikulation des Willens unter postmodernem Options- und Entscheidungsdruck beizutragen (318 ff.). Interessant ist dabei, dass damit neben der tröstenden und heilenden wieder die lehrende Dimension von Seelsorge in den Vordergrund rückt. Der oder die Ratsuchende tritt jenseits von Therapie und Verkündigung als mündiges Subjekt der eigenen Lebensführung ins Blickfeld. Umgekehrt erschöpft sich in diesem Konzept die Professionalität der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers nicht in empathischer Gesprächskompetenz, sondern setzt darüber hinaus ein soziologisch aufgeklärtes, theologisch gebildetes und differenziert argumentierendes Gegenüber voraus.
Der letzte Beitrag des Bandes ist von Gerhard Büttner, der knapp und instruktiv die seelsorgerliche Dimension des Religionsunterrichtes erörtert. Büttner führt vor Augen, dass »Seelsorge im Kontext von Schule abhängig ist vom Beobachterstandpunkt und damit verbundenen Zuschreibungen« (508). Im Rückblick auf die historischen Wurzeln der Schulseelsorge einerseits und konkreter aktueller Beispiele andererseits zeigt Büttner drei idealtypische Formen der Schulseelsorge auf: die personale Präsenz von Kirche im Kontext der Schule (Begegnung mit gelebter Religion), die Jugendarbeit und den Religionsunterricht. Büttner kommt dabei zu dem Schluss, »dass der Religionsunterricht den Kristallisationspunkt für alle seelsorgerlichen Aktivitäten an der Schule bildet« (517) – und dies sowohl durch die Erkennbarkeit der Person/der Lehrerin als auch durch die Unterrichtsinhalte.
Das Problem ist, dass der Religionsunterricht zum einem der schulischen Leitunterscheidung besser/schlechter erzogen Rechnung tragen muss, andererseits aber auch der schulseelsorgerlichen Leitunterscheidung be­dingte/un­bedingte Annahme. Mit der Letzteren »bringt Seelsorge einen grundsätzlich anderen Beobachterstandpunkt ins Spiel als das Erziehungssystem und ge­winnt von daher andere Handlungsmöglichkeiten und Optionen« (521). Zeitliche und räumliche Arrangements könnten gegebenenfalls die Trennung beider Funktionen zur Geltung bringen. Der Wechsel des Beobachterstandpunktes stellt für den Seelsorger/die Religionslehrerin in jedem Fall eine große Herausforderung dar, ist aber im Hinblick auf die gegenwärtige Schuldebatte und den vermuteten seelsorgerlichen Bedarf hochaktuell.
In der Gesamtschau auf den Band fallen noch zwei Dinge auf: Zum einen ist generell zu beobachten, dass die religiöse Dimension von Seelsorge eine neue Wertschätzung gefunden hat, dabei sticht nicht zuletzt die fast durchweg würdigende Bezugnahme auf Eduard Thurneysen ins Auge. Teilweise wird sogar so unmittelbar von Religion und dem Wirken Gottes gesprochen, dass dies schon wieder befremdlich anmutet. Insgesamt aber ist es erfreulich zu sehen, dass sich die Alternativität von therapeutischer und verkündigender Konzeption mehr oder weniger verflüchtigt hat.
Die zweite Beobachtung bezieht sich auf das, was fehlt: In der gegenwärtigen Debatte spielen Cityseelsorge, Notfallseelsorge, Po­lizei- und Militärseelsorge eine große Rolle. Sie finden in dem Band keine Erwähnung. Ebenso fehlt eine konkrete Bezugnahme auf die Seelsorge an alten Menschen, sei es in Altenheimen oder in der Gemeinde. Beides erstaunt angesichts der aktuellen gesellschafts- und kirchenpolitischen Debatte einerseits und der zunehmenden Bedeutung der Gerontologie für die Seelsorge andererseits. Aber es ist zugleich erfreulich, dass selbst dieses ausführliche Handbuch nicht alle Fragen der Seelsorge erschöpfend zu behandeln vermag und damit der Weg für weitere Buchprojekte offen bleibt. Es ist aber in seiner Perspektivenvielfalt und einzelnen besonders im­pulsreichen Beiträgen in jedem Fall nicht nur ein wertvoller Band für Studierende, sondern darüber hinaus auch ein Gewinn für die poimenische Diskussion.