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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1136–1138

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lienemann, Wolfgang, u. Frank Mathwig [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2005. 300 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 25,00. ISBN 3-290-17370-4.

Rezensent:

Christofer Frey

Die in Bern gehaltenen Vorlesungen zu Schweizer Ethikern sind im Allgemeinen informativ und werden Lesern, die in der Ethik weniger bewandert sind, vermutlich manchen neuen Aspekt erschließen. Unter anderem erfährt der Leser weniger bekannte Umstände der Schweizer Zeitgeschichte – etwa, wie rabiat Schweizer Ordnungskräfte mit Streikenden verfuhren und den Einsatz der Religiös-Sozialen für die Arbeiter geradezu notwendig machten oder dass Mussolini noch 1937 einen Ehrendoktor in Lausanne erhielt. Allerdings sind die Bezüge auf die soziale Situation und die politische Situation im Ganzen doch sehr lückenhaft. So fehlt fast ganz eine kritische Aufarbeitung der Schweizer Orientierung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Barths unterschiedliche Sicht des Nationalsozialismus und des Kommunismus sowie der daraus resultierende Streit mit Emil Brunner werden nur an einer Stelle erwähnt. Brunners Neigung zur ›Moralischen Aufrüstung‹ und sein längerer Aufenthalt in Japan werden überhaupt nicht angesprochen. Dafür wird an anderen Stellen zu viel Information gegeben. Das gilt zum Beispiel für das Referat von Heimbach-Steins zu Furger; die darin enthaltenen Aussagen gehen bis in Details wie die Betreuung von Habilitanden an der Katholischen-Theologischen Fakultät in Münster (in Westfalen!) (vgl. 256).
Damit wird bereits eine zentrale, die gesamte Sammlung berührende Frage gestellt: Wer gilt in diesem Zusammenhang eigentlich als Schweizer? In den meisten Fällen entscheidet die Geburt, bei Hermann Ringeling offenbar die Übernahme der Schweizer Staatsbürgerschaft (nach Absolvieren eines Kurses in Berner Deutsch!). Bei Pfürtner reicht wohl die Tatsache einer Berufung an die Universität von Freiburg i. Ue. aus. Warum wurde aber der Niederländer Hendrik van Oyen nicht berücksichtigt? Immerhin hat er längere Zeit – jedoch im Schatten Karl Barths – Ethik gelehrt und von der Schweiz aus die Societas Ethica ins Leben gerufen. Auch seine Beteiligung an der Zeitschrift für Evangelische Ethik (ZEE) in ihren Anfängen war wichtig.
Es ist nicht möglich, die Beiträge zu den einzelnen Ethikern auch nur in Kürze vorzustellen; sie sind nach Art und Aufriss höchst unterschiedlich. Im Falle des Berner Ethikers Eymann, der zur Anthroposophie überging, ist der Beitrag in dieser Form unnötig. In einer genauen, gesellschaftswissenschaftlich verankerten Analyse (mit ideologiekritischen Kenntnissen) wären die Hintergründe seiner Entscheidung für Rudolf Steiner nicht unwichtig; sie müssten vor dem Hintergrund der bürgerlichen Kultur der Zeit und der Wahrnehmung der größeren politischen Zusammenhängen plausibel erläutert werden können. Aber das geschieht nicht.
Da sich eine Sammlung von höchst unterschiedlichen Beiträgen unterschiedlicher Autoren gerade auch in ihren Zielsetzungen un­terscheidet, kann sich der Rezensent die Freiheit nehmen, einige systematische Anliegen hervorzuheben, die manchmal in mehreren Beiträgen zur Sprache kommen:
1. Da ist zum einen die Spannung zwischen einer allgemeinen Ethik (die damals wie heute von den meisten philosophischen Ethikern gesucht wurde oder wird) und einem Partikularismus, der möglicherweise von der christlichen Ethik gepflegt wird. Hat – zum Beispiel – Karl Barth partikularistisch gedacht? Lienemann bestreitet dies zu Recht und vermerkt, dass Barth die freie und responsorische Qualität der Verantwortung an die Stelle allgemeiner Prinzipien gesetzt habe. Sie setzt voraus, dass Glaubensaussagen nicht instrumentalisiert werden und der Machtanspruch von Kirchen oder im Raum der Politik kritisch wahrgenommen und beschränkt wird (vgl. 35–37).
2. Diese Gesichtspunkte werden wohl auch in der Befreiungstheologie berücksichtigt. Sie spielen eine Rolle bei progressiven katholischen Ethikern nicht nur der Schweiz. Und das ist – zumindest für protestantische Leser – eine der wohl interessantesten Seiten dieses Buches: der Kontrast zwischen den Naturrechtsauffassungen von Utz (133 ff.) auf der einen, Böckle und Furger auf der anderen Seite (vgl. 195 ff.235 ff.). Hier wird – allerdings zurückhaltend – die ganze Spannung heutiger katholischer Soziallehre bzw. Sozialethik zur Sprache gebracht. Geht es ihr um die Prinzipien, die nicht dem geschichtlichen Werden unterworfen sind (vgl. 141), oder um die geschichtliche Neubestimmung von universal gültigen Gesichtspunkten (vgl. 20 5 ff.)?
3. Antworten auf diese Fragen müssten auch die protestantischen Ethiker angehen und sich bei der Analyse moderner Gesellschaften bewähren. Ein Schlüssel zum Verständnis moderner Ge­sellschaften fände sich in einer plausiblen Antwort auf die Frage, ob wir uns in der Spätmoderne oder in der sog. Postmoderne befinden oder ob die Letztere nur einen Modetrend darstellt. Feststellungen über die Richtung moderner sozialer Entwicklungen werden höchstens an­gedeutet, aber nicht explizit. In der Ethik Ringelings wird Modernität zum Ausgangspunkt (vgl. 269 ff.), und vor allem die Befreiung der Sexualität wird zum zentralen Anliegen, das allerdings aus heutiger Sicht (man bedenke nur den Widerspruch zwischen Glückserwartungen und -verheißungen auf der einen und massiven Frustrationen auf der anderen Seite) erneut zum Problem werden kann.
Gesellschaftliche Trends spielen vor allem bei Rich (vgl. 149 ff.) und Biéler (vgl. 179 ff.) eine Rolle, weil diese beiden sich auf die Ökonomie konzentrierten. Der Beitrag zu Rich hält fest, dass es ein schiefes Bild ergäbe, wenn der Zürcher Sozialethiker auf Handlungsweisen für Kollektive statt auf die Verantwortung von Personen festgelegt würde, weil dann die Gefahr einer Ideologisierung durch die Konzentration auf Institutionen und Strukturen bestünde (vgl. 160f.). Der Beitrag zu Biéler möchte zeigen, dass dessen ökumenische Erfahrungen ein Vertrauen in die geheime Kraft des Protestantismus, die Dinge zu verwandeln, einschließt (vgl. 188). Offensichtlich wird hier eine Brücke zwischen Ökonomie und Sozialethik gesucht, aber keine strategische Partnerschaft, wie sie Furger als Erbe der Christlichen Gesellschaftslehre Höffners in Münster vorfand (vgl. 240).
Damit sind einige systematische Gesichtspunkte benannt, die zum Leitfaden des systematischen Ertrags der Einzeldarstellungen dienen könnten. Leider wurden die Vorlesungen ohne eine Einführung, die eine Synthese der Topoi zumindest in Ansätzen geleistet hätte, in den Druck gegeben. Das Fehlen eines Gesamtkonzepts muss dazu führen, dass sich die Leser eklektisch verhalten. Dann werden jedoch Schweizer Besonderheiten hinter einem sehr variablen mitteleuropäischen Profil der Ethik zurücktreten. Aber ein gründlicher Leser sollte mit einem gewissen Recht erwarten, dass historisch und gesellschaftlich bedingte Einflüsse deutlicher werden. Sie treten in gewisser Weise in den beiden ersten Beiträgen zu Ragaz (vgl. 9–31: vom theologischen Liberalismus zum religiösen Sozialismus) und zu Barth (vgl. 33–56: unter anderem Kirchenkritik aus dem Geist der sozialistischen Religionskritik) hervor und finden ein gewisses Echo in der ökologischen Wendung Ruhs (281–296). Das sind jedoch Zeichen eines Protests gegen eine saturierte Bürgerlichkeit auch in der Kirche, die heute ebenfalls von einer katholischen Bevölkerungsmehrheit in der einst reformiert dominierten Schweiz getragen wird.