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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1138–1140

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schockenhoff, Eberhard

Titel/Untertitel:

Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2007. 584 S. 8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-451-28938-5.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Eberhard Schockenhoff, der zu den profiliertesten und produktivs­ten katholischen Moraltheologen seiner Generation zählt, hat mit diesem Werk einen Ethikentwurf von Rang vorgelegt, dessen Lektüre auch evangelischen Ethikern nachdrücklich empfohlen sei. Das Buch besticht nicht nur durch seine philosophie- und theologiegeschichtliche Gelehrsamkeit, sondern auch durch die detaillierte Auseinandersetzung mit der reformatorischen Tradition, insbesondere mit Luther, aber auch mit Calvin, K. Barth und dem Erbe der Dialektischen Theologie. Von einer pointiert katholischen Position aus, die sich dem Denken Thomas von Aquins, aber auch dem Programm einer autonomen Vernunft im christlichen Kontext seines Lehrers A. Auer, der jüngeren katholischen Kant-Rezeption sowie dem Erbe K. Rahners verpflichtet weiß, lotet Sch. Möglichkeiten einer ökumenischen Ethik oder doch zumindest von ökumenischen Konvergenzen in Fragen der Fundamentalethik aus. Was diese Ethik ferner auszeichnet, sind ihr durchgängiger Schriftbezug und die exegetische Sachkunde von Sch.
Problematisch ist freilich die Art und Weise, in der das biblische Zeugnis einem aus der katholischen Moraltheologie hinlänglich bekannten philosophisch-theologischen Schema eingepasst und dienstbar gemacht wird. Obwohl der Tugendbegriff im Neuen Testament nicht vorkommt, dient er der theologischen Ethik zur Anknüpfung an die philosophische Ethik. Die von Sch. selbst bemerkte »auffällige Skepsis, die in weiten Teilen der Bibel gegenüber dem Tugendbegriff der antiken Ethik zutage tritt« (213), wird zur »Transformation des griechischen Tugendbegriffs durch die Bibel« (135 ff.) umgedeutet, so dass schließlich – gut thomistisch und kaum überraschend – auch die paulinische Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe tugendethisch interpretiert wird (169 ff.).
Tugendlehre und Normtheorie bilden die Hauptteile dieser Ethik, die sich jeweils in einen philosophischen und einen theologischen Abschnitt gliedern und an die die Rehabilitierung des Tu­gendbegriffs in der zeitgenössischen Philosophie anknüpfen kann. In der »Verschränkung von Individualmoral, Sozialethik und politischer Ethik auf der Basis einer realitätsgerechten Anthropologie« (113) liegt für Sch. die Stärke des klassischen Konzepts der vier Kardinaltugenden. Das normative Prinzip seiner Ethik, welches auch gegenüber dem Begriff der Tugend Vorrang hat, ist freilich die Idee des Guten (52). Die Tugenden gelten demgegenüber als »Anschauungsformen des Guten« (53 f.).
Die beiden Hauptteile des Buches stehen in einem inneren Zu­sam­menhang mit Sch.s Studie »Theologie der Freiheit« (Freiburg-Basel-Wien 2007) und ihren Ausführungen zu Anthropologie und Handlungstheorie. Bezeichnenderweise spielt die Freiheitslehre des Erasmus in der genannten Monographie eine zentrale Rolle. Mit ihr wird auch in Sch.s »Grundlegung der Ethik« eine bleibende Grunddifferenz zu Luther markiert (vgl. 42).
Sch.s Entwurf versteht sich als »Beitrag zur Wiederaneignung der großen Denkansätze« aus der Geschichte der theologischen Ethik (ebd.), die in den vergangenen Jahrzehnten nicht hinreichend beachtet und fruchtbar gemacht worden seien. Allen voran ist dies die Ethik Thomas von Aquins, deren kenntnisreiche Interpretation breiten Raum einnimmt. Nach Sch. nimmt die thomanische Tugendlehre eine »eigentümliche Zwischenstellung zwischen Luther und Aristoteles« (161) ein, denen sie letztlich überlegen sei. Positiv würdigt Sch. K. Stocks 1995 erschienenen Entwurf einer protestantischen Tugendlehre (150 ff.). In diesem Zusammenhang sei auch auf neuere evange­lische Lutherinterpretationen hingewiesen, die ebenfalls in der Frage des Tugendbegriffs eine größere Nähe zwischen Luther und Thomas annehmen, als dies weithin üblich ist (z. B. N. Slenczka). – Sachlich halte ich die Interpretation des Glaubens als »Tugend des religiösen Menschen« (179) allerdings auch in der von Sch. vorgetragenen Fassung für verfehlt. Problematisch erscheint mir in diesem Zusammenhang auch Sch.s unkritische Übernahme des heute verbreiteten Jargons vom »gelingenden Leben« (182 u. ö.), für das es sowohl der philosophischen als auch der theologischen Tu­genden bedürfe.
Abgesehen davon, dass hierbei die Fragmenthaftigkeit menschlichen Lebens und die Bedeutung des eschatologischen Handelns Gottes unterbelichtet bleiben, wird auch die Radikalität der Sünde nicht ernst genug genommen. Luther hat demgegenüber keineswegs nur die sog. theologischen, sondern auch die philosophischen oder moralischen Tugenden profanisiert. Die reformatorische Unterscheidung zwischen Glaube und Werken richtet den Blick vom moralischen Subjekt auf den Nächsten und sein Wohl. In diesem Zusammenhang ist das transmoralische Wesen der Liebe (P. Tillich) hervorzuheben, das in Sch.s Bestimmung der Liebe als »Prinzip der Moral« und sittlicher »Grundakt der Person« (244) nicht hinreichend zur Geltung kommt. Philosophisch lässt sich außerdem einwenden, dass eine Tugendlehre faktisch keine hinreichende Bestimmung des Guten liefert, was doch die Aufgabe einer eigenständigen Güterlehre wie auch einer Institutionentheorie bleibt. Im Unterschied etwa zur Ethik Schleiermachers ist die Güterlehre in Sch.s Grundriss kein eigenständiges Thema. Die Trias von Güterlehre, Pflichtenlehre und Tugendlehre wird auf den Dual von Tugendlehre und Normentheorie reduziert.
Wenn Sch. Kant vorhält, die auf Aristoteles und Thomas zurück­gehende Tradition einer eudämonistischen Tugendethik in we­sentlichen Punkten missverstanden zu haben (32), darf doch nicht übersehen werden, mit welcher Emphase er Kant »gegenüber den Auflösungserscheinungen des ethischen Denkens der Gegenwart« als »wichtige[n] Bündnispartner« lobt (33), welcher der Theologie obendrein – unbeschadet des zum Teil geforderten Widerspruchs – im Kampf gegen jeden Missbrauch der Religion »ein kritisches Ge­wissen« sein könne (ebd.). Mag man auch an Sch.s eigene Kantlektüre kritische Rückfragen stellen wollen, so unterscheidet sie sich doch wohltuend von jener negativen katholischen Lesart, die der ehemalige Theologieprofessor Joseph Ratzinger prominent vertritt. Wohltuend ist auch das Bekenntnis zur Theologie K. Rahners, die Sch. gegen innerkatholische Angriffe und Fehlinterpretationen verteidigt (279 ff.). Rahners Kritikern hält er entgegen: »Die theologische Ethik kann zur Aufhellung des Geheimnisses, das der Mensch ist, bis heute nichts Besseres tun, als bei Karl Rahner in die Schule zu gehen« (302).
Im zweiten Hauptteil entwickelt Sch. seine Normtheorie. Die im ersten Hauptteil vorgestellte artistotelisch-thomanische Tu­gend­lehre begründet exklusiv die Position eines moralischen Realis­mus, der beansprucht, eine »konsistente Deutung aller Phänomene des moralischen Lebens« zu bieten (331), und auch die traditionelle katholische Vorstellung von in sich schlechten Handlungen und absoluten Handlungsverboten vertritt. Materialethische Beispiele sind der Justizmord und die Tötung Unschuldiger (390 ff.), die Pflicht, Versprechen zu halten (399 f.), das ausnahmslose Verbot der Folter (401 ff.), nach katholischer Auffassung bestehende absolute Handlungsverbote im Bereich der Sexualethik (411 ff.) und das Verbot der künstlichen Empfängnisregelung (415 ff.), das Verbot der Selbsttötung (428 ff.), das Junktim von Sexualität und Liebe (437 ff.) sowie die Todesstrafe (467 ff.). Dabei grenzt sich Sch. sowohl von einer reinen Wertethik als auch von den Vertretern der »new-natural-law-theory« ab (345 ff.). Aber auch das in der zeitgenössischen katholischen Moraltheorie vertretene Konzept einer teleologischen Normbegründung (B. Schüller) wird trotz positiver Würdigung als unzureichend kritisiert (376 ff.).
Wie andere Vertreter des moralischen Realismus hat freilich auch Sch. Schwierigkeiten, den geschichtlichen Wandel moralischer Normen und Werte zu erklären. Will man nicht eine (im Willen Gottes begründete?) Veränderung moralischer Tatsachen behaupten, bleibt nur der Schluss, das sich die Interpretation dieser vermeintlich unverrückbaren Tatsachen wandeln kann. Das führt freilich zu der fragwürdigen Konsequenz, dass vieles von dem, was im Verlauf der Menschheits- (und auch der Christentumsgeschichte!) für moralisch wahr gehalten worden ist, rück­blickend als Irrtum zu bezeichnen ist (vgl. D. Birnbacher, J. Fischer). Gerade das katholische Lehramt tut sich in diesem Punkt sehr schwer, wie sich an den von Sch. diskutierten Beispielen zeigen ließe.
Die Form der autoritativen Auslegung des Gesetzes durch das kirchliche Lehramt und die Gestalt einer auch in ihren materialen Inhalten verbindlichen Morallehre der Kirche hält Sch. für legitim, »sofern eine inhaltliche Kontinuität oder zumindest ein analoger Sinnzusammenhang mit den Forderungen Jesu besteht« (531). Wie er hinzufügt, haben diese »auf dem Hintergrund der Reich-Gottes-Botschaft aber keinen reinen Forderungscharakter mehr, sondern die primäre Gestalt der Handlungsermöglichung« (ebd.). Es handle sich um eine nova lex, welche »die paradoxe Gestalt eines Gesetzes ohne Gesetzlichkeit« (547) annehme. Auch wenn die kirchliche Morallehre »die Balance von Verkündigen und Lehren, Ermutigen und Fordern« halten soll, hat Sch. erkennbare Mühe zu verhindern, dass die befreiende Botschaft des Evangeliums »hinter dem ge­setzlichen Anspruch einer legalistischen Moraldoktrin« (532) zu­rück­tritt. Bemerkenswerterweise sieht Sch. das katholische Ge­setzesverständnis durch Barths Formel »Evangelium und Gesetz« überzeugend zum Ausdruck gebracht (557). Barths widersprüchliche Zu­ordnung von Gesetz und Evangelium nach dem Schema von Form und Inhalt, wonach das Evangelium die Form des Gesetzes habe bzw. das Evangelium der Inhalt des Gesetzes sei, steht allerdings ebenfalls in der Gefahr, den nach reformatorischer Lehre zwischen Gesetz und Evangelium bestehenden Unterschied zu verwischen und den Sinn des Evangeliums zu verdunkeln.
Christliches Ethos besteht im Kern darin, aus Liebe zu handeln, welche das Phänomen des Ethischen und seine Konflikte transzendiert und nicht etwa nur die Moral insgesamt auf eine neue Ebene transponiert. Nicht nur eine reine Gebotsethik, sondern auch eine tugendethische Konzeption christlicher Ethik, wie sie Sch. eindrucksvoll entwickelt, bleibt hinter dieser Einsicht zurück.