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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1131–1134

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hilpert, Konrad, u. Dietmar Mieth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kriterien biomedizinischer Ethik. Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2006. 503 S. 8° = Quaestiones disputatae, 217. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-451-02217-3.

Rezensent:

Peter Dabrock

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Gill, Robin: Health Care and Christian Ethics. Cambridge: Cambridge University Press 2006. XIII, 229 S. gr.8° = New Studies in Christian Ethics, 26. Lw. £ 45,00. ISBN 978-0-521-85723-9.


Es gehört zu den »Errungenschaften« neuerer ethischer Debatten, dass säkulare Philosophen, die sich selbst als religiös unmusikalisch einschätzen, den ethischen Argumentationsmustern aus re­ligiösen Traditionen nicht nur mehr Gewicht für die Gestaltung des öffentlichen Vernunftgebrauchs beimessen wollen, sondern sich bereit erklären, diese Sprachspiele von außen besser lernen zu wollen. Theologische Ethik sollte der Verlockung dieses vielleicht gut gemeinten, nicht aber unbedingt guttuenden Angebotes nicht allzu leichfertig und unkritisch folgen, sondern es sorgfältig prüfen. Denn wenn theologische Ethik das Interesse anderer an ihren Sprachwelten derart missverstehen würde, dass sie ihre eigenen Übersetzungs- und Kopplungsanstrengungen in die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft hinein vernachlässigen würde, könnte sich das bekundete Interesse als Danaergeschenk entpuppen.
Es zeichnet das Werk »Health Care and Christian Ethics« des Anglikaners Robin Gill, der als Vorsitzender der »Archbishop of Canterbury’s Medical Ethics Advisory Group« und als Mitglied des Medizinethik-Komitees des »British Medical Journal« schon seit vielen Jahren als Brückenbauer zwischen Theologie, Medizin­system und pluraler Öffentlichkeit fungiert, aus, dass es sich der bleibenden Notwendigkeit von Übersetzungs- und Kopplungsanstrengung bewusst ist und sich an ihr abarbeitet. In diesem Werk, das nicht einfach einen Sammelband darstellt, sondern früheren Veröffentlichungen durch ihre Einordnung in eine wohldurchdachte, systematische Ordnung neues Gewicht gibt, gibt Gill Einblick in seine konstruktiven und kritischen Transferbemühungen zwischen der breiten religionskulturellen Deutungstradition von »Heil und Heilung« im Christentum und dem Medizinsystem. Alle methodisch sehr unterschiedlichen Beiträge kombinieren breites medizinisches, theologisches und gesellschaftspolitisches Wissen mit methodologischen Reflexionen zu Möglichkeiten und Grenzen der intendierten sozialethischen Kopplungsstrategien.
Der Gang der Untersuchung startet mit einer inspirierenden Deutung der zerklüfteten Morallandschaft der modernen Gesellschaft (16–33). Sie ist nach Gill geprägt durch drei »gaps«, deren Bearbeitung er im Folgenden immer wieder anmahnt: »the gap between theoretical and actual moral communities« (16–22), »the gap between personal resonance and a shared understanding of cosmic order« (22–25) und »the gap between moral demands and human propensity to selfishness« (25–27). Der Versuchung, deren Uneindeutigkeiten eine moralische Eindeutigkeit christlicher Ethik entgegenzustellen, widersteht Gill souverän, indem er die »tensions in public theology« aufdeckt (34–61). Klassische Dicho­tomisierungen zwischen Offenbarungs- und Vermittlungstheo­logien (er nennt deren Vertreter ›purists‹ und ›realists‹; vgl. 41 f.) leis­ten aus Sicht einer der »comprehensiveness« verpflichteten an­glikanischen Theologie keinen hilfreichen Beitrag zur Gestaltung der kritischen Funktion einer public theology mit ihren Aufgaben »crit­icising, deepening and widening« (60). Vielmehr gelte es – auch hier hört man einen pragmatischen Unterton angloamerikanischer Prägung –, aus dem Schatz des religiösen Erbes in Gemeinschaft mit säkularen Kollegen (57) an den aktuellen Problemen lösungsorientiert zu arbeiten. Erst auf der Grundlage dieser breit erörterten methodologischen Erwägungen findet Gill die Legitimationsbasis, sich detailliert materialen Kriterien theologischer Bioethik zuzuwenden. Im Sinne biblischer Theologie entdeckt er in den synoptischen Heilungsgeschichten die Grundsituationen, an denen er das christliche Verständnis im gesellschaftlichen und medizinischen Umgang mit Gesundheit abliest (62–93). Wissend um den »garstigen Graben« interessiert ihn nicht der Wundercha­rakter der Geschichten (64–71), sondern die in ihnen transportierten »healing virtues« (75–81 u. ö.), die sich teils bei Jesus, teils bei den Kranken, teils bei deren Angehörigen, teils in der Gesellschaft finden oder eben nicht. Den Grundimpuls dieser virtues – Gill identifiziert ›compassion‹ (94–123), ›care‹ (124–151), ›faith‹ (152–179) und ›humility‹ (180–209) – sucht er dann an ganz unterschiedlichen ak­tuellen Herausforderungen der biomedizinischen und Gesundheitsversorgungsethik zu bewähren: compassion wird als Schlüssel für Therapieabbruchfragen; care wird unter Rückgriff auf den An­wendungsfall AIDS/HIV als Zugang, den moralischen Graben zwischen moralischen Forderungen und Selbstsucht zu überwinden, vorgestellt (137–151). Im Gespräch mit Onora O’Neils viel beachteten Studien (155–161) wird die Bedeutung von Vertrauen für die Gesundheitsversorgung und besonders für deren Keimzelle, die Arzt-Patientenbeziehung, herausgearbeitet. Unter dem Stichwort ›retinence/humility‹ – dem einzig wenig überzeugenden Beitrag des Buches – versucht Gill, m. E. vergeblich, die Sonderheit christlichen Zugangs zum Thema ›Priorisierung/Rationierung‹ von Ge­sundheitsleistungen zu erweisen (194–209). Hier beachtet er den Vorrang der Sozial- vor der Personalethik nicht hinreichend. Zwar sieht er die Bedeutung einer Gerechtigkeitstheorie im An­schluss an Sens capabilities approach (204), erkennt aber einen entscheidenden Handlungsimpuls für diese Verteilungsfragen in Tugenden wie Bescheidenheit und Zurückhaltung. So richtig dieser Gedanke grundsätzlich sein könnte, verschweigt er aber doch, wie sehr diese Tugenden in unterschiedlichen Schichten unterschiedlich realisiert werden können. Einen Mittelschichtsbias an dieser Stelle kann Gill trotz seines Gespürs für Ungerechtigkeiten (204) mit seiner Fokussierung auf personale Verhaltensstandards statt makroallokativer Entscheidungsinstanzen kaum vermeiden.
Durchgängig sind die soliden Analysen Gills von der Überzeugung geprägt, dass das vor allem an den synoptischen Heilungsgeschichten abgelesene christliche Verständnis keine exzeptionellen Einsichten vermittelt – andere Religionen, vor allem Judentum, aber auch Islam, können ähnliche Zugänge ermöglichen –, aber doch durch die Bindung an Jesus und den apokalyptischen Horizont eine lebensdienliche Spezifität ausweist. Auch sucht Gill keinen um der eigenen Profilierung willen möglichen Abgrenzungsgestus gegenüber säkularen Ethiken. Entsprechend sieht er sein tugendethisches ausgerichtetes, wohlkomponiertes Werk nicht in »conflict«, sondern als »complement« (15) zum klassischen säku­laren Vier-Prinzipien-Ansatz der Bioethik ( respect for autonomy, non-maleficience, beneficience und justice). In dieser sich selbstbegrenzenden Einordnung stellt der Band ein überaus gelungenes Beispiel einer theologischen Bioethik dar, die das noch immer im protestantischen Raum argwöhnisch betrachtete Thema der Tu­genden aufgreift, um darüber an der Gestaltung des öffentlichen Vernunftgebrauchs einer säkularen Gesellschaft konstruktiv und kritisch mitzuwirken.
Das Anliegen, den öffentlichen Diskurs zur Bioethik kritisch und konstruktiv zu beobachten und zu gestalten, verfolgen auch die katholischen Moraltheologen des deutschsprachigen Raums in dem von Konrad Hilpert und Dietmar Mieth herausgegebenen Band »Kriterien biomedizinischer Ethik«. (Der Untertitel »Theologische Beiträge« führt aus evangelischer Sicht in die Irre, weil eben doch nur römisch-katholische Autoren versammelt sind, die diese beschränkte Perspektive aber nicht anzeigen.) Der Klappentext »Wenn Biomedizin nach dem Leben greift« lässt befürchten, Ethik würde hier durchweg als Moralverstärkung katholisch-lehramtlicher Aussagen be­griffen. Doch diese sensationsheischende, wahrscheinlich marktstrategischen Gründen geschuldete Etikettierung wird durch den Facettenreichtum der Beiträge und Positionen zum Glück nicht erfüllt. Die Darstellung der Kriterien, Konzepte, Me­thoden und Anwendungsfelder der Bioethik und Biopolitik erfolgt nämlich auf hohem, differenziertem Niveau.
Neben Beiträgen zu den bio­ethisch relevanten Konzepten wie ›Leben‹ (Fraling, Laubach; vor allem ist der kundige Beitrag von Heike Baranzke hervorzuheben, die für ihre theologische Spurensuche weite Erkundungen in Geschichte und Gegenwart von Philosophie und biblisch-jüdisch-christlicher Tradition durchführt; 87–111), ›Leiden‹ (Mieth), ›Behinderung‹ (Lob-Hüdepohl) und ›Elternschaft angesichts von PID‹ (Haker), ›Biopatentierung‹ (Baumgartner, Mieth) und zur Rolle der Frau in der Praxis der Reproduktionsmedizin (eine Stellungnahme katholischer Moraltheologinnen) wird die Funktion der Bioethik zwischen disziplineigener, das Verhältnis zum Recht bedenkender Methodologie (Römelt, Ernst, Reiter) und biopolitischen Notwendigkeiten wie Instrumentalisierungsversuchungen (Hilpert, Virt, Halter) the­matisiert. Den Cantus firmus fast aller Beiträge, nicht nur derje­nigen, die sich dem Thema explizit stellen (Felderbaum, Küpker, Holderegger, Schockenhoff), seien sie inhaltlich oder methodisch ausgerichtet, bildet dabei aber die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos.
Man wird im Ganzen nicht sehr überrascht sein, wenn man die hier präsentierten Reflexionen zum Nadelöhr katholischer Bioethik durchliest. Neben klassischen Positionen (vor allem Schockenhoffs solider Beitrag, dem eine redaktionelle Anmerkung des Herausgebers Konrad Hilpert beigefügt wurde) finden sich vorsichtige An- und Rückfragen, die entweder in der Form andeutender Hypothesenformulierungen gestellt werden, die auch einladen gegenteilige Positionen zu bedenken, wenn man die skizzierten aristotelischen Prämissen nicht mehr teilt (so Honnefelder am Ende seines Beitrages), oder die zum Zwecke der Verflüssigung fester lehramtlicher Positionen auf historische Uneindeutigkeiten bei der Le­bensanfangsbestimmung hinweisen (Laubach) oder die auf biopolitische und lebensweltliche Konflikte aufmerksam machen, die immer bei der konkreten bioethischen Urteilsbildung mitberück­sichtigt werden müssen (Halter, Hilbert). Zwar bleiben auch diese Beiträge vorsichtig und an­deutend, wenn sie die offizielle lehramtliche Position anzweifeln, aber ein Geist des »es könnte ebensogut anders sein« (Robert Musil) umweht solche Gedanken.
Vergleicht man den in der Einleitung vorgetragenen Anspruch, die Fortschritte der Biomedizin seit Erscheinen des zum Klassiker avancierten »Lexikons der Bioethik« 1998 moraltheologisch reflexiv zu verarbeiten (vgl. 11), dann stellt man – je nach Perspektive beruhigt oder ernüchtert – fest, dass die Grundkonstanten katholischer Moraltheologie sich trotz neuer Herausforderungen nicht oder nur bei sehr wenigen wenig verschoben haben. Insofern bietet der Band gegenüber 1998 kaum Neues. Aber das neu zu sagen, muss ja nicht das Schlechteste sein.