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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1134–1136

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kirchschlager, Bernd

Titel/Untertitel:

Kirche und Friedenspolitik nach dem 11. September 2001. Protestantische Stellungnahmen und Diskurse im diachronen und ökumenischen Vergleich.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2007. 304 S. 8° = Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, 38. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-7675-7094-8.

Rezensent:

Joachim Schmiedl

Noch dauert der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 angekündigte »war on terror« an, da wird er bereits zum Ge­genstand wissenschaftlicher Reflexion. Die im Rahmen des DFG-Projekts »Christliche Friedensethik« entstandene Augsburger Dissertation ordnet protestantische Meinungsäußerungen zu den politischen Fragen um den 11. September in einem theologischen und historischen Zusammenhang an und versuchte, die Wandlungen des Friedensverständnisses der evangelischen Kirchen sowie im Vergleich der katholischen Kirche herauszuarbeiten. Bernd Kirchschlager baut dabei vor allem auf der Arbeit von Michael Haspel auf, der den Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik untersucht hatte. K. geht dabei in neun Schritten vor:
Mit Martin Honecker geht K. von der These aus, dass es ein unpolitisches Christentum nicht gebe. Dafür stehe die Sozialprophetie des Amos ebenso wie die politische Relevanz der Rede Jesu von der Königsherrschaft Gottes und die paulinische Staatslehre (Röm 13). Seit Augustinus die beiden Bereiche der »civitas Dei« und der »civitas terrena« unterschieden habe, wurde die Zwei-Reiche-Lehre diskutiert, die für Martin Luther ein zentrales Interpretationsmuster für das Verhältnis von Kirche und Politik wurde und bis heute in kirchlichen Stellungnahmen, in denen sich das Wächteramt der Kirche manifestiere, herangezogen werde.
In einem zweiten Abschnitt behandelt K. das für protestan­tische Kirchenvertreter nicht leichte Feld der »kirchlichen Äußerungen«. Aus dem Verkündigungs- und Sendungsauftrag der Kirche leite sich ein Öffentlichkeitsauftrag ab, der aber nicht nur von der Kirchenleitung und den Synoden, sondern auch von Kirchentagen, Akademien und kirchlichen Gruppierungen wahrgenommen werde. Dabei müssten die Ziele solcher Stellungnahmen, der richtige Zeitpunkt sowie die Medien kritisch berücksichtigt werden, was sich an der unterschiedlichen Rezeption der EKD-Denkschriften insgesamt zeigen lasse.
»Frieden« bedeutet im alt- und neutestamentlichen Sinn weniger den Gegenbegriff zu Krieg, sondern bezeichnet eine Form von persönlichem und gemeinschaftlichem Heil. Erst die konstantinische Wende ließ die Frage nach Kriegsdienst für Christen und da­mit die Notwendigkeit einer Lehre vom gerechten Krieg aufkommen. Unter Rückgriff auf Thomas von Aquin benennt K. die Kriterien, die für ein »ius ad bellum« erfüllt sein müssen (causa iusta, legitima potestas, recta intentio, ultima ratio, debitus modus und Aussicht auf Erfolg). – Damit ist der Boden vorbereitet, um den Stellungnahmen zu konkreten Kriegen nachgehen zu können. Ein erster Gedankenstrang behandelt die Kriege des 20. Jh.s. Das »bellizistische Erbe« (82) war im Protestantismus lange mehrheitsfähig und verschwand erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die friedens­ethischen Debatten konzentrierten sich zunächst auf die deutsch-deutsche Frage und erreichten einen ersten Höhepunkt in der Diskussion um die atomare Aufrüstung. Die Heidelberger Thesen von 1959 mit ihrer Verwerfung der Lehre vom gerechten Krieg wurden freilich erst 1981 in der EKD-Denkschrift zum Aufruf der Ab­schaffung des Krieges radikalisiert, 1982 vom Reformierten Bund zum status confessionis stilisiert. Eine bewusst pazifistische Position vertraten die Evangelischen Kirchen in der DDR.
Nach der Wende kam es nun zu einer Neuorientierung. Die neuen friedensethischen Prinzipien, die als letzte Möglichkeit die Beteiligung an einem gerechten Krieg vorsahen, mussten ihre erste Bewährung im Kosovo-Krieg von 1999 bestehen, zu dem die Äußerungen zunächst eher positiv, später differenzierter und ablehnender waren. Doch sowohl auf evangelischer wie auch auf katholischer Seite standen sich die Intentionen der Ablehnung von Krieg überhaupt und der Offenhaltung militärischen Einsatzes als »ultima ratio« unentschieden gegenüber.
In den Kapiteln 6 bis 9, die den Hauptteil der Studie ausmachen, wird von K. auf dem Hintergrund der bis dahin herausgearbeiteten friedensethischen Positionen eine Fülle von Stellungnahmen an­geführt, die Reaktionen auf die Anschläge des 11. September 2001 sind und den Krieg in Afghanistan sowie die Krise um den Irak und den Irak-Krieg behandeln. Stellungnahmen protestantischer Kirchenführer, EKD- und Landessynoden sowie von Theologen werden dabei jeweils ergänzt durch die Auflistung entsprechender katholischer Stellungnahmen. Dabei sind die evangelischen Äußerungen bis heute von einem Ost-West-Unterschied geprägt. Die pazifistischen Traditionen der ehemaligen DDR wirken weiter, wenn auch im Westen eine Friedensethik zunehmend an Boden gewinnt. Auch die reformierten Positionen zeichnen sich durch einen Pazifismus aus und wollen als politische Stellungnahmen gelesen werden. Vom Afghanistan- zum Irak-Krieg nehmen die Befürworter militärischer Einsätze deutlich ab. Für die katholischen Äußerungen konstatiert K. eine größere Einheitlichkeit, al­lerdings auch eine geringere Aktualität, weil sie meist auf einem längeren Meinungsbildungsprozess basieren. Der Einsatz militärischer Gewalt wird jedoch von den katholischen Laienvertretern eher zugestanden als von den Bischöfen.
Eine durchgängige Frage der Studie ist die nach der fortgesetzten Gültigkeit und den Kriterien für einen gerechten Krieg. K. bezweifelt, ob die Meinung, diese mittelalterliche Lehre sei heute nicht mehr anwendbar, wirklich haltbar sei. Er beklagt, ohne selbst eine Antwort auf dieses Dilemma zu geben, dass es keinen aktuellen Kriterienkatalog gebe, der die Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt rechtfertige. Seine diesbezügliche Position fasst K. wie folgt zusammen: »Nach wie vor bieten ihre [des gerechten Krieges, J. S.] Kriterien offenbar ein leistungsfähiges Analyseinstrumentarium, auf das nicht verzichtet werden kann. Wer sie verwendet, sollte sie aber korrekterweise auch der Lehre vom gerechten Krieg zuordnen und diese so benennen. Dass dies in ein Konzept vom ge­rechten Frieden eingebettet ist, kann dabei ja auch deutlich ge­macht werden.« (262)
K. hat einen materialgesättigten Durchblick durch die Flut öffentlicher Meinungsäußerungen zu den gegenwärtigen weltpolitischen Themen vorgelegt. Die Tagesaktualität lässt manche Positionen bereits nach kurzer Zeit veraltet erscheinen. Auch ist durch den Druck zu kurzen Stellungnahmen nicht immer die nötige Differenziertheit gegeben. Die von K. gesammelten Aspekte stellen eine Quellensammlung bereit, auf der weitere Studien aufbauen können. Sie dürften vor allem um die aktualisierten Kriterien für einen gerechten Krieg angesichts der globalen Interdependenzen gehen. Sie müssten die Bedingungen neu diskutieren, unter denen Friede als umfassende Gerechtigkeit für alle geschaffen werden kann. Und schließlich müssten sie, was in dieser Studie nur ganz am Rande erwähnt wird, den Bedingungen, Chancen und Gefährdungen für den Frieden in einer Welt nachgehen, in der Religion wieder neu zur Begründung politischen Handelns herangezogen wird. Das Friedenspotential aller Religionen, nicht nur des Chris­tentums, bedarf einer neuen Aktivierung.